Gendertheorien in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht
Von Michele Barricelli
Am 21. Januar 2009, dem Tag nach der Amtseinführung des 44. Präsidenten der USA, Barack Obama, titelte die International Herald Tribune (New York), die neue first family bringe „a world of diversity“ ins Weiße Haus. In Bezug auf die in parteiinternen Vorwahlen unterlegene Kandidatin Hillary Clinton hätte die Zeitung Ähnliches berichten können, denn diversity (ursprünglich übrigens ein Begriff aus der Ökologie) beschreibt den strategischen Zugriff auf menschliche Vielfalt und Unterschiedlichkeit entlang der „Achsen“ (v.a.) von race, class und gender.
Diese zunächst funktionslosen kulturellen Differenzsetzungen wandeln sich allerdings durch Zuschreibungen sozialstruktureller Art, die Einzelne oder bestimmte Gruppen auf Grundlage ihrer Deutungsmacht und Dominanzansprüche vornehmen können, schnell zu Dimensionen der Ungleichheit bzw. Diskriminierung. Geregelt wird auf diese Weise nämlich der Zugang zu den Glücksgütern des Lebens, die Möglichkeit politischer Partizipation, die Gewährung ökonomischer Chancen.
Poststrukturalistische und feministische Theorien sowie postcolonial studies haben die Bedeutsamkeit der (analytischen) Kategorien von Diversität auch für die historische Forschung hervorgehoben. Unter ihnen spielt seit jeher gender als Begriff für das kulturell konstruierte und sozial zugewiesene Geschlecht eine herausragende Rolle, anfänglich noch in einer dual-exklusiven Logik, heute eher in Anerkennung eines stufenlosen Kontinuums zwischen „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“, dessen Extreme sich im Raum des transgender berühren.
Die Essenz einer gender-sensiblen Geschichtswissenschaft besteht nun in der Feststellung, dass sich „weibliche“ und „männliche“ Geschichtsschreibung sowohl inhaltlich als auch konzeptionell unterscheiden. In dem schönen – wenn auch wortgeschichtlich natürlich nicht triftigen – Bonmot von der Her-Story, die der His-Story an die Seite zu stellen sei, soll „Her“ indessen nicht nur auf das Mehr oder Neue an historischen Gegenständen und Artikulationsformen verweisen, sondern „His“ als spezifische anstatt allgemein-menschliche Weltsicht entlarvt werden. Die Dekonstruktion gender-bezogener „Geschichtsbilder“, ihre Rückführung auf ungleichheitsbegründende Deutungsinteressen und Darstellungsabsichten, gehört zu den vornehmsten Aufgaben einer selbstreflexiven historischen Wissenschaft.
Genauso kann im Praxisfeld Schule kein Zweifel darüber bestehen, dass Mädchen und Jungen unterschiedliche Erkenntnisinteressen, Normen und Konzepte im Hinblick auf die dort vergegenwärtigte Vergangenheit entwickeln (Bodo von Bories), dass sie Geschichte unterschiedlich verstehen und erzählen (Michele Barricelli) und dass mithin historische Sinnbildung sowie Identitätsklärung geschlechtsspezifisch konnotiert sind.
Zu plädieren ist daher für die „doppelte Optik“ (Brigitte Dehne) des Geschichtslernens, die Lernobjekte und –subjekte nicht als geschlechtsneutral betrachtet, sondern ihre Profilierung und Würdigung als Männer und Frauen ermöglicht. Dem steht einstweilen eine kontraproduktive Routine (gerade auch in den „großen“ Narrativen der Geschichtsschulbücher) gegenüber, die immer noch der Vision der einen, für alle gleich erlernbaren und lernwürdigen Geschichte huldigt, welche doch oft nicht mehr ist als die einseitige Interpretation der Überlieferung aus einer männlichen (daneben weißen, westlichen, protestantischen oder säkularen, mittelständischen) Sicht.
Die Geschichtsdidaktik als Wissenschaft des historischen Denkens und Lernens bleibt somit aufgefordert, Produzenten wie Abnehmer von Geschichte immer wieder neu darüber zu informieren, dass der Genus-Aspekt des menschlichen Daseins keineswegs als nicht-kontingentes Gerüst des historischen Erzählens dienen kann, sondern vielmehr eine Konstruktion ist, die Konventionen folgt und historischem Wandel unterliegt (Bea Lundt). Um überhaupt irgend etwas Vernünftiges zur Orientierung Jugendlicher in einer globalisierten, individualisierten, digitalisierten Welt des 21. Jahrhunderts beitragen zu können, müssen Geschichtsunterricht und außerschulische Jugendbildung daher die ganze Vielfalt und Nicht-Einheit der Geschichte (Karin Hausen) abbilden.
Im Raum von diversity bzw. gender erfordert die problembewusste Gegenstandskonstitution vor allem anderen ein kunstvolles Perspektivenmanagement, d.h. eine unablässige Vermehrung der Sichtweisen bei deren gleichzeitiger methodischer Kontrolle: Wie stellte sich, so könnte man beispielsweise im Unterricht fragen, die Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland vor 90 Jahren aus globaler, nationaler, regionaler Sicht (im Freistaat Bayern durften Frauen schon kurz zuvor ihre Stimme abgeben) dar, in der Wahrnehmung eines Industriearbeiters, einer adligen Dame, deren Familie soeben ihren Thronanspruch verloren hatte?
Warum ist der Mythos der „deutschen Mutter“, eine ideologische Blüte der NS-Zeit, hierzulande so unglaublich zählebig, während französische Frauen über den mit ihm verbundenen Verzicht auf Selbstverwirklichung nur den Kopf schütteln können?
Warum ist männliche Homosexualität von so ziemlich allen diktatorischen und autoritären Regimen des 20. Jahrhunderts als besonders verwerfliches Delikt verfolgt worden, während die homoerotischen Züge an den Führungsspitzen häufig unübersehbar waren? Warum eigentlich war es niemals in der Geschichte möglich, sich als „Mann“ zu bezeichnen, ohne zugleich Fragen von Hierarchien und Hegemonien zu berühren?
Und inwiefern wurde ab dem 18. Jahrhundert von durchweg männlichen Wissenschaftlern auch die Natur hierarchisiert sowie genderisiert und das heißt: kulturalisiert (!), etwa indem sich trotz alternativer Vorschläge die Bezeichnung „Säugetiere“ (zuvor bei Linné: Mammalia, i.e. Brust- oder Zitzentiere) durchsetzte, die ja vornehmlich die Menschenfrauen in die Pflicht nahm: Kann denn eine Mutter, die nicht stillt (sondern dies einer Amme überlässt oder auf die Flasche zurückgreift), noch ein „Säugetier“, d.h. ein ganzer, guter Mensch sein?
Man bemerkt schnell, dass so mancher relevante Diskurs der historischen Forschung ganz am Anfang steht: Wo finden wir etwa Vorläufer jener androgyn-polymorphen Metrosexualität, die einigen heute als Ausweg einer binär vergeschlechtlichen Gesellschaft erscheint (sollte es nicht aufhören, dass Schüler in dem Porträt Ludwigs XIV. von Hyacinthe Rigaud aufgrund von Perücke, Strumpfhosen und Schuhen mit roten Absätzen zu allererst eine „Schwuchtel“ entdecken wollen?), und was wissen wir über die historischen Ursprünge der Heteronormativität, also darüber, wann die fortpflanzungstechnisch notwendige Heterosexualität in den Rang einer höchsten kulturellen Norm erhoben, wann also das Idealbild einer Zusammengehörigkeit der zwei Geschlechter – genauer: eines Mannes und einer Frau – erfunden wurde (wahrscheinlich erst im 12. Jahrhundert)?
Das letzte Beispiel macht nochmals deutlich, dass jede Form von Einheitsperspektive, solange sie nicht als Konstruktion radikal in Frage gestellt und faktisch überwunden wird, den Blick auf frische historische Erkenntnis, die nicht schon durch ihre Voraussetzungen determiniert wird, versperrt und somit die Hoffnung auf historische Orientierung zunichte macht. Hier werden wir noch diverse Diskussionen führen müssen.
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- 6 Okt 2010 - 10:52