"Wir leben nun mal auf einem Vulkan"
Diese Briefe lassen den Leser Einblick nehmen in die alltäglichen Erfahrungen von Juden mit ihrer nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 einsetzenden gesellschaftlichen Ausgrenzung und den Schwierigkeiten ihres Lebens im Exil.
Die umfangreiche von Sibylle Ortmann zwischen Juni 1932 und November 1946 geführte Korrespondenz, vornehmlich zwischen ihr und ihrer Mutter Eva Ortmann, die ein außergewöhnlich inniges und zärtliches Mutter-Tochter Verhältnis verband, lässt exemplarisch ein eindrucksvolles Panorama einer bürgerlichen deutsch-jüdischen Familie in Berlin und ein faszinierendes Portrait einer ungewöhnlich klugen und mutigen jungen Frau entstehen.
Zwar gibt es inzwischen eine Fülle an biographischer und autobiographischer Literatur zur nationalsozialistischen Verfolgung der Juden, doch meist sind es rückblickend reflektierende und analysierende Schilderungen. Dieser Briefwechsel gibt unmittelbar die Ereignisse, Gefühle und Gedanken des jeweils erlebten Moments wieder. Das macht sie Lektüre des Bandes so authentisch und fesselnd zugleich.
Der Titel "Wir leben nun mal auf einem Vulkan", ein Zitat aus einem Brief der damals 19-jährigen Sibylle vom 11. Juni 1937 aus dem Exil in London an ihre Mutter in New York, wohin diese inzwischen mit ihrem zweiten Lebensgefährten, dem Sänger Fritz Lechner, hatte auswandern können, versinnbildlicht die erstaunliche Reife und trotz früh erfahrener Schwierigkeiten keineswegs pessimistische Lebenseinstellung Sibylle Ortmanns.
Als sie die ersten Briefe schrieb, war sie ein junges Mädchen von gerade einmal 14 Jahren. Sie wuchs nach ihrem dritten Lebensjahr vaterlos auf, nachdem die Ehe der Eltern auseinander ging. Mit ihrer alleinstehenden Mutter, einer Sängerin ohne feste Anstellung und Vermögen, lebte Sibylle während der zwanziger Jahre in äußerst bescheidenen Verhältnissen in der Schlüterstrasse in Charlottenburg, doch unterstützt und verwurzelt in einem assimilierten jüdischen bildungsbürgerlichen Milieu der Familie mütterlicherseits.
Ihr Großvater Raphael Löwenfeld, Übersetzer und Biograph Tolstojs, war Begründer des Berliner Schiller Theaters. Obwohl Sibylle Ortmann wegen ihres "arischen" Vaters nach der Nazi-Terminologie als "Halbjüdin" galt, und sie eine der besten Schülerinnen der Fürstin Bismarck Schule war, einem renommierten Mädchengymnasium in Berlin-Charlottenburg, verließ sie die Schule aus Solidarität mit ihren "voll"-jüdischen Klassenkameradinnen und vor allem ihrer entlassenen Klassenlehrerin Alice Bernstein.
Sibylle war zudem in der Schule als eine entschiedene Gegnerin des Nationalsozialismus bekannt. Im Oktober 1933 reiste sie völlig selbständig nach London, um dort nach Möglichkeiten einer Berufsausbildung zu suchen. Mit erstaunlicher Beharrlichkeit erkämpfte sie sich die Zulassung zum Besuch einer Handelsschule, kehrte kurzzeitig aus Heimweh nach Berlin zurück, arbeitet als Sekretärin an der amerikanischen Botschaft, um 1936 doch wieder nach London zu emigrieren.
Man erfährt in den Briefen auch mit ihrem Freundeskreis von den zermürbenden Schwierigkeiten der Flüchtlinge, Visa und Bürgschaften für die Einwanderung in die USA zu bekommen. Erst im September 1937 war sie wieder mit ihrer Mutter vereint in New York. Dort arbeitete sie zunächst als Übersetzerin für ein Flüchtlingskomitee, kümmerte sich intensiv um Einwanderungsvisa für Verwandte und Freunde und verhalf so auch ihrer ältesten und besten Freundin Lili Faktor, die mit ihren Eltern 1933 vor den Nazis nach Prag entkommen war, 1938 zur Einreise in die USA. Damit rettete sie ihr das Leben.
In New York lernte Sibylle 1938 auch ihren späteren Mann Milton Crane kennen, Doktorand der Literaturwissenschaften an der Columbia Universität, der ihrem ebenfalls in die USA emigrierten Onkel Englischunterricht erteilte. Sibylle Ortmann konnte schließlich am Radcliffe College in Cambridge Massachusetts mit Auszeichnung ein Studium der Romanischen Sprachen und Literatur absolvieren und lebte nach ihrer Heirat mit ihrer Familie in Washington D.C.
Zeit ihres Lebens blieb sie mit ihren Freundinnen aus der Kinder- und Jugendzeit in Verbindung, reist auch noch einige Male nach Europa und Berlin, bevor sie 1976 viel zu früh im Alter von 58 Jahren an Krebs starb. Ihre Mutter, Eva Ortmann Lechner, überlebte ihre Tochter um zwölf Jahre. Sie blieb allein in ihrer Wohnung in New York, beklagte sich aber nie darüber. Sie sagte, sie habe Zeit ihres Lebens ihr Zuhause bei sich getragen: "Mein Zuhause waren meine Eltern und die deutsche Kultur."
Bei der Durchsicht ihrer Schränke fand einer der Enkel Schachteln mit alten Briefen, darunter ihre Korrespondenz mit Sibylle, ein Teil eben dieses Zuhauses in der Emigration. Die Sammlung und Herausgabe dieser Briefe ist dem Sohn Sibylle Ortmanns, Peter Crane, zu verdanken, der sie historisch überaus sorgfältig und detailreich kommentiert hat. Die Briefe selbst sind bis auf ganz wenige Ausnahmen in Deutsch verfasst und in einem eleganten Stil geschrieben, wie man ihn heute in Briefen kaum noch pflegt.
Lediglich das bemerkenswerte Vorwort des bekannten Historikers Walter Laqueur, die Einleitung, das Nachwort und die kommentierenden Anmerkungen von Peter Crane wurden aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzt. Leider vermisst man in Anbetracht des Seitenumfangs ein Register zu den vielen Orts- und Personennamen, aber vor allem hätte auch der Name der Briefautorin Sibylle Ortmann auf dem Titelblatt mit dem denkwürdigen Zitat und dem Klassenfoto vom 18. März 1932 genannt werden sollen, denn ohne ihre Briefe gäbe es das Buch nicht.
Dieses Buch ist nachhaltig zu empfehlen, nicht nur als Lektüre für fächerübergreifenden Unterricht der Oberstufe an Gymnasien sowie für literatur- und kulturwissenschaftliche Proseminare an Universitäten zu den Themen, sondern auch als Vorbild und Anregung zur Erhaltung der Gattung Briefwechsel, die im Zeitalter der E-Mail obsolet und damit auch als zeitgeschichtliche Quelle auszuscheiden droht.
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- 23 Dez 2009 - 22:55