Arne Jost ist pädagogischer Mitarbeiter für die Bereiche Digitales Museum und Social Media in der Gedenkstätte Hadamar.

von Arne Jost

 

Verbrechen und Gedenken 

Zwischen 1940 und 1941 wurden über 70.000 Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen und Behinderungen im Rahmen der NS-„Euthanasie“ in den sechs Tötungsanstalten der „Aktion T4“ ermordet. Gemäß der nationalsozialistischen Ideologie galten diese Menschen als „lebensunwert“. Zur Erinnerung an die Opfer der NS-„Euthanasie“ und daran, was ihnen widerfuhr, sind diese Tötungsanstalten heute institutionalisierte Gedenkstätten. Während die in Bernburg und Hadamar Ende der 1980er, bzw. Anfang der 1990er Jahre gegründet wurden, erfolgte die Errichtung der Gedenkstätten in Pirna-Sonnenstein, Grafeneck und des Lern- und Gedenkorts Schloss Hartheim erst in den frühen 2000er Jahren. Die Gedenkstätte in Brandenburg an der Havel eröffnete 2012. Im Vergleich zu KZ-Gedenkstätten entwickelte sich das institutionalisierte Gedenken an die Ermordeten der NS-„Euthanasie“ also vergleichsweise spät – eine Entwicklung, die nicht überrascht, da diese Verfolgtengruppe lange Zeit vergessen und ignoriert wurden. 

Screenshot der Website der Gedenkstätte Hadamar. © Gedenkstätte Hadamar

Als 1991 die Gedenkstätte Hadamar als zweite „T4“-Gedenkstätte eröffnet wurde, präsentierte sich im selben Jahr das World Wide Web der Öffentlichkeit. Dies markiert den Beginn einer rasanten Entwicklung der digitalen Informationstechnik, die parallel zur Etablierung der Gedenkstätten an den Orten der „Aktion T4“ voranschritt. Inwieweit wurde in dieser Phase massiver informationstechnischer Veränderungen die digitale Gedenkstättenarbeit von den Mitarbeiter*innen mitgedacht? Hat diese Entwicklung dazu geführt, dass Digitalität an diesen Orten ebenso selbstverständlich und allgegenwärtig wurde wie gesamtgesellschaftlich? 

T4-Gedenkstätten und Social Media

Social Media ist zu einem alltäglichen Kommunikationskanal geworden. Die Social-Media-Kanäle der „T4“-Gedenkstätten bieten daher wertvolle Einblicke in ihre Aktivität und Sichtbarkeit im digitalen Raum.  Mit Ausnahme der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, deren Social-Media-Aktivitäten von der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zentral koordiniert werden, betreiben alle anderen eigene Social-Media-Kanäle. Facebook und Instagram werden von fast allen „T4“-Gedenkstätten genutzt, wobei TikTok von keiner der Einrichtungen bespielt wird. Brandenburg, Bernburg und Hartheim haben ihre Facebook-Präsenzen bereits zwischen 2012 und 2015 etabliert, was auf ein frühes Realisieren der Notwendigkeit digitaler Kommunikation hinweist. Hadamar hingegen ist hier erst 2020 während der Corona-Pandemie aktiv geworden. 

Eine gewisse Sonderrolle übernimmt YouTube als Plattform. Die Produktion von Videos in angemessener Qualität ist besonders aufwändig und wurde deshalb lange Zeit gescheut. Die Corona-Pandemie fungierte jedoch als Katalysator: Im Jahr 2020 und 2021 eröffneten vier der sechs NS-„Euthanasie“-Gedenkstätten eigene YouTube-Kanäle. Hartheim, Brandenburg und Hadamar boten Livestreams oder Aufzeichnungen von Veranstaltungen an. Solche Livestreams erlangten während der Pandemie große Bedeutung und prägten die „pandemische Gegenwart der Jahre 2020/21“ (vgl. Bunnenberg et al. 2021). Allerdings blieb die Reaktion der „T4“-Gedenkstätten auf die pandemische Realität begrenzt: Grafeneck beschränkte sich auf kurze Erklärvideos, die bereits vor der Pandemie populär waren; Bernburg und Pirna-Sonnenstein eröffneten keine YouTube-Kanäle. 

Grafeneck, Hartheim und Hadamar konnten ihre Kanäle auch nach der Pandemie zumindest eingeschränkt weiter bespielen. Das ist insofern bemerkenswert, als die regelmäßige Veröffentlichung von Videos auf YouTube ein hohes Maß an personellen Ressourcen bindet. Durch die Schließungen der Gedenkstätten während der Pandemie waren diese verfügbar; danach häufig nicht mehr. Seither stehen insbesondere kleinere Gedenkstätten vor der gleichen Herausforderung: Eine sinnvolle, planvolle und nachhaltige Social-Media-Präsenz erfordert hohen Aufwand, die personellen bzw. zeitlichen Ressourcen dafür existieren weiterhin nicht oder kaum. Daher ist es nicht überraschend, dass keine der Gedenkstätten an den Orten der ehemaligen Tötungsanstalten der „Aktion T4“ mehrere Social-Media-Kanäle gleichzeitig in vollem Umfang betreibt.

Digitale Projekte abseits von Social Media

Im Gegensatz zu Social-Media-Präsenzen, die dauerhaft Ressourcen binden, können einzelne digitale Projekte häufig leichter im Arbeitsalltag umgesetzt werden. Auch an den „T4“-Gedenkstätten werden zahlreiche interessante Projekte entwickelt, die deren digitale Präsenz erweitern. So konnte die Gedenkstätte Hadamar, maßgeblich umgesetzt durch eine Volontärin, im Jahr 2023 eine digitale Ausstellung eröffnen: „‚Mutti, nimm mich mit nach Haus.‘ – ‚Jüdische Mischlingskinder‘ in der Tötungsanstalt Hadamar 1943–1945“ erzählt die Geschichte einer kaum beachteten Verfolgtengruppe und ist ortsunabhängig nutzbar. 

Screenshot „Mutti, nimm mich mit nach Haus“. © Gedenkstätte Hadamar 

Die Gedenkstätte Bernburg beteiligt sich seit 2023 am EU-geförderten Projekt Memorise, in dessen Rahmen ein 3D-Modell der historischen Räume erstellt wurde. Aktuell werden Möglichkeiten erörtert, wie das Team basierend auf diesem Modell digitale Bildungsangebote entwickeln kann und wie das Modell analog in der Gedenkstätte genutzt werden kann.

Auch die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein nutzt digitale Angebote, um den Ort zu erschließen. Ein Teil des Areals ist aufgrund verschiedener Eigentums- und Nutzungsverhältnissen nicht Teil der Gedenkstätte, gehörte aber zur historischen Tötungsanstalt. Ein Audioguide in Form einer App erschließt nun erstmals dieses Areal für Besucher*innen und wird in die Gedenkstättenarbeit vor Ort integriert. Dass dieser Mediaguide zukünftig auch in Deutscher Gebärdensprache zur Verfügung stehen wird, zeigt das Augenmerk auf Barrierefreiheit der „T4“-Gedenkstätten bei ihren digitalen Angeboten. Angesichts der historischen Thematik ein nicht überraschender Schwerpunkt.

Mediaguide der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein. © Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein

So hat die Gedenkstätte Brandenburg mit der Website „Geschichte inklusiv“ eine bedeutende Lücke in der Vermittlung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ geschlossen: Menschen mit Lernschwierigkeiten, die oft von den regulären Angeboten der Gedenkstätten ausgeschlossen sind, können sich hier mit den Verbrechen auseinandersetzen. Vorlesefunktionen, Leichte Sprache, eine klare Navigation und vieles mehr erleichtern den Zugang.

Auch die Gedenkstätte Grafeneck bietet vor Ort einen Audioguide in Leichter Sprache an, um die Zugänglichkeit der Ausstellung durch digitale Ergänzungen zu erhöhen. In Hartheim können die Besucher*innen über eine App verschiedene Sprachniveaus wählen, sich die Texte vorlesen lassen oder in Deutsche Gebärdensprache übersetzt anschauen. 

Audioguide in Leichter Sprache an der Gedenkstätte Grafeneck. © Gedenkstätte Grafeneck 

Im Jahr 2021 konnte die Gedenkstätte Hadamar ihre Website vollständig überarbeiten. Sie dient nun als Informations- und Bildungsplattform und ermöglicht eine umfassende Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes sowie den Angeboten der Gedenkstätte. Die Gedenkstätte hat sich bewusst dafür entschieden, einen großen Teil der Inhalte in Leichte Sprache zu übersetzen, anstatt nur die gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen. 

Aussicht und Herausforderungen

Das Bedürfnis, die digitalen Angebote weiter auszubauen, ist in den Gedenkstätten groß. Die Umsetzung scheitert jedoch häufig an einem Mangel an Personal und an fehlender technischer Ausstattung: In Bernburg wurde erst kürzlich eine schnellere Internetverbindung installiert, die die Basis für viele digitale Angebote bildet, Hartheim fehlt die Technik für hochwertige Livestreams. Abgesehen von Hadamar verfügt keine der Gedenkstätten über eine speziell eingerichtete Stelle, die sich mit digitaler Gedenkstättenarbeit befasst; diese Aufgaben werden im Rahmen des laufenden Betriebs nebenbei erledigt.

Ist digitale Gedenkarbeit an den Orten der Verbrechen der „Aktion T4“ über 30 Jahre nach der Einführung des WWW selbstverständlich und allgegenwärtig? Zumindest das Bewusstsein für die Notwendigkeit und der Wunsch nach digitaler Gedenkarbeit sind zur Selbstverständlichkeit geworden. Deren Umsetzung hingegen wird vor allem durch strukturelle Herausforderungen sowie durch finanzielle und personelle Engpässe eingeschränkt. 

Literatur

Bunnenberg, Christian/Logge, Thorsten/Steffen, Nils:  SocialMediaHistory – Geschichtemachen in Sozialen Medien, in: Historische Anthropologie, Jg. 29 (2021), H.2, S. 267–283.

Schoder, Angelika: Social Media in Gedenkstätten: Probleme und Chancen, URL: https://musermeku.org/social-media-in-gedenkstaetten/ [1.10.2024].

 

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