Die aktuellen Diskussionen um die "Ausbildung von Parallelgesellschaften", die Notwendigkeit patriotischer Gefühle, eine deutsche Leitkultur, "das Scheitern der multikulturellen Illusion" etc. eint ihr emotionaler Charakter. Oftmals werden scheinbar willkürlich herausgehobene "Fakten" über nichtweiße, nichtdeutsche oder nichtchristliche Communities zitiert, um deren Desintegration, Integrationsunfähigkeit oder Integrationsunwilligkeit zu belegen. Über vielschichtige Konflikte wie den sog. Kopftuchstreit werden vereinfachende Debatten geführt, in der z.B. entweder das Diskriminierungsverbot betont oder die Religionsfreiheit eingefordert wird, ungeachtet der konkreten Lebensumstände der Frauen und Mädchen, in denen diese Fragen auftauchen.
Einen Lichtblick bietet die neuveröffentlichte, nichtpolarisierende Studie der Bundesbeauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration zu Lebenslagen von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund. Befragt wurden 950 Mädchen und junge Frauen zwischen 15 und 21 Jahren mit griechischem, türkischem, italienischem, jugoslawischem Migrationshintergrund sowie aus Aussiedlerfamilien aus Frankfurt am Main, Mannheim, Berlin, Völklingen, Dresden, Chemnitz sowie dem Ballungsraum Ruhrgebiet mit den Städten Duisburg und Essen und den Kreisen Unna und Recklinghausen zu den Themen: Verschiedenheit in den Migrationsbiographien, Soziale Bedingungen und räumliches Umfeld, Rolle und Bedeutung der Familie, Freizeit und Freundschaften, Bildung und Ausbildung, Mehrsprachigkeit und Sprachmilieu , Partnerschaft und Geschlechterrollen, Körperbewusstsein und Sexualität, Ethnizität und psychische Stabilität, Religiöse Einstellungen, organisierte Freizeit und Hilfe in Krisen.
Die Autorinnen Ursula Boos-Nünning und Yasemin Karakasoglu, Erziehungswissenschaftlerinnen an der Universität Essen/Duisburg plädieren mit ihren Ergebnissen für eine differenzierte Betrachtung der oft vereinheitlichend als Migrantinnen oder "Ausländer" bezeichneten und betrachteten Mädchen und Frauen. So konstatieren sie zusammenfassend für die Frage nach den religiösen Einstellungen der Mädchen und Frauen:
"Die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft ist mit Ausnahme der Mädchen aus Aussiedlerfamilien nahezu selbstverständliches Muster der Mädchen und jungen Frauen aller nationaler Hintergründe. Die Befragten unterschiedlicher Religionsgruppen unterscheiden sich nicht in ihrem Religionsverständnis. Wenn es auch in jeder Religionsgruppe religiöse und nicht religiöse Mädchen und junge Frauen gibt, wird dennoch deutlich, dass Musliminnen weitaus religiöser sind als alle übrigen, gefolgt von denjenigen, die dem orthodoxen Christentum angehören. Am stärksten der Religiosität fern stehen die Befragten mit evangelischer Konfession, wenn auch nicht unberücksichtigt bleiben darf, dass auch hier eine kleine Gruppe sehr stark religiös orientiert ist. Die Mädchen und jungen Frauen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, stehen überwiegend religiösen Einstellungen fern. Neben der Religionsgruppenzugehörigkeit hat der nationale Hintergrund entscheidenden Einfluss auf die Stärke der religiösen Orientierung. Es ist notwendig, Musliminnen differenziert zu betrachten: Sie unterscheiden sich im Hinblick auf die Stärke ihrer religiösen Orientierung sowohl nach nationalem Hintergrund (bosnisch oder türkisch) als auch innerhalb der Mädchen mit türkischem Hintergrund danach, ob sie Alevitinnen oder Sunnitinnen sind und letztere ob sie ein Kopftuch tragen oder nicht tragen."
Dem derzeit auch bei den politischen Eliten der bürgerlichen Mitte nicht unpopulären Fazit der gescheiterten Einwanderungsgesellschaft stehen folgende, auf die Heterogenität der Migrantinnen verweisende, Einstellungen zu Fragen der Ethnizität/ Zugehörigkeit entgegen:
"Alle Bereiche, in denen Ethnizität erhoben wird, weisen auf eine starke Bindung an die eigene (Herkunfts-) Ethnie und auf eine geringe Bindung an die deutsche Kultur hin. In der ethnischen Selbstverortung fühlen sich die Mädchen der Herkunftskultur zugehörig und weisen die Selbstverortung als Deutsche wie auch die Bekundung von Zugehörigkeit zu beiden Kulturen (bikulturelle Identität) zurück. Freizeit wird stärker im ethnischen als im multikulturellen oder im deutschen Kontext verbracht. Eine Eheschließung mit einem deutschen Mann wird von den meisten nicht in Betracht gezogen. Dennoch fühlen sich die Mädchen und jungen Frauen aller Herkünfte in Deutschland, allerdings auch im Herkunftsland, wohl, und die Zufriedenheit mit der Lebenssituation ist groß. Mädchen und junge Frauen mit türkischem Migrationshintergrund sind am konsequentesten an dem Leben in Deutschland orientiert, allerdings als Angehörige der türkischen Minderheit. Die Mädchen mit griechischem Hintergrund sind am wenigsten an Deutschland ausgerichtet, ihre emotionale Orientierung gilt stärker als bei allen übrigen dem Herkunftsland. Alle Herkunftsgruppen sehen ihre Zukunft zu einem erheblichen Teil in Deutschland, aber eine Anpassung an deutsche Lebensformen wird abgewehrt (Kleidung, Essgewohnheiten). Die deutsche Staatsangehörigkeit wird nahezu ausschließlich von Mädchen mit türkischem und jugoslawischem Hintergrund beantragt oder gewünscht und zwar in erster Linie aus Nützlichkeitserwägungen. Es besteht keine Bereitschaft, die Kultur der Eltern aufzugeben. Am ehesten findet die überwiegende Erziehung der Kinder in der deutschen Sprache Akzeptanz. Anpassungsnotwendigkeit wird vor allem in der Beherrschung der deutschen Sprache und in der Kontaktaufnahme mit Deutschen gesehen. Es lässt sich bei hoher psychischer Stabilität der meisten Mädchen und jungen Frauen eine Minderheit von 10 bis 20 Prozent herauslösen, die über psychosomatische Beschwerden klagt, sich als psychisch schwach definiert und ihr Leben nicht aktiv bewältigt. Migrationsbedingte kritische Lebensereignisse wie Migration aber vor allem rassistische Vorfälle bzw. Diskriminierung sind relativ selten und betreffen vor allem Aussiedlerinnen und Mädchen türkischer Herkunft. Wenn sie vorkommen, werden sie als belastend empfunden."
Die differenzierenden Ergebnisse komplettieren die Autorinnen mit Forderungen an Politik und Pädagogik. Sie plädieren für eine Stärkung der Ressourcen der Mädchen und Frauen - bildungs- und berufsbezogene Aufstiegswünsche, die angestrebte Vereinbarung von Beruf und Familie, Mehrsprachigkeit sowie das Verantwortungsgefühl gegenüber den Herkunftsfamilien. Pädagogische Angebote müssen sich an diesen Wünschen orientieren. Das heißt, die Orientierungen an Herkunftsfamilien und ihren Werten sowie der Institution "Ehe" sind nicht als defizitär oder Zeichen ungelöster Ablösung zu begreifen, sondern als Bedürfnisse zu integrieren.
Gleichzeitig müssen sich auf Emanzipation und Selbstbestimmung der Mädchen/Frauen abzielende Angebote auch Jungen/Männer als potentielle Partner einbeziehen. Die Differenz zwischen interethnischer Kontaktbereitschaft und der real bestehenden Kontakthäufigkeit kann nach Vorstellung der Autorinnen durch auf gemeinsame Interessen der Mädchen/Frauen, unabhängig von ihrer Herkunft, zielende Angebote vermindert werden. Voraussetzung dafür ist, dass diese Angebote unter einer Perspektive kultureller Sensibilität entwickelt und durchgeführt werden. Notwendig sind des Weiteren eine Stärkung der Mädchen/ Frauen gegenüber der Erfahrung rassistischer Ausgrenzungen sowie die Sensibilisierung der weißen Deutschen für diese Ausgrenzungen. Diese müssen lernen, Unterschiede wahrzunehmen, diese auszuhalten und zu respektieren. Die Entwicklung dieser Ambiguitätstoleranz ist nicht zuletzt auch ein Thema der historisch-politischen Bildung.
Kurzfassung des Textes unter: http://www.integrationsbeauftragte.de/download/VieleWeltenleben.pdf
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- 25 Nov 2009 - 21:10