„Danke Pascal, für das was sie geleistet haben. Sie sollten jedoch wissen, dass die Figuren, die sie erdacht haben, unmöglich die Wirklichkeit vermitteln können, die wir durchlebt haben. Zuviel Entsetzliches trennt uns von anderen Menschen.“ Dies schreibt Renée Eskenazi, ein Auschwitzüberlebender, den Pascal Croci für seinen Comic mehrmals interviewte, in einem Brief an den Zeichner. Ist Crocis Ansinnen, einen die Geschichte(n) von Auschwitz real abbildenden Comic zu zeichnen, damit gescheitert? Diese Frage lässt sich nur unter Einbeziehung der Zielstellung des Autors beantworten.
Croci beginnt seine Geschichte im ehemaligen Jugoslawien des Jahres 1993. Das jüdische Ehepaar Kazik und Cessia soll wegen Verrats hingerichtet werden. Im Angesicht ihrer bevorstehenden Hinrichtung erinnern sie sich an Auschwitz vor 50 Jahren, als sie schon einmal von Ermordung bedroht waren. Gemeinsam mit ihrer Tochter waren sie 1943 nach Auschwitz deportiert worden. Über deren Tod haben die beiden bis zu diesem Zeitpunkt nicht gesprochen. Croci zeichnet anhand von Kaziks Erinnerungen das Geschehen im Lager nach. Die Ankunft, Selektionen, Vergasung der nicht für die Arbeit Selektierten, die Arbeit im Sonderkommando und schließlich die Flucht der Deutschen vor der anrückenden Roten Armee. Kazik und Cessia, über deren Leben nach 1945 das Buch nichts erzählt, werden durch nicht näher bestimmte Soldaten am Ende der Erzählung hingerichtet.
Idee und Ziel des Comics, an dem Croci über 5 Jahre lang arbeitete, ist, die Geschichten zu erzählen und damit zu erinnern. Erinnern ist für den Autor mit keiner zukunftsgestaltenden Handlungsaufforderung verbunden, sie bedeutet lediglich sich zu erinnern an das, was geschehen ist, was Menschen anderen Menschen antun können. Inspiriert durch Claude Lanzmanns „Shoah“ und die Begegnung mit Zeitzeug/innen entschloss sich der Autor zu einer Graphic Novel über den Holocaust.
Dazu wählt, im absoluten Gegensatz zu Lanzmanns Erzählweise, eine fiktionale Geschichte und versucht realistische Bilder zu zeichnen. Darüber hinaus präsentiert er seine Interpretation der Geschichte der Vernichtung, in dem er sie von seinen Protagonist/innen sprechen lässt. So fragt Cessias Tochter vor den zerstörten Gaskammern stehend, die Unmöglichkeit eines gerechten und solidarischen Miteinanders voraussetzend, ob es denn nicht möglich sei, sich wenigstens „in Frieden zu hassen“. Die Kontinuitäten, die der Autor zwischen dem Holocaust und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sieht, verdeutlichen sich schon in der Kontextualisierung der Erzählung im Bürgerkrieg Jugoslawiens.
Insofern, als Croci den Leser/innen weder die Szenen von Erschießungen, Vergasungen, der Sklavenarbeit noch des Sterbens nach der Befreiung erspart, ist es im vorgegebenen Sinne – zu Erinnern an das was geschah – eine gelungene graphische Erzählung.
Für die historisch-politische Bildung weist der Comic großes Potential aber auch Schwierigkeiten auf. Diese beginnen mit der streitbaren Kontextualisierung im ehemaligen Jugoslawien, die eine bestimmte Perspektive sowohl auf die Debatte um die Singularität des Holocaust als auch auf das Geschehen im jugoslawischen Bürgerkrieg bedient.
Crocis Entscheidung für die Vermischung von Zeitzeug/innenberichten zu einer kohärenten fiktiven Geschichte ist nachvollziehbar und pädagogisch interessant, weil so viele Problematiken angesprochen werden. Sie bedeutet aber die Notwendigkeit für mit dem Comic arbeitende Multiplikator/innen, berichtigend in die Rezeption der Geschichte einzugreifen. Die Vermischung von Fiktion und Realität könnte allerdings auch ein Aufhänger für die Forschungsarbeit von Jugendlichen sein (Waren die Häftlinge wirklich so gekleidet? Haben Häftlinge wirklich die Vergasung überlebt? etc.).
Gelungen ist die Ausgewogenheit von bekannten Geschichten und stereotypen Bildern (Lagertor, Zug, Rampe, Selektion) mit für Schüler/innen wahrscheinlich unbekannten Informationen z.B. zur Solidarität und Rivalität innerhalb der Häftlingsgesellschaft.
Fraglich bleibt, ob die vom Autor bewusst gesetzte Unklarheit über die Handlungsmotivationen von Tätern, Häftlingen und anderen Handlungsträger/innen es jugendlichen Leser/innen ermöglicht, eine eigene Position zum Geschehen zu entwickeln, zumal sie an anderen Stellen mit sehr eindeutigen Interpretationen des Autors konfrontiert werden.
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- 21 Dez 2009 - 15:27