Praktische Perspektiven von Digital Holocaust Memory – Potenziale und Realisierungsmöglichkeiten aus dem Projekt SPUR.lab
Von Bettina Loppe und Swantje Bahnsen
Die technischen Möglichkeiten von Augmented und Virtual Reality, virtuelle Welten entstehen zu lassen oder die reale Welt durch virtuelle Elemente zu erweitern, haben auf den ersten Blick ein besonderes Potenzial, wenn es um die Vergegenwärtigung von Vergangenem geht. Ein nicht mehr existentes Gebäude kann virtuell sichtbar gemacht werden. Eine ganze vergangene Epoche kann als virtuelle Umgebung auferstehen.
Denken wir uns diese technischen Möglichkeiten nun in Bezug auf die NS-Zeit, so wird schnell klar, dass damit Fragen der Ethik berührt werden. Rein technisch ist es möglich, Nutzende in die Rolle eines KZ-Häftlings schlüpfen zu lassen oder ganze Lager virtuell zu rekonstruieren. Doch stellt sich hier die Frage nach dem Mehrwert dieser virtuellen Erfahrung, die die Würde der realen Opfer untergraben könnte.
Was also dürfen und sollten wir digital zeigen und erzählen, wenn es um Leid, Krieg und Massenmord geht? Wie kann man an historischen Tatorten, unter Zuhilfenahme des digitalen und virtuellen Raumes, Geschichte darstellen und vermitteln? Wie gehen wir mit dem Spannungsfeld zwischen technologischen Möglichkeiten und ethischen Grenzen um? Und welchen Beitrag können digitale Technologien dennoch für die Vermittlung von NS-Geschichte in Museen und Gedenkstätten leisten?
Diesen Fragen hat sich das SPUR.lab (2020–2024) in einer Forschungspartnerschaft mit dem Brandenburg Museum in Potsdam, den beiden KZ-Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen sowie der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF gewidmet. In diesem Projekt sollte am Beispiel von Brandenburg ausgelotet und erforscht werden, ob und wie NS-Geschichte im digitalen und virtuellen Raum erzählt werden kann und wie digitale Narrative gestaltet werden können.
Digitale Arbeitsweisen
Zwei Besonderheiten in der Konzeption des SPUR.lab sollten vorab kurz erwähnt werden:
Das Projekt war durch die beteiligten Institutionen und durch die Zusammenarbeit mit Expert*innen aus den Bereichen (Medien-)Kunst, Wissenschaft und Technologie als interdisziplinärer Experimentierraum gedacht. Unterstützt wurde dies durch den Fond Digital der Kulturstiftung des Bundes, in dem dezidiert ergebnisoffen konzipierte Projekte vorgesehen waren. Das Potenzial digitaler Technologien für den Einsatz in Museen und Gedenkstätten zum Thema Nationalsozialismus in Brandenburg sollte in einem transparenten Prozess ausgelotet und ausprobiert, gleichzeitig auch erforscht werden. Dabei wurde mit Prototypen gearbeitet, die verändert, angepasst oder verworfen werden konnten, anstatt einem strikten Plan für eine konkrete Anwendung zu folgen. Um diesen Prozess transparent zu gestalten, waren Mitarbeitende aller beteiligten Institutionen und andere Expert*innen beteiligt. Darüber hinaus wurden die Ideen bereits in einem sehr frühen Stadium der Öffentlichkeit präsentiert und mit Fokusgruppen getestet.
Schlussendlich entstanden im SPUR.lab in Zusammenarbeit mit den (Medien-)Künstler*innen Kaya Behkalam, Arnold Dreyblatt und dem Duo Katja Pratschke und Gusztáv Hámos vier prototypische Anwendungen im Bereich Augmented und Virtual Reality. Diese Prototypen nähern sich der NS-Zeit auf sehr unterschiedliche Weise. Aus den Erfahrungen mit ihnen lassen sich einige Empfehlungen ableiten, die wir in der vierjährigen Projektlaufzeit entwickeln konnten. Beispielhaft werden im Folgenden BLACK BOX und ZEITSCHICHTEN vorgestellt. Beide Prototypen rekonstruieren und visualisierenDagewesenes digital.
ZEITSCHICHTEN – am historischen Ort virtuelle Räume betreten
Menschen besuchen KZ-Gedenkstätten, um sich der Vergangenheit anzunähern und sich diese vorstellen zu können. Vor Ort sehen sie sich häufig mit einer unkommentierten Leere des Geländes konfrontiert. Oftmals helfen nur wenige historische Anhaltspunkte beim Verständnis des historischen Ortes – die Gestaltung der Gelände bricht mit der Annahme, ein in der Zeit konserviertes Konzentrationslager vorzufinden. Es liegen Jahrzehnte und vor allem unterschiedlichste Umnutzungen des Geländes zwischen dem damaligen Lager und dem Jetzt.
Bild Screenshot aus der Anwendung Zeitschichten. © BKG
ZEITSCHICHTEN zeigt in einem Zusammenspiel von historischem Ort und virtuellem Raum die komplexe Geschichte einer KZ-Gedenkstätte. Sie wurde für die Gedenkstätte des ehemaligen KZ Sachsenhausen entwickelt, lässt sich aber für andere Lager umarbeiten. Orientiert an den Bedarfen der Besuchenden und den Vermittlungszielen der Gedenkstätte, wird der Zustand des Lagers in den Jahren 1936–1945 dargestellt. Zeichnerisch und überblickshaft legt sich eine Augmented Reality-Schicht über das Gedenkstättengelände, verschwindet wieder und lässt so den historischen Ort neu und entschlüsselt wirken. Mit Hilfe eines Tablets sind auf dem Gelände virtuelle Zeitportale zu sehen, die von den Nutzenden durchschritten werden. Jedes Portal zeigt das ehemalige Lager in einem Jahr zwischen 1936 und 1945. Als animierte Skizze entstehen die ehemaligen Baracken und andere damalige Gebäude. Die Visualisierungen in der Anwendung sind angelehnt an Zeichnungen/Graphic Novels, da es sich nicht um eine detailgenaue virtuelle Rekonstruktion des ehemaligen Lagers handeln soll. Vielmehr soll ein Eindruck von Nutzung und Raumgestaltung des Geländes in verschiedenen historischen Phasen entstehen, vom baulichen Ausmaß. Grundlage für die Visualisierung sind historische Fotos des Lagergeländes zu unterschiedlichen Zeiten und weitere baugeschichtliche Quellen. In der Anwendung sind sowohl Propagandafotos am Ort ihres Entstehens zu sehen, als auch Zeichnungen von Häftlingen, die einen inhaltlichen Kontrapunkt bilden. Akustisch wird das jeweilige Jahr mit Informationen zur Entwicklung des Lagers und der damaligen Lebensbedingungen ergänzt. Durch die animierte Skizze der damaligen Gebäude, die eingeblendeten historischen Quellen und das informative Audio entsteht bei der Nutzung der Anwendung vor Ort eine dichte zusätzliche Informationsebene. Die Anwendung wird als Augmented Reality auf dem Tablet verwendet und ist site-specific, das heißt, sie ergänzt das historische Gelände.
BLACK BOX – eine Virtual Reality-Anwendung zum KZ Oranienburg
Während die Gedenkstätte Sachsenhausen heute noch Fragmente des ehemaligen Konzentrationslagers zeigt, gibt es viele Orte des NS-Terrors, die heute gar nicht mehr erhalten sind. Dies ist der Fall beim KZ Oranienburg, ein frühes Lager, das – noch vor dem KZ Sachsenhausen – auf dem Gelände einer ehemaligen Brauerei von den Nationalsozialisten errichtet wurde. Bei solchen heute gänzlich verschwundenen oder überbauten Orten bietet sich eine digitale Rekonstruktion in Form einer Virtual Reality-Umgebung besonders an.
So wurde auch das KZ Oranienburg, basierend auf historischen Fotos und Bauplänen, digital rekonstruiert. Auch hier blieb die grafische Gestaltung abstrakt und schemenhaft. Entlang eines Zeitzeugenberichtes von Gerhart Seger, der 1933 verhaftet und ins KZ Oranienburg verbracht wurde, erschließen sich die Nutzenden in der VR-Experience das Gelände des Lagers. Ihre Position ist erkundend, nicht nacherlebend. Jeder Raum oder Bereich über den Seger spricht, wird durch eine Zeichnung konkretisiert. Ein Raum, der als BLACK BOX zu sehen ist, kann jedoch nicht betreten werden. Es ist der Verhörraum, wo die Häftlinge Folter und Gewalt ausgesetzt waren. Hier wurde von dem Künstler-Duo bewusst eine Grenze gezogen und die dort ausgeübte Gewalt als etwas nicht Darstellbares thematisiert. Genau wie beim Prototyp ZEITSCHICHTEN gibt es keine Gewaltdarstellungen und die Propagandafotos zeigen das Lager und die Häftlinge in unrealistisch gutem Zustand. Deshalb ermöglicht die Anwendung, die Fotos mit der virtuellen Hand umzudrehen und so etwas über ihre Herkunft zu erfahren.
Bild: Screenshot aus der Anwendung BLACK BOX. © BKG
Empfehlungen: Lessons Learned
Auch wenn die vorgestellten Prototypen, die im SPUR.lab erdacht und entwickelt wurden, sich der Erinnerungslandschaft Brandenburgs auf sehr unterschiedliche Weise annähern, lassen sich im Entstehungsprozess und der Ausrichtung einige Gemeinsamkeiten ausmachen. Diese wollen wir an dieser Stelle als Empfehlungen formulieren und hoffen, dass diese auch in kommenden digitalen Projekten zur NS-Zeit unterstützen können.
- Historische Quellen als Datenbasis: In jeden der Prototypen floss eine intensive Auseinandersetzung mit dem historischen Ort und mit den dort vorhandenen Quellen ein (Zeitzeug*innenberichten, Fotos, Zeichnungen, Objekte, Baupläne, Videomaterial). Es wurde bewusst darauf verzichtet, fiktive Geschichten oder Biografien zu erzählen, um den realen Schicksalen Raum zu geben. Im besonderen Maße wurde dabei auf die Würde der Opfer geachtet, indem sie nicht virtuell als Avatare (re-)konstruiert wurden; ihre Geschichten können etwa mithilfe der historischen Quelle erschlossen werden.
- Orte als Ausgangspunkt: Da wir bei der Entwicklung der Anwendungen immer vom jeweiligen Ort ausgingen, konnten wir passgenaue Ideen für Museen und Gedenkstätten entwickeln. Der Ausgangspunkt waren konkrete Themen und Bedarfe, nicht die technischen Möglichkeiten. Hierbei wurde über einen längeren Zeitraum behutsam am Ort entlang entwickelt. Dadurch zeigte sich, dass der Modus eines Games keine Option war für die Navigation in den Prototypen. Es wurde eher auf ein eigenständiges Entdecken und Erkunden der virtuellen Welt und der virtuellen Elemente in der realen Welt gesetzt.
- Digitale Rekonstruktion: Bei der digitalen Rekonstruktion von Gebäuden oder dem historischen Gelände wurde explizit von einer abbildgetreuen Rekonstruktion abgesehen. Die Rekonstruktionen bleiben skizzenhaft und angedeutet, um den Eindruck einer falschen Historizität zu vermeiden. Damit soll Geschichte als prozesshaft vermittelt werden. Es gab nicht „das Lager“, denn Orte wurden oft temporär als Konzentrationslager genutzt, wie etwa das KZ Oranienburg. Andere Lager wurden ständig ausgebaut und nach dem Zweiten Weltkrieg umgenutzt, wie es beim KZ Sachsenhausen der Fall war.
- Perspektiven: Keiner der Prototypen bringt die Nutzenden in eine Opfer- oder Täterperspektive. Vielmehr wird der eigene Zugang zur Geschichte gestärkt. Ebenfalls wurde davon abgesehen, Opfer oder Täter*innen virtuell auferstehen zu lassen. Auch gibt es keinerlei Gewaltdarstellungen. Digitalen Medien wird ein höheres Maß von Immersion zugeschrieben. Folgen wir der Annahme, dass die Nutzung einer VR- Brille, mit der ich mich durch eine virtuelle Welt bewege, mich stärker involviert als das Lesen eines Buches, so liegt nahe, dass bei den Inhalten, die virtuell erlebbar gemacht werden, Vorsicht geboten ist. Hier wurde deshalb nicht die Quellenart gewechselt. Ein Zeitzeug*innenbericht wird im Prototyp BLACK BOX vorgelesen, es gibt aber keine Visualisierung der beschriebenen Gewalt. Es werden NS-Propagandafotos gezeigt, aber diese sind als historische Quelle kenntlich, sie werden auch weder animiert noch zu einer virtuellen Welt verdichtet. Das historische Zeugnis wurde im Entwicklungsprozess ernstgenommen und nicht in eine fiktive Narration verquickt.
- Freiwilligkeit und selbstbestimmte Nutzung: Die Prototypen stellen eine Erweiterung des bestehenden Medienensembles dar und bieten eine Lesart der NS-Zeit in Brandenburg an. Ihre Nutzung erfolgt ausschließlich freiwillig und kann jederzeit abgebrochen werden. Vor allem die Tests der Prototypen mit Fokusgruppen lieferten wichtige Impulse für die (Weiter-)Entwicklung. So stellten sich Vorannahmen, vor allem über die Medienaffinität junger Nutzender, als falsch heraus. In den Gruppen der unter 20-Jährigen hatte beispielsweise bisher kaum jemand eine VR-Brille aufgehabt. Gerade bei einer virtuellen Rekonstruktion eines ehemaligen KZ gab es daher Berührungsängste und auch einige Nutzende, die den Prototyp nicht testen wollten. Auf Gewaltdarstellungen zu verzichten, bedeutet also auch, die Nutzenden ernst zu nehmen und auf ihre Ängste rund um das Thema NS-Zeit einzugehen.
- Historische Bezüge: Die Prototypen wurden als möglicher Zugang zum Thema NS-Zeit in Brandenburg entwickelt und nicht als eine umfassende Darstellung. In den Prozess des Prototypings flossen erprobte Grundsätze der historisch-politischen Bildungsarbeit ein. Schnell wurde klar, dass sich Grundsätze der analogen Bildungsarbeit, wie der Beutelsbacher Konsens, ins Digitale übertragen lassen. Im virtuellen Raum sollte nur vermittelt werden, was auch sonst in der pädagogischen Arbeit vertreten und praktiziert wird. Die digitalen Prototypen sind eine Einladung, sich mit dem Thema zu befassen, sollen aber in keiner Weise Empathie erzwingen. Deshalb wurde vom Einsatz von schockierenden Fotos und Filmaufnahmen aus den Lagern abgesehen.
Die SPUR.lab-Prototypen wurden zu einem historisch sensiblen Thema entwickelt, bei dem ethische und ästhetische Fragen zentral sind. Das Projektdesign von SPUR.lab ermöglichte ein behutsames Entwickeln: Die Bedarfe und Anforderungen, die von Museum oder Gedenkstätte benannt wurden, flossen mit dem Wissen um die technischen Möglichkeiten der Agentur zusammen. Dabei entstand ein intensiver co-kreativer Prozess mit vielen Feedbackschleifen. Hier begegneten sich Fragen der Ethik in augmentierten und immersiven digitalen Anwendungen mit künstlerischer Forschung. Ästhetische und kuratorische Konzepte forderten bestehende Haltungen in Fragen der Vermittlung heraus. Die Auseinandersetzung mit Formen des Erinnerns stand im Vordergrund und nicht der Anspruch, Geschichte möglichst authentisch abzubilden.
Gerade bei immersiven Technologien gilt es, eine kritische Distanz zum historischen Geschehen zu ermöglichen. Es geht nicht um ein Erleben, was damals war, sondern um ein Verstehen, was damals passiert ist. Die Prototypen sind für den Einsatz in Gedenkstätten konzipiert, die historische Tatorte und auch Friedhöfe sind, befassen sich also mit belastenden Themen. Dies sollte sich in Formen des respektvollen Umgangs mit dem Thema und in einer würdevollen Visualisierung zeigen. Gerade die User-Tests haben uns in dieser Ausrichtung bestärkt.
Ausgesprochen positiv war die mit vier Jahren ungewöhnlich lange Laufzeit des Projektes. Dadurch konnte ein vertieftes Verständnis der historischen Orte und ihrer (Vermittlungs-) Bedarfe entstehen. Auch die Ausrichtung, prozesshaft und transparent zu arbeiten, hat die Ergebnisse maßgeblich beeinflusst. Hätten wir nochmal die Chance, ein ähnliches Projekt zu realisieren, würden wir potenzielle Nutzende noch früher und in stärkerem Ausmaß einbinden, sowohl in der Phase der Ideenentwicklung als auch in User-Tests.
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- 30 Okt 2024 - 07:51