Von Christian Geissler-Jagodzinski
In der Diskussion darum, wie die Geschichte des Nationalsozialismus zeitgemäß vermittelt werden kann, wird die Einwanderungsgesellschaft als ein Problem dargestellt. Da wird vermerkt, Jugendliche mit Migrationshintergrund würden sich nicht für diese Geschichte interessieren und allein den weißen deutschen Jugendlichen die Notwendigkeit der Beschäftigung zuschieben.
Pädagoginnen und Pädagogen tun sich schwer damit, historische und aktuellen Kriegs- und Gewalterfahrungen ihrer Schülerinnen und Schüler einzubeziehen, in den Klassen entstehen „Opferkonkurrenzen“ (Monique Eckmann). Vergleiche zwischen historischem Geschehen und gegenwärtigen Gewalt- und Ausgrenzungserfahrungen sind umstritten und werden in der Praxis entweder als heiße Eisen umschifft und verboten. Oder sie werden unreflektiert sowohl durch Lernende wie auch durch Lehrende zur Legitimation aktueller Interessen eingesetzt. Es gibt also viel Klärungsbedarf.
Die Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt hat nun bildungstheoretische Überlegungen vorgelegt, die sich mit den Voraussetzungen des historischen Lernens zum Nationalsozialismus in der Einwanderungsgesellschaft der Bundesrepublik beschäftigen. Dazu nimmt sie Bildungsprozesse in den Blick, die Zeitgeschichte thematisieren und solche, die sich dem Thema Migration nähern. Die Gemeinsamkeiten beider Felder liegen im Folgenden: Sowohl Einwanderungsgesellschaft und Migration, als auch die Erinnerung an den Nationalsozialismus werden durch pädagogische Formate nicht nur vermittelt. Eben diese Vermittlung gestaltet die Felder auch, „sie ist beteiligt an den Wahrnehmungen von Migration und Migrant/innen sowie an den gesellschaftlichen Platzzuweisungen, die daraus erfolgen, und sie trägt bei zu zeitgeschichtlich bedingten Welt- und Selbstbildern.“ (S. 9) Mit dieser Gestaltung einher geht die Verstrickung der Lernenden und Lehrenden in die Einwanderungsgesellschaft und ihre Erinnerungskultur(en). Niemand beschäftigt sich mit diesen Themen, ohne dass die eigene soziale Position als (Nicht-) Weiße, (Nicht-) Deutscher, (Nicht-) Staatsbürgerin, Teil der ersten, zweiten oder dritten Nachkriegsgeneration etc. die Annäherung prägen würde.
Konsequenterweise stehen Prozesse des Othering - der Konstruktion einer Wir-Gruppe, der die Anderen entgegengestellt werden - im Mittelpunkt von Messerschmidts Betrachtungen. So lässt sich z.B. an der aktuell hoch im Kurs stehende Beschäftigung mit dem Antisemitismus bei muslimischen Jugendlichen nachzeichnen. Diese enthält folgende Setzungen: Es gibt eine über das Merkmal „Religion“ definierbare Gruppe. Mit ihren Einstellungen und/oder ihrem Verhalten stellt diese Gruppe ein Problem dar. Deshalb muss diese Gruppe beforscht und aufgeklärt, umerzogen und angepasst werden. Dies geschieht z.B. mittels historischen Lernens in der Schule, durch Aufklärungskampagnen in der Öffentlichkeit oder in den Vorbereitungskursen auf die mit Geschichtsfragen versehenen Einbürgerungstests.
Über die Gruppe der weißen, christlichen oder atheistischen Deutschen wird dabei nichts gesagt und trotzdem eine Menge festgestellt. Diese Gruppe hat aus den Verbrechen im Nationalsozialismus gelernt – sie ist reflektiert, verantwortungsbewusst und aufgeklärt. Holocaust und Nationalsozialismus werden so – ungewollt - zu Themen, mit denen der Geschichtsunterricht eine Restauration nationaler Identität betreibt.
Dass sich im aktuellen Selbstbild der weißen Deutschen - als zivilisiert und aufgeklärt - das koloniale Selbstbild wiederholt, ist nicht zufällig. Ist doch die Geschichte der Kolonialverbrechen eine in Deutschland weiterhin zumeist unreflektierte, was das Weiterleben kolonialrassistischer Bilder von den Fremden im aktuellen Rassismus ermöglicht. Offener Antisemitismus gilt in Deutschland nicht als legitim – rassistische Formulierungen über sog. Ausländer, die „uns nutzen oder ausnützen“, sind es nicht. Für eine wirksame Rassismusanalyse, so Messerschmidt, ist deshalb die Betrachtung völkisch-rassistischer Kolonialpolitik unabdingbar. Nicht zuletzt weil auch in antisemitischen Motiven, wie dem des auf ehrliche Weise akkumulierten deutschen Kapitals vs. des auf Kosten anderer erworbenen jüdischen Kapitals, die Funktion als Abwehr deutsche Kolonialgeschichte nachzuzeichnen ist.
Astrid Messerschmidts „Suchbewegungen“ nach den Voraussetzungen und Möglichkeiten einer kritischen Bildungspraxis sind für alle diejenigen Pädagoginnen und Pädagogen hilfreich, die ein inklusives und identitätskritisches historisches Lernen ermöglichen wollen. Dabei bietet sie keinen Leitfaden für die Gestaltung von Unterricht oder Seminaren. Stattdessen leistet die Lektüre einen wichtigen Beitrag zu Verunsicherung der Lehrenden. Denn sie fordert auf, die Legitimität des eigenen Sprechens und Handelns in Frage zu stellen, immer wieder danach zu fragen, wer mit wem aus welcher Position wie über wen bzw. was spricht.
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- 21 Dez 2009 - 18:26