Regionalgeschichtliche Arbeit in der Gedenkstätte Breitenau
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Ort/Bundesland: Hessen |
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Gunnar Richter Brückenstraße 12 D-34302 Guxhagen Tel.: +49 (0) 56 65 35 33 Fax: +49 (0) 56 65 17 27 Mail: gedenkstätte-breitenau [at] t-online [dot] de |
Einleitung
In der pädagogischen Arbeit der Gedenkstätte Breitenau kommt dem regionalgeschichtlichen Aspekt eine ganz besondere Bedeutung zu. Dieser Schwerpunkt hängt zusammen mit der Entstehungsgeschichte der Gedenkstätte, der Funktion von Breitenau in der NS-Zeit, der außergewöhnlichen Quellenlage des ehemaligen Lagers sowie unseren Erfahrungen in der pädagogischen Arbeit der letzten zehn Jahre.
Regionale Funktion Breitenaus in der NS-Zeit
Im Gegensatz zu den verschiedenen zentralen Konzentrationslagern, wie z.B. Buchenwald, Ravensbrück oder Dachau, in die deutsche und ausländische Gefangene aus vielen Ländern, Städten und Regionen eingewiesen wurden, war Breitenau ein NS-Lager für eine bestimmte Region - für Gefangene aus dem Regierungsbezirk Kassel und zum Teil aus Thüringen. Vom Sommer 1933 bis zum März 1934 befand sich dort zunächst ein frühes Konzentrationslager für überwiegend politische Gefangene und während des Zweiten Weltkrieges ein Straflager der Gestapo Kassel, ein sogenanntes Arbeitserziehungslager.
Dieses Straflager wurde außerdem für weibliche Gefangene von der Gestapo Weimar "genutzt", deren Zuständigkeitsbereich ganz Thüringen umfasste. Insgesamt wurden von diesen beiden Gestapostellen in die beiden Lager etwa 9.000 Gefangene eingewiesen, unter denen sich etwa 6.500 ausländische und 2.500 deutsche befanden. Unter den deutschen Gefangenen wiederum befanden sich auch etwa 200 jüdische Männer und Frauen. Außerdem waren in der Reichspogromnacht 24 jüdische Männer in Breitenau inhaftiert.
Durch die erhaltenen Akten lassen sich zahlreiche Informationen über das Schicksal einzelner Gefangener ermitteln. Anhand der Unterlagen lassen sich aber auch die letzten Wohnorte von mehr als 4.000 Gefangenen feststellen, wodurch sich regionalgeschichtliche Bezüge zwischen dem Lager Breitenau und mehr als 1.000 Städten und Orten ergeben, die überwiegend im Regierungsbezirk Kassel liegen. Bei den deutschen Gefangenen handelte es sich meist um ihre langjährigen Wohnorte, bei den ausländischen Gefangenen waren es die Orte, in denen sie bei Firmen, Betrieben oder Bauern Zwangsarbeit verrichten mussten. Während die deutschen Gefangenen vor allem wegen sogenannter "Verstöße" gegen die Volksgemeinschaft verhaftet worden waren, hatten die ausländischen Gefangenen vor allem gegen Bestimmungen des Einsatzes von Zwangsarbeitern verstoßen.
Regionalgeschichtlicher Ansatz in der pädagogischen Arbeit
In unserer Gedenkstättenarbeit hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass neben der Dauerausstellung der Gedenkstätte Breitenau vor allem drei Bereiche bei den Besuchern einen sehr nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Es sind dies:
- die Besichtigung der ehemaligen Klosterkirche, die im Ostteil als Gotteshaus und im Mittelschiff und Westwerk als Haftstätte diente, in denen u.a. noch Strafzellen erhalten sind
- das Erfahren von Einzelschicksalen Gefangener, u.a. auf der Grundlage der Beschäftigung mit Kopien der erhaltenen Aktenbestände
- die regionalen Bezüge zu den Heimatorten der Besucher/Schüler
Aus diesen Erfahrungen heraus haben wir dem regionalgeschichtlichen Ansatz in unserer pädagogischen Arbeit einen besonderen Stellenwert eingeräumt. Schulklassen und andere Besuchergruppen erfahren bei einem Besuch der Gedenkstätte nicht nur etwas über die Geschichte Breitenaus als NS-Lager und Ort der Ausgrenzung, sondern auch über historische Bezüge zu ihrer Heimatregion. Als Informationsgrundlage dienen dabei die erhaltenen Gefangenen- und Verwaltungsakten, zusätzliche, in den letzten Jahren erschlossene Dokumente und Materialien, Nachschlagewerke und zahlreiche regionalgeschichtliche Veröffentlichungen.
Bezug zur Region der Besucher
In der Regel beziehen wir regionalgeschichtliche Informationen bereits bei der Einführung von Besuchergruppen ein. Anhand von Arbeitsmaterialien, auf denen Dokumente und Fotos abgebildet sind, geben wir einen Überblick über die Entwicklung Breitenaus mit dem Schwerpunkt NS-Zeit. Bei der Darstellung des frühen Konzentrationslagers, der jüdischen Gefangenen im November 1938 und des "Arbeitserziehungslagers" stellen wir jeweils einen Bezug zur Region der Besucher her, z.B. zu
- den Gefangenen, die aus der Region der Besucher nach Breitenau in das frühe KZ oder in das Gestapo-Lager kamen
- Zwangsarbeiterlagern, KZ-Außenlagern oder anderen Haft- und Verfolgungsstätten, die es am Wohnort der Besucher oder dessen unmittelbarer Umgebung gab
- ehemaligen jüdischen Gemeinden, die in ihrer Region existierten und die in der Nazi-Zeit ausgelöscht wurden.
Mit der Einbeziehung dieser regionalen Entwicklungen haben wir sehr positive Erfahrungen gemacht.
Spurensicherungsprojekte
Mit der Gedenkstättenarbeit möchten wir nicht nur Wissen über das damalige Geschehen vermitteln und an die Opfer erinnern, sondern eigenständige Auseinandersetzung initiieren. Der regionalgeschichtliche Ansatz kann in Projekten zur "Spurensicherung" vertieft werden. Durch eigenständiges Forschen und in Gesprächen mit Zeitzeugen wird nicht nur ein Stück der Vergangenheit sichtbar, sondern es werden auch Aspekte des Umgangs mit ihr und ihren Auswirkungen auf die Gegenwart erfahrbar. Um diese Form der Auseinandersetzung zu fördern, bieten wir unsere Unterstützung bei "Spurensicherungsprojekten" an. In den letzten Jahren wurden mehrere solcher Projekte von Schülern, Jugendlichen aber auch Erwachsenen durchgeführt:
So erforschten Schüler der Konrad-Adenauer-Schule in Fulda das Schicksal des katholischen Pfarrers Konrad Trageser aus Marbach bei Fulda, der wegen Wehrkraftzersetzung in Breitenau inhaftiert und dann nach Dachau deportiert worden war, wo er im Januar 1942 umkam. Nachdem die Schüler die Gedenkstätte besucht und die Gefangenenakte des Pfarrers eingesehen hatten, befragten sie Zeitzeugen, schrieben weitere Archive an und erstellten schließlich eine umfangreiche Ausstellung, die von der dortigen Kirchengemeinde ausgezeichnet wurde.
Schüler der König-Heinrich-Schule in Fritzlar erforschten im Rahmen des von der Körber-Stiftung ausgeschriebenen Schülerwettbewerbs Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten das Schicksal des ehemaligen polnischen Zwangsarbeiters Johann Nowak und der deutschen Magd Marie Mäding, die in Breitenau inhaftiert waren, weil sie ein gemeinsames Kind hatten. Für diesen Verstoß gegen die rassistischen Nazi-Verordnungen wurden Marie Mäding in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert und Johann Nowak öffentlich erhängt. Auch diese Schüler befragten Zeitzeugen, suchten die Orte des Geschehens auf und schrieben verschiedene Archive an. Ihre Arbeit wurde schließlich sogar im Rahmen des Schülerwettbewerbes der Körber Stiftung prämiert.
Eine Klasse der Gesamtschule Guxhagen beschäftigte sich mit dem Schicksal der ehemaligen jüdischen Familien Guxhagens. Dabei stützten sie sich auf Unterlagen der Gedenkstätte und des Gemeindearchivs, sprachen mit älteren Ortsbewohnern und fotografierten die Spuren ehemaligen jüdischen Lebens in Guxhagen: den jüdischen Friedhof, die ehemalige Synagoge, in der sich heute Mietwohnungen befinden, und die damaligen Wohnhäuser der jüdischen Familien. Das Ergebnis war eine kleine Ausstellung, die zunächst in der Schule und dann in der Gedenkstätte gezeigt wurde.
Nicht nur Schüler und Jugendliche, auch ältere Menschen haben sich für "Spurensicherungsprojekte" Unterstützung in der Gedenkstätte geholt. 1992 erarbeitete eine Gruppe von Rentnern am Stadtteilzentrum Agathof in Kassel-Bettenhausen eine eindrucksvolle Ton-Dia-Reihe über die Entwicklung dieses Stadtteils in der NS-Zeit. Vor allem für das Kapitel, das sich mit den zahlreichen Zwangsarbeiterlagern befasst, die während des Krieges in diesem Kasseler Industriestadtteil existierten, konnten wir der Gruppe Informationen und eine Reihe von Photos zur Verfügung stellen, die wir in den letzten Jahren von ehemaligen niederländischen Zwangsarbeitern erhalten hatten. Die Ton-Dia-Reihe wurde von einem Medienfachmann künstlerisch bearbeitet und ist nun als Videokassette erhältlich. Bei den genannten Beispielen handelt es sich eher um außergewöhnliche Projekte. In der Regel wenden sich Schüler an die Gedenkstätte, weil sie z.B. Referate über die NS-Zeit in ihrer Stadt oder Gemeinde vorbereiten. Auch hier versuchen wir, mit unseren Materialien, Erfahrungen und Kontakten behilflich zu sein.
Vorbereitungen zu KZ-Gedenkstättenfahrten
Ein weiterer Bereich, in dem der regionale Aspekt Breitenaus in besonderer Weise zum Tragen kommt, sind Vorbereitungen zu Fahrten in andere KZ-Gedenkstätten. Von Breitenau aus sind etwa 1.800 Gefangene in verschiedene Konzentrationslager deportiert worden, z.B. nach Buchenwald, Ravensbrück, Sachsenhausen, Dachau, Flossenbürg, Neuengamme, Mauthausen und Auschwitz. Von 570 Deportierten existieren in der Gedenkstätte Gefangenenakten, die die Möglichkeit eröffnen, sich mit Einzelschicksalen zu befassen und einen regionalen Bezug herzustellen. In den letzten Jahren haben immer mehr Schulklassen und Jugendgruppen den Besuch der Gedenkstätten Buchenwald oder Auschwitz durch das Studium der Akten in Breitenau vorbereitet. Sie verfolgten z.B. den Leidensweg des 15-jährigen russischen Zwangsarbeiters Alexsej Ch., der in Bebra verhaftet wurde, weil er als blinder Passagier in einem Güterzug von seiner Arbeitsstelle floh und 1942 über Breitenau nach Buchenwald deportiert wurde, wo sich seine Spuren verlieren. Oder das Schicksal von Sofie Schnitzler, einer Kasseler Jüdin, die verhaftet und in das Lager Breitenau eingewiesen wurde, "weil sie sich als Jüdin einem Polizeibeamten gegenüber fortgesetzt frech und herausfordernd benahm ...". Am 23. November 1942 wurde sie von Breitenau nach Auschwitz deportiert. Kaum vier Wochen später war sie bereits tot - ihr Todesdatum ist in dem Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz mit dem 26. Dezember des gleichen Jahres angegeben.
Auswertung
Wenn die Schüler sich zunächst mit den Einzelschicksalen befassen und im Anschluss die Gedenkstätten aufsuchen, können sie Bezüge herstellen, die sich ihnen sonst wahrscheinlich nicht erschlossen hätten. Zum einen haben sie Einzelschicksale von Verfolgten vor Augen, die diese aus der Anonymität der erschreckend hohen Zahl der Ermordeten herausheben. Es handelt sich zudem um Verfolgte, die aus ihrer unmittelbaren Heimatregion kamen, die vielleicht Nachbarn gewesen wären, und sie, die Schüler oder Jugendlichen, bewegen sich nun auf ihren Spuren. Durch die regionalen Bezüge kann deutlich werden, dass Auschwitz und die anderen Lager am Ende eines Verfolgungsweges standen, der bei jedem einzelnen zu Hause - quasi vor jeder Haustüre - begann. Durch die Einbeziehung der regionalen Unterlagen wird deutlich, dass ein groß angelegter Verfolgungsapparat existierte, in den neben der Gestapo zahlreiche, scheinbar zivile Behörden wie Bürgermeisterämter, Finanzämter, Landratsämter, aber auch privatwirtschaftliche Betriebe einbezogen waren. Hierdurch wird der Blick auf Mittäter gelenkt, die nicht dem Bild des "brutalen SS-Mörders" entsprechen, sondern die eher zu den "ganz gewöhnlichen Nazi-Bürgern" zählten - und dennoch Rädchen im Getriebe des Verfolgungs- und Mordapparats darstellten.
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- 13 Mai 2010 - 10:28