Auf dem Weg zu einem nachhaltigen vernetzten Ansatz für digitale Holocaust-Erinnerung
Von Victoria Grace Richardson-Walden
(übersetzt ins Deutsche von Grashina Gabelmann)
Anfang 2024 startete die Universität Sussex (UK) das Landecker Digital Memory Lab. Das Kernziel dieses fünfjährigen Projektes ist es, digitale Kompetenzen und Kapazitäten im Holocaust-Bereich (Museen, Denkmäler, Archive und Bibliotheken) zu verbessern, um sicherzustellen, dass die Holocaust-Erinnerung und -bildung für das digitale Zeitalter bestens gerüstet sind. Aber warum ist eine solche Intervention notwendig?
Der Status Quo der digitalen Holocaust-Erinnerung
Jede Geschichte der jüngsten digitalen Praxis scheint auf die COVID-19-Pandemie zurückzuführen zu sein, und in gewisser Weise ist das hier auch der Fall. Einerseits ist dies der Zeitraum, den manche als den Moment bezeichnen, in dem KZ-Gedenkstätten (insbesondere in Deutschland) begonnen haben, experimenteller mit sozialen Medien umzugehen (Ebbrecht-Hartmann 2021). Einige dieser Gedenkstätten waren jedoch bereits führend bei der Entwicklung von digitalen Anwendungen vor Ort, wie beispielsweise Here: Bergen-Belsen Spaces of Memory (Gedenkstätte Bergen-Belsen, seit 2012 aktiv). Es gab auch weltweit viele etablierte Projekte (siehe beispielsweise die Arbeit der USC Shoah Foundation). Die Pandemie zeigte die Ungleichheit der digitalen Kompetenzen und Kapazitäten im Sektor auf – während einige Organisationen schnell innovative Wege finden mussten, um das Publikum zu erreichen, zirkulierten andere lediglich Erinnerungen an ihre bereits vorhandenen digitalen Inhalte über soziale Medien. Andererseits war es während des ersten britischen Lockdowns, dass meine eigene Forschung zur digitalen Holocaust-Erinnerung von einem vorübergehend gescheiterten Projekt, das auf umfangreiche internationale Reisen angewiesen war (während der Pandemie war dies unmöglich), zu einem Blog und einer Reihe von Online-Diskussionen führte, die zu Co-Creation-Workshops mit mehr als 120 internationalen Teilnehmenden führten. Diese Workshops konzentrierten sich auf die Entwicklung von Empfehlungen für digitale Interventionen in der Holocaust-Erinnerung und -bildung (Walden und Marrison et al. 2023a, b, c, d und 2024a, b).
Soziale Medien
Die digitale Holocaust-Erinnerung ist fast so alt wie das World Wide Web. Große Holocaust-Institutionen wie Yad Vashem, das United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) und das Anne Frank Haus haben bereits seit den 1990er und frühen 2000er Jahren virtuelle Ausstellungen und CD-ROM-Projekte erstellt. Die frühesten Social-Media-Projekte von Institutionen waren ebenfalls eher experimentell, darunter die Erstellung von Facebook-Seiten für Holocaust-Opfer (Grodzka Gate, Polen), „Tweetup“-Touren (USHMM) und Live-Twitter-Debatten, die persönliche Veranstaltungen ergänzten (The Wiener Library, UK). Schon bald zeichnete sich jedoch in der gesamten Branche die Tendenz ab, dass die sozialen Medien den formalen Kommunikations- und Marketingstrategien untergeordnet wurden. Daher wurde der Inhalt relativ standardisiert (oft ohne explizite Zusammenarbeit zwischen den Institutionen). Daraus ergab sich ein gemeinsamer Ansatz: Beiträge, die kuratorische Aktivitäten ergänzten, wie historische Fotografien oder Videos mit erklärendem Text, ähnlich wie in physischen Ausstellungsräumen, oder Beiträge, die die Aktivitäten der Institution bewarben, gelegentlich mit Schwerpunkt auf dem Personal oder dem Arbeitsprozess, einschließlich Einblicken hinter die Kulissen der kuratorischen Tätigkeiten. Die experimentellen, partizipativen und hypervernetzten Praktiken, die während der Pandemie entwickelt wurden, könnte man eventuell eher als „Blip“ bezeichnen. Zumindest scheinen wir zu diesen standardisierten Praktiken auf Social Media zurückgekehrt zu sein. Dies ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass die Ressourcen, die während der COVID-19 für partizipativere Online-Aktivitäten vorgesehen waren, wieder für die Bedürfnisse vor Ort verwendet werden.
Parallel zu dieser Rückkehr zur standardisierten Praxis als dominierender Modus der institutionellen Erinnerung auf Social Media kam es zu einem „Shake-up“ der Branche insgesamt. Twitter – einst eine Bastion für hashtag-gesteuerte Kommunikation – wurde von vielen Holocaust-Organisationen seit der Übernahme durch Elon Musk und seiner Umwandlung in X verlassen. Das reifere und professionellere Publikum der Holocaust-Organisationen ist nun dünn verteilt auf BlueSky, Threads und Mastodon; Kurzform-Videoinhalte haben auf Instagramund YouTube zugenommen, durch Mechanismen, die direkt darauf abzielen, mit TikTok als Marktführer zu konkurrieren. Während letztere Plattform der Ort ist, um jüngere Generationen zu erreichen, sorgt TikToks algorithmusgesteuerte Kuratierung dafür, dass professioneller Holocaust-Erinnerungsinhalt nun ein viel breiteres und willkürlicheres Publikum erreicht, was zu mehr Leugnung, Verzerrung, Trivialisierung und Hass führt, die direkt von denjenigen erlebt werden, die in Holocaust-Organisationen arbeiten. Dies ist so weit verbreitet und hat seit dem 7. Oktober 2023 merklich zugenommen, dass der prominente Holocaust-Überlebende und TikTok-Influencer Gidon Lev seinen Account Ende 2023 zeitweise aufgab, als sich seine jungen aktivistiscxhen Fans gegen ihn wandten, nur weil er Israeli ist und seine persönlichen Erfahrungen mit dem Israel-Gaza-Krieg teilte.
AR und VR
Über die sozialen Medien hinaus hat die Arbeit der Future Memory Foundation und des SPECS Lab gründlich recherchierte Designarbeiten zu Virtual- und Augmented-Reality-Erfahrungen an historischen Stätten in ganz Europa seit der Initiierung von „Spaces of Memory“ in Bergen-Belsen an Standorten in Norwegen, Deutschland, Spanien, Kroatien und Tschechien geprägt. Parallel zu diesen Bemühungen, die das räumliche, erfahrungsorientierte Lernen in den Vordergrund stellen (Verschure und Wieregena 2021), wurden zahlreiche erzählungsbasierte VR-Produktionen von Holocaust-Überlebenden in eigens dafür eingerichteten VR-Räumen in Holocaust-Museen verbreitet, meist an Orten, die keine direkte Verbindung zur Holocaust-Geschichte haben (z.B. Illinois Holocaust Museum and Melbourne Holocaust Museum). Letztere Beispiele schränken die Interaktivität der Benutzer ein und verlangen von ihnen, dass sie einen vorab aufgenommenen 360-Grad-Film ansehen. Einerseits suggerieren solche Projekte, dass Holocaust-Museen Virtual Reality als essenziell für die zukünftige Besucherbindung ansehen. Andererseits zögern sie, die interaktiven Potenziale solcher digitalen Technologien zu nutzen. Tatsächlich zeigen die Forschungsgespräche, die wir aufgezeichnet haben, und die Co-Creation-Workshops, die wir abgehalten haben, Ängste, die von den Herausforderungen, Besucher technologisch zu schulen, reichen bis hin zu Bedenken hinsichtlich der Ethik, ihnen zu erlauben, virtuell mit historischen und/oder Gedenkorten zu interagieren, sowie Bedenken hinsichtlich der Überforderung der Benutzer durch ein immersives Erlebnis.
Computerspiele
Computerspiele, einst tabu, sind nun ein „heißes Thema“ in der digitalen Holocaust-Erinnerung. Früher hätten Institutionen den Begriff „Spiel“ gemieden und stattdessen „interaktive Geschichte“ verwendet, wie es bei der „The Journey“-App des National Holocaust Centre in Großbritannien zu sehen war. In den letzten ein oder zwei Jahren haben wir die Entwicklung eines Spiels zur Unterstützung des Engagements mit dem #LastSeen-Forschungsprojekt gesehen, ein weiteres ist „Remember. Die Kinder von Bullenhuser Damm“ in Zusammenarbeit mit der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen und Paintbucket Games sowie die Erstellung eines Holocaust-Museums in Fortnite sowie neue Spiele mit Bezug zum Nationalsozialismus von Paintbucket und Charles Games – zwei Herstellern mit einer langen Geschichte in diesem Bereich. Dennoch neigt man dazu, den Spieler in die heutige Zeit zu versetzen, um die Vergangenheit besser zu verstehen, oder die jüdische Erfahrung zu dezentralisieren (außer im Spiel Light in the Darkness vom selben kommerziellen Entwickler wie das Fortnite-Holocaust-Museum). Der Entwickler von Light in the Darkness und dem Fortnite-Projekt, Luc Bernard, positioniert seine Arbeit öffentlich als Herausforderung für die traditionelle Holocaust-Bildung. Die Gedenkstätte Dachau in Deutschland hat eng mit dem deutschen Startup ZauBAR zusammengearbeitet, um mit dem Potenzial der AR-Technologie zu experimentieren, zuerst um Befreiungsfotos vor Ort zu lokalisieren (in der Liberation-App, initiiert vom Bayerischen Rundfunk) und dann, um Kunstwerke von Überlebenden und deren Verwandten mit AR in den Gedenkraum zu bringen.
Diese Projekte, wie viele andere, haben jedoch mit Herausforderungen zu kämpfen: verschiedene Rechte, die für digitale Veröffentlichungen aus Privatarchiven erteilt wurden (im Vergleich zu den Rechten, die für die Verwendung derselben Fotografien in ihren Dauerausstellungen erteilt wurden), die Auswirkungen von Kurzzeitfinanzierungen, die die Ressourcen einschränken, um digitale Anwendungen zu pflegen, weiterzuentwickeln und mit neuem Material zu aktualisieren, sowie langfristige Wirkungsstudien durchzuführen und substanzielle pädagogische Kontexte für ihre Nutzung zu entwerfen. Darüber hinaus haben Besucher ohne EU-Datentarife Schwierigkeiten, sich mit dem lokalen WLAN zu verbinden, um die Apps auf ihre mobilen Geräte herunterzuladen (wie wir während unseres Forschungsbesuchs 2022 beobachtet haben). Die Praxis in Dachau und an vielen anderen Holocaust-Stätten veranschaulicht die große und enthusiastische „digitale Vorstellungskraft“ im Sektor, die durch den Mangel an Unterstützung für Infrastruktur und Ressourcen (einschließlich Personal und Geld) herausgefordert wird, um nachhaltige digitale Interventionen zu gewährleisten. Mehrere Teilnehmer, mit denen wir in unserer Forschung gearbeitet haben, haben den Bedarf geäußert, Praxis und Erfahrungen zu teilen, da sie sich oft fühlen, als würden sie das Rad neu erfinden, obwohl andere Institutionen bereits ähnliche Herausforderungen bei ähnlichen Projekten bewältigt haben. Die digitale Holocaust-Erinnerung steht vor einer Nachhaltigkeitskrise, die dringend angegangen werden muss, damit die zunehmende Mainstream-Sichtbarkeit von Leugnung, Verzerrung, Trivialisierung und Hass im Internet sie nicht überwältigt.
Wie können wir eine nachhaltige Zukunft für die digitale Holocaust-Erinnerung schaffen?
Das Landecker Digital Memory Lab ist nicht nur ein Inkubator oder Geldgeber für weitere kleine digitale Holocaust-Erinnerungsprojekte; unser Ansatz ist global, sektorübergreifend und interdisziplinär. Unser Ziel ist es, dem Sektor zu helfen, auf institutioneller, nationaler und internationaler Ebene nachhaltiger zu werden. Dazu benutzen wir einen mehrgleisigen Ansatz, der sich an akademische Forscher, Fachleute in Holocaust-Organisationen, Kreativ- und Tech-Industrie, politische Entscheidungsträger und Geldgeber richtet.
Im Zentrum unserer Aktivitäten steht die Entwicklung eines „lebenden Datenbankarchivs“. Diese ambitionierte Plattform wird Rundgänge durch digitale Holocaust-Projekte anbieten, ergänzt durch Interviews mit denjenigen, die an deren Entstehung beteiligt waren, sowohl aus dem Holocaust-Sektor als auch darüber hinaus. Diese Plattform soll Holocaust-Fachleuten und Wissenschaftlern schnellen Zugang zu bereits geleisteter Arbeit ermöglichen und ihnen die vielfältigen Erfahrungen sowie die Herausforderungen und Chancen derer näherbringen, die an der Entwicklung solcher Projekte beteiligt sind. Ergänzend dazu werden wir bald einen digitalen Ort des Publizierens einrichten. Mit dem Ziel, die Traditionen von kostenpflichtigen wissenschaftlichen Zeitschriften und Fachsilos zu hinterfragen, wird Digital Memory Dialogues multimediale Antworten auf thematische Anregungen kombinieren, die jeweils von Experten aus verschiedenen Disziplinen kuratiert werden. Diese Experten werden dann zu einer öffentlichen, online geführten Diskussion eingeladen.
Neben der weiteren Produktion von weltweit führenden wissenschaftlichen Ressourcen werden wir die Erkenntnisse aus den aufgezeichneten Rundgängen und Interviews nutzen, um eine Reihe von Online-Schulungen für diejenigen zu entwickeln, die in Holocaust-Organisationen arbeiten. Diese Schulungen werden sich auf spezifische digitale Themen wie KI und maschinelles Lernen, VR und AR oder soziale Medien konzentrieren. Wir sind auch dankbar, dass unser Geldgeber – die Alfred Landecker Stiftung – uns unterstützt, eine Reihe von „Innovationsinitiativen“ mit globalen Partnern zu veranstalten. Diese einwöchigen, intensiven Workshops werden eine vielfältige Gruppe von Experten zusammenbringen, um einige der makroökonomischen Probleme des Sektors im Hinblick auf die Digitalisierung zu lösen, wie etwa die Vernetzung von Sammlungen. Wir werden diese Aktivitäten ergänzen, indem wir einen kostenlosen Beratungsservice für Institutionen oder Projekte anbieten, die Forscher zur Unterstützung ihrer Entwicklung suchen. Die neue Website des Landecker Digital Memory Lab wird im November 2024 online gehen. In der Zwischenzeit können Sie unsere Arbeit auf unserem Blog verfolgen.
Unser Ziel ist es, mit diesen Aktivitäten ein sich ständig weiterentwickelndes Netzwerk aus einem breiten Spektrum von Disziplinen und Sektoren aufzubauen, das die Notwendigkeit der Zusammenarbeit ernst nimmt, um die digitale Erinnerung an den Holocaust nachhaltig zu gestalten. Wir werden dieses Netzwerk zu drei großen „Expos“ im Laufe des Projekts einladen, in der Hoffnung, neue Verbindungen durch persönliche Treffen zu stärken und aufzubauen. So positiv digitale Konnektivität auch sein mag, intensive Phasen der persönlichen Zusammenarbeit sind nach wie vor unglaublich wertvolle Erfahrungen – die besten Online-Arbeiten werden normalerweise durch starke Offline-Verbindungen inspiriert.
Literatur
Ebbrecht-Hartmann, Tobias: Commemoration From a Distance: The Digital Transformation of Holocaust Memory in Times of COVID-19, in: Media, Culture and Society, Jg. 43 (2021), H. 6, S. 1095–1112, DOI: https://doi.org/10.1177/0163443720983276.
Verschure, Paul.F.M.J/Wierenga, Sytse: Future Memory: A Digital Humanities Approach for the Preservation and Presentation of the History of the Holocaust and Nazi Crimes, in: Holocaust Studies, Jg. 28 (2021), H. 3, S. 331–357,DOI: https://doi.org/10.1080/17504902.2021.1979178.
Walden, Victoria Grace/Marrison, Kate, et al.: Recommendations for using Artificial Intelligence and Machine Learning for Holocaust Memory and Education, Sussex: REFRAME 2023a, URL: https://reframe.sussex.ac.uk/digitalholocaustmemory/files/2023/01/AI-and-Machine-Learning-Guidelines.pdf.
Walden, Victoria Grace/Marrison, Kate, et al.: Recommendations for Digitising Material Evidence of the Holocaust, Sussex: REFRAME 2023b, URL: https://reframe.sussex.ac.uk/digitalholocaustmemory/files/2024/07/Digitising-Material-Evidence-Guidelines-Digital-Holocaust-Memory-Project-2.pdf.
Walden, Victoria Grace/Marrison, Kate, et al.: Recommendations for Digitally Recording, Recirculation and Remixing of Holocaust Testimony, Sussex: REFRAME 2023c, URL: https://reframe.sussex.ac.uk/digitalholocaustmemory/files/2023/01/Testimony-Guidelines.pdf.
Walden, Victoria Grace/Marrison, Kate, et al.: Recommendations for Using Social Media for Holocaust Memory and Education, Sussex: REFRAME 2023d, URL: https://reframe.sussex.ac.uk/digitalholocaustmemory/files/2023/01/Social-Media-Guidelines.pdf.
Walden, Victoria Grace/Marrison, Kate, et al.: Recommendations for Virtualising Holocaust Memoryscapes, Sussex: REFRAME 2024a, URL: https://reframe.sussex.ac.uk/digitalholocaustmemory/files/2024/07/Virtualising-Memoryscapes-Guidelines-Digital-Holocaust-Memory-Project-1.pdf.
Walden, Victoria Grace/Marrison, Kate, et al.: Recommendations for Creating Computer Games for Holocaust Memory and Education, Sussex: REFRAME 2024b, URL: https://reframe.sussex.ac.uk/digitalholocaustmemory/files/2024/07/Games-Guidelines-Digital-Holocaust-Memory-Project-2.pdf.
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- 30 Okt 2024 - 07:51