Gewalt und Berührungen
Von Doğan Akhanlı
Ich möchte versuchen, meine Wahrnehmung der Erinnerungskultur und die Nachwirkungen von Gewalterfahrungen aus meinem Herkunftsland zu verdeutlichen. Der Beitrag ist darüber hinaus eine persönliche Geschichte von Fremdheit und Nähe, Schuld und Verarbeitung, Privatem und Politischem, Erinnertem und Verschüttetem, Scheitern und Lernprozessen, eigenen und fremden Verletzungen und menschlichen Begegnungen.
Seit 2002 mache ich türkisch- und deutschsprachige Führungen im ehemaligen Gestapohausgefängnis "EL-DE Haus" in Köln, das heute als Gedenkstätte, Museum und Bildungsort dient. Darüber hinaus habe ich in mehreren interkulturellen Projekten mit Bezug zur Erinnerung und Geschichte mitgewirkt und einige auch selbst geleitet. Die Aufgaben, die ich mir hier selber erteilt habe, liegen in meiner Biografie, meinem Herkunftsland sowie meinem Fluchtland Deutschland mit seiner Geschichte und seinen Erinnerungen begründet.
Ich kam 1992 als Flüchtling nach Köln - mit staatlicher Gewalterfahrung. Ich wurde 1985 mit meiner Frau und mit meinem Sohn, der damals 16 Monate alt war, einen Monat lang in der Türkei verhört. Danach verbrachte ich einen Teil meines Lebens in einem Militärgefängnis in Istanbul.
Ich begann in Köln, mich mit meiner persönlichen Geschichte auseinander zu setzen. Mir ist schnell bewusst geworden, dass ich nicht das einzige Opfer des Staatsterrors war. In der Vergangenheit des Landes, in dem ich geboren wurde, gibt es viele Opfer und viele Verbrechen. Das größte, welches im Jahr 1915/16 geschah und das man 30 Jahre später Genozid an den Armeniern nennen sollte, wird bis heute von der türkischen Seite beharrlich verleugnet.
Im Laufe der Zeit habe ich wahrgenommen, wie unterschiedlich die Türkei und Deutschland mit ihrer Geschichte umgehen. Abgesehen von gesellschaftlicher Anerkennung des Holocausts in Deutschland und Leugnung des Genozids an den Armenien in der Türkei, redet man hier über die Opfer und Überlebende des Völkermordes respektvoller. Die Gesellschaft hier ist sensibler gegenüber Minderheiten und Einwanderern.
Im Jahr 1996 ist meine Frau mit einer Gruppe nach Auschwitz-Birkenau gefahren. Obwohl ich sehr neugierig war, nahm ich an der Studienreise nicht teil. Ich beschäftigte mich ausschließlich mit türkischen Verbrechen in der Geschichte und in der Gegenwart. Als meine Frau zurückkehrte, wirkte sie betrübt. Tagelang erzählte sie mir weinend von ihren Erlebnissen. Einmal sagte sie sinngemäß, es sei ihr peinlich, ihre "Erlebnisse" damals im türkischen Polizeipräsidium für wichtig gehalten zu haben. Obwohl ich Zeuge ihrer Folterung war, wie sie und mein Sohn so schwer verletzt worden sind, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden mussten. Obwohl ich wusste, dass der individuelle Schmerz nicht vergleichbar ist, empfand ich ihren Ausdruck erschütternd.
Dann begann meine Odyssee in die deutsche Geschichte und Erinnerungslandschaft: Gedenkstätte Sachsenhausen, wo auf besonderem Wunsch von zwei höheren Beauftragten der türkischen Sicherheitskräfte im Januar/Februar 1943 eine Besichtigung auf das Besuchsprogramm gesetzt wurde(1). Gedenkstätte Ravensbrück, wo unter anderem zwölf türkische Jüdinnen mit drei Kinder unter acht Jahren aus Berlin am 26.Oktober 1943 eingeliefert wurden (2). Gedenkstätte Haus der Wannsee Konferenz, wo fünfzehn Spitzenbeamte der Ministerialbürokratie und der SSi über die organisatorische Durchführung der "Endlösung" gesprochen haben. Gedenkstätten Majdanek, Sobibor, und nicht zuletzt Auschwitz, aus dem ich als retraumatisierter Mensch zurückkehrte. Mir half nicht, dass ich kein Deutscher war, dass ich nicht einmal geboren war, als die Nazis ein Teil der Menschheit ausgelöscht hatten. Dort, in Auschwitz-Birkenau war ich nicht mehr Türke, Linker, Flüchtling oder Folteropfer.
Im Rahmen der Führungen, Studienreisen und Spurensucheprojekten habe ich entdeckt, dass während der Shoah über 3000 türkische Bürger in Europa ums Leben kamen (3). Ein bekannter Überlebender ist Isaak Behar. Seine Familie war 1915 aus Istanbul nach Berlin gekommen, weil "sie sich vor den Feindseligkeiten fürchtete, denen im Osmanischen Reich lebende Minderheiten - Griechen, Armenier und Juden - zunehmend ausgesetzt waren" (4). Der spätere Bürgermeister von Westberlin, Ernst Reuter, verbrachte sein Exil in der Türkei. Als er für das Bürgermeisteramt kandidierte, titelte die Ostberliner Tageszeitung Vorwärts am 19.11.1946: "Wird ein Türke Berlins Bürgermeister?" (5)
Am 4. Januar 1933 führten Adolf Hitler und Franz von Papen Gespräche über eine gemeinsame Regierungsbildung in einer Kölner Villa (Stadtwaldgürtel 35). Franz von Papen war im Ersten Weltkrieg von 1915 bis 1918 als Stabschef der 4. Türkischen Armee in Palästina und ab April 1939 Botschafter in Ankara. Es ist historisch nicht belegt, welche Rolle er spielte, als die Jungtürken die Armenier vernichteten. Es ist aber bewiesen, dass die türkischen Streitkräfte im Ersten Weltkrieg weitgehend unter deutschem Oberbefehl standen. Zum Beispiel unter General Otto Liman von Sanders, der bei dem "Prozess Talaat Pascha" als Sachverständiger auftrat (6), oder unter Fritz Bronsart von Schellendorf, der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs seine Einschätzung eines Vorgangs übermittelte, den er selbst erlebt hatte: "Der Armenier ist wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit des anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt. Daher kommt auch der Hass, der sich in mittelalterlicher Weise gegen sie als unerwünschtes Volk entladen hatte und zu ihrer Ermordung führte." (7)
Trotz seiner Vergangenheit hat sich Deutschland durch die Aufarbeitung seiner Geschichte so geändert, wie es sich Walter Benjamin einmal vorgestellt hatte. Deshalb wurde Deutschland, global, eines des sichersten Länder für Einwanderer und Minderheiten im Vergleich zu anderen europäischen Staaten. Zum Beispiel Ungarn, ein Land, in dem im Jahr 1943, 800.000 Juden lebten und 600.000 davon im Jahr 1944 in Auschwitz ermordet wurden und nun in der Gegenwart die "Rechtsradikalen 'Zigeuner, Juden und Fremdherzige' überfallen und kaum jemand sich ihnen entgegen stellt." (8) In Italien wurden Romai-Minderheiten mehrmals gejagt. Ähnliche entsetzliche Fälle geschehen alltäglich in Rumänien. In Spanien wurden Flüchtlinge ebenfalls angegriffen, ebenso wie Misshandlungen der selber Gruppen durch griechische Behörden bekannt wurden. Aus der Türkei kommen ständig unangenehme Gewaltnachrichten, nicht nur über die Nichtmuslimische Minderheiten, sondern auch über die Kurden.
Deshalb empört es mich zu lesen, dass der Vorsitzender des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg (TBB), die Massaker an den Armeniern aus dem Lehrplan haben möchte, weil dies die türkischstämmigen Schüler unter einen "psychologischen Druck" setze, der sie in ihren schulischen Leistungen beeinflusse, und es "gefährde den inneren Frieden" (9). Also sollen wir durch Gesichtsfälschungen "unsere" türkischstämmigen Schüler schützen.
Bleibt nur die Frage übrig: Was machen wir mit "unseren" deutsch-, kurdisch-, armenisch-, arabisch-, russisch-, persisch-, serbisch-, italienisch-, griechisch- oder bosnischstämmigen Schülern?
Es gibt mehrere Ängste, von denen nicht nur der TBB betroffen ist, sondern auch "Erinnerungsarbeiterinnen und -arbeiter", Geschichtslehrerinnen, Pädagogen, Sozialarbeiter. Es ist die Angst vor der "Relativierung des Holocausts", die Angst vor der Ethnisierung, die Angst davor, aus der "deutschen" Schuld entlassen zu werden, die Angst davor, sich mit anderen Geschichten und Erinnerungen, die Einwanderer mitgebracht und tradiert haben, auseinanderzusetzen und die Angst davor "deutsche Verantwortung" gegenüber der Geschichte zu übernehmen, die eigentlich menschliche Verantwortung sein sollte.
Erst der Abstand zu den Tätern und die Solidarisierung mit den Opfern und den Überlebenden ermöglicht, die Geschichte auch als Beziehungsgeschichte zu vermitteln und aufzuarbeiten. Bei den türkisch- und deutschsprachigen Führungen sowie den historisch-interkulturellen Studienreisen nach Berlin, die seit 2004 regelmäßig stattfinden, wird dies immer wieder erprobt. In der Veranstaltungsreihe der Raffael-Lemkin-Bibliothek in Köln - dem Verfasser der UN-Völkermordkonvention - die sich mit Gewalterfahrungen in zahlreichen anderen Ländern befasst, hat sich auch mit dem gemischtethnischen Publikum eine nachhaltige Auseinandersetzung über Migration, Gewalt und Versöhnung ergeben (10).
Es geht bis heute nicht nur darum, wie die NS-Vergangenheit in der BRD aufgearbeitet wird, sondern auch, wie Einwanderer von der NS-Geschichte und ihrer Aufarbeitung berührt werden. Es hat sich in den zurückliegenden sieben Jahren gezeigt, dass ein wechselseitiger Lernprozess über die Gewaltgeschichte in verschiedenen Ländern (z.B. Deutschland, Türkei) in Gang gekommen ist, der zwischen den erlittenen (oder verübten) Genoziden vergleicht, ohne zu relativieren. Solche "Erinnerungsarbeit" - im Türkischen und in manch anderen Sprachen existiert dafür kein Wort - eröffnet auch einen neuen Zugang zu den aktuellen Gewaltproblemen, zu den Antisemitismusi, zu der Frage, warum Mitglieder ethnischer Minderheiten, obwohl Opfer von Rechtsextremismus, dennoch selbst zu Tätern gegen andere Minderheiten werden.
Quellen:
(1) Vgl. Guttstadt, Corry: Die Türkei, die Juden und der Holocaust. (2008) Assoziation A Berlin, Hamburg, S. 317f.
(2) Vgl. ebenda S. 172.
(3) Vgl. ebenda.
(4) Behar 2002, S. 21.
(5) Vgl. Verein Aktives Museum 2000, S. 197.
(6) Am 15. März 1921 erschoss der armenische Student Soromon Tehlerjan den im Berliner Exil lebenden ehemaligen türkischen Innenminister Talaat Pascha, der einer der Hauptverantwortlichen für den Genozid an den Armeniern war. Aufgrund der Darlegung der Geschehnisse in Armenien wurde der Attentäter von einem Geschworenengericht in Berlin am zweiten Prozesstag, dem 3. Juni 1921, freigesprochen. Vgl. Hofmann 1980.
(7) Zit. nach Gust, Der Völkermord an den Armeniern. 1993, S. 267.
(8) Die Zeit, 5.07.2009.
(9) FAZ, 7.08.2009.
(10) Vgl. www.mkll.de.
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- 10 Feb 2014 - 16:05