Während die Frage, welche Lehren aus der Geschichte des Nationalsozialismus zu ziehen seien, wissenschaftlich umstritten ist, scheint die Annahme, dass die nachkommende Generation aus dem Geschichtsunterricht lernen könne, selbstverständlich. Dagegen sprechen die Befunde der Pilotstudie (Hollstein, Oliver u. a. 2002: Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht. Beobachtungen unterrichtlicher Kommunikation. Bericht zu einer Pilotstudie. FfM: Johann Wolfgang Goethe-Universität, Fachbereich Erziehungswissenschaft), die den Unterricht zum Thema Nationalsozialismus in zwei Klassen der gymnasialen Oberstufe zum ersten Mal empirisch untersucht. Offenbar vermag der Schulunterricht nicht das zu leisten, was Politik und Pädagogik erwarten.
Der vorliegende Band beruht auf einer Tagung zum Thema „Schule und Holocaust“ im Mai 2003, in der die theoretischen Prämissen und empirischen Diskussionen der Pilotstudie zur Diskussion gestellt wurden.
Im ersten Teil des Bandes unternehmen Norbert Frei (bundesdeutsche Erinnerungsgeschichte anhand öffentlicher Debatten), Harald Welzer (intergenerationelle Tradierungsformen der NS-Geschichte in Familien) und Jochen Kade (Darstellung des Holocaust im Spielfilm) den Versuch, das im kollektiven Gedächtnis vorhandene Vorwissen zu beschreiben, an welches der Unterricht zu Nationalsozialismus und Holocaust anknüpfen kann.
Im zweiten Teil werden das Theoriedesign und die Ergebnisse der Pilotstudie in zusammengefasster Form präsentiert.
Wolfgang Meseth/ Frank-Olaf Radtke/ Matthias Proske betonen entsprechend ihrer systemtheoretischen Analyse, dass sowohl die SchülerInnen als auch die Lehrer vor allem Interesse daran zeigen, die Form Unterricht aufrechtzuerhalten bzw. alle im Unterricht Anwesenden in ihren Funktionsrollen kommunizieren. Zur Aufrechterhaltung der Form Unterricht reagieren die Schülerinnen und Schüler auf die Anforderungen durch die Lehrer in legitimer Weise, das heißt adäquat der gesellschaftlichen Bewertung des Themas „Nationalsozialismus“, z. B der hohen moralischen Bedeutsamkeit. Die thematische Reflexivität für das Thema resultiert somit nicht aus detailliertem Faktenwissen oder moralisch gefestigten Haltungen sondern einer Sensibilität für die gesellschaftliche Bedeutung des Themas. Die Autoren bezeichnen dies als implizites Metawissen, das durch mitlaufende Sozialisation erzeugt ist. Sich gegenüber diesem Konsens konform zu verhalten, heißt jedoch nicht, die Ziele der pädagogischen Bemühungen zu teilen.
Die Unterrichtsbeobachtungen führen zu der Hypothese, dass eine moralische Positionierung zu den NS-Verbrechen nicht durch den Unterricht hergestellt werden kann, sondern, dass sie schon vor dem Unterricht als Voraussetzung bestehen muss. Zudem ermöglicht die Kommunikation über den NS den Schülerinnen und Schülern lediglich, Informationen über den NS und Bewertungen des NS kennen zu lernen und erhöht so die Optionen für Dispositionsänderungen. Ob tatsächlich eine moralische Positionierung stattfindet oder aus taktischen bzw. opportunistischen Gründen sozial erwünschte Äußerungen getätigt werden, ist nicht überprüfbar.
Horst Rumpf und Andreas Gruschka reagieren auf die systemtheoretischen Prämissen der Untersuchung mit einer Kritik überdidaktisierter Vermittlungsformen. Insbesondere Gruschka betont das Scheitern des untersuchten Unterrichts an den Repräsentationsformen (Methoden und Medien), nicht am Sachgegenstand. Micha Brumlik kritisiert den Versuch einer erfahrungsorientierten Didaktik, die sich angesichts der Monstrosität des Themas verbiete. Wolfgang Ludwig Schneider fragt nach dem strukturellen Problem moralischer Kommunikation und führt die Unterscheidung zwischen „redundanten“ und „konfliktären“ Thematisierungsformen des Sachgegenstands ein.
Im dritten Teil des Buches werden die Ergebnisse aus erinnerungspädagogischer und geschichtsdidaktischer Perspektive diskutiert. Gottfried Kößler verweist auf die zeitliche Dimension und den Prozesscharakter moralischen Lernens, Verena Haug auf die breiten empirischen Forschungslücken zur Kommunikation im Feld der sog. Gedenkstättenpädagogik. Bodo von Borries argumentiert für einen Aufklärungs- und Erziehungsanspruch des Geschichtsunterrichts trotz der Schwierigkeit, im Unterricht emotionale Identifikationen anzubieten und so moralische Lernprozesse zu initiieren. Dem hält Gerhard Henke-Bockschatz sein Plädoyer für einen geschichtswissenschaftlich geschulten Umgang mit historischen Quellen und deren Perspektivität entgegen.
Die Diskussionen um die Wirkungsweise von Konzeptionen, Inhalte, Methoden und Medien der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit werden zukünftig auch vor dem Hintergrund der pessimistischen empirischen Ergebnisse der Herausgeber geführt werden müssen. Kritisch bleibt die Einseitigkeit der systemtheoretischen Interpretation der Ergebnisse. Insbesondere der Beitrag von Andreas Gruschka verweist hier auf die vielfältigen Möglichkeiten der Ergebnisinterpretation und die daraus ableitbaren Modifikationsvorschläge für die Gestaltung des Geschichtsunterrichts zu Nationalsozialismus und Holocaust.
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- 21 Dez 2009 - 18:50