Sebastian Barsch ist Professor für die Didaktik der Geschichte an der Universität zu Köln. Er war zuvor in gleicher Position an der Universität Kiel tätig und ist ausgebildeter Förderschullehrer. Seine Forschungsschwerpunkte sind neben der Professionsforschung das inklusive historische Lernen.

von Sebastian Barsch

Teilhabe

Im Jahr 1976 wurden Schüler*innen der 9. Klasse mehrerer Dortmunder Sonderschulen für Lernbehinderte im Rahmen einer Studie gefragt, warum man sich überhaupt mit Geschichte befassen sollte. Ein Ergebnis stach besonders hervor: „Den meisten der geäußerten Vorstellungen liegt, […] mehr oder weniger deutlich artikuliert, das Bedürfnis zugrunde, nach der Schulentlassung nicht sozial auffällig zu werden, d.h. als ehemaliger Sonderschüler aufzufallen“ (Henkemeier 1986: 368).

Sich Kenntnisse über Geschichte anzueignen schien für diese Gruppe also zumindest ein Weg zu sein, ihr Stigma als „Sonderschüler*innen“ etwas abzuschwächen. Seitdem sind mehr als 40 Jahre vergangen. Ob eine solche Studie heute noch zu ähnlichen Ergebnissen kommen würde, ist unklar. Klar ist aber, dass die Teilhabe an Geschichtskultur heute als ein emanzipatorisches und demokratisches Potenzial betrachtet wird. Aber: Wird wirklich allen Schüler*innen in der Schule ein Zugang zu Geschichte und Geschichtskultur ermöglicht? Und können Geschichtswettbewerbe, konkret der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, wirklich dazu beitragen, dass sich auch marginalisierte Gruppen an Geschichtskultur beteiligen? Können sie das geschichtskulturelle Kapital aller Schüler*innen fördern?

Bislang überwiegen bei Geschichtswettbewerben Beiträge von Schüler*innen an Gymnasien. Unklar ist, warum dies so ist. Vielleicht können als ein Grund auch die Themenvorgaben der bisherigen Wettbewerbe identifiziert werden, wie es der Bericht einer Tutorin, die eine Gruppe von Förderschüler*innen betreut hatte, nahelegt: „Viele der Themenstellungen aus den vergangenen Jahren waren zu komplex und zu wenig greifbar für meine Schülerklientel. Dies war beim Thema des diesjährigen Wettbewerbs anders, da das Wohnen für die Jugendlichen etwas sehr Greifbares ist und sie hierzu eigene Erfahrungen, Vorstellungen und Emotionen haben“.

Um mehr Teilhabe zu erreichen, ermöglichen die Themen also idealerweise das, was in der Geschichtsdidaktik als „Lebensweltbezug“ bezeichnet wird: Sie eröffnen den Lernenden einen Horizont, die eigenen Erfahrungen in Forschung zu überführen. Die Tutorin berichtet: „Einer der Schüler, der selbst in einer Wohngruppe bei antonius [einer Wohneinrichtung für Menschen mit Behinderungen, Anm. d. Verf.] lebt, schlug dann vor, dass man sich ja das Wohnen bei antonius genauer anschauen könnte, schließlich gehöre die Schule ja zum Netzwerk antonius und damit habe das Wohnen von antonius etwas mit dem Schulort zu tun. Die anderen Jugendlichen waren schnell von dieser Idee begeistert und damit war die Grundidee des Projektbeitrages geboren“.

Was hier beschrieben wird, erscheint als idealtypischer Ansatz für ein Projekt: intrinsische Motivation, die Teilnehmenden arbeiten zusammen in Gruppen und nutzen – wie der Bericht zeigt – die unterschiedliche Expertise der Einzelnen. Ein persönlicher Bezug zur regionalen Geschichte wird als bedeutsam erachtet und in diesem Fall ermöglicht die Konstellation sogar ein Hierarchien-übergreifendes Lernen, wie die Tutorin in einer Lokalzeitung erzählt: „Auch ich als Lehrkraft habe viel gelernt, etwa mich mehr zurückzunehmen und Zutrauen in das Potenzial der Jugendlichen zu haben“ (Fuldaer Zeitung, 15.5.2023). Das Beispiel zeigt, dass auch Schüler*innen, denen eine Behinderung attestiert wird, über die Teilnahme am Geschichtswettbewerb an Geschichtskultur teilhaben können. Leben wir also schon in einer inklusiven Geschichtskultur?

(Inklusive) Geschichtskultur

Die Geschichtskultur ist für die Geschichtsdidaktik ein zentrales Forschungsfeld und bezeichnet die Art und Weise, wie eine Gesellschaft ihre Vergangenheit wahrnimmt, interpretiert und vermittelt. Sie umfasst historische Erzählungen, Gedenkstätten, Bräuche und kulturelle Praktiken, wozu auch der Geschichtsunterricht zählt. Für den Geschichtsdidaktiker Ulrich Baumgärtner steht die Geschichtskultur „in enger Beziehung zur Lebenspraxis (‚kulturelle Praktiken‘) […] und [meint] jede Form des öffentlichen und privaten Umgangs mit der Vergangenheit“. Geschichtskultur sei „für Selbstverständigungsprozesse einer Gemeinschaft von elementarer Bedeutung“; zudem gebe es bei ihr kein „richtig“ oder „falsch“, sie sei zunächst einfach da (Baumgärtner 2019: 40f.). Insofern kann potenziell jede Person Geschichtskultur mitgestalten, unabhängig von persönlichen Eigenschaften, Fähigkeiten oder Identitäten (Körber 2020: 251).

Gesellschaften sind aber auch stets von der Aushandlung von Machtansprüchen geprägt, so dass trotz dieses Ideals die Teilhabe an Geschichtskultur nicht per se garantiert ist. Dies bedeutet, so der Geschichtsdidaktiker Andreas Körber, dass in Gesellschaften, in denen Inklusion noch Maßnahmencharakter besitzt, also de facto noch nicht erreicht ist, „nicht-exkludierte Mitglieder der Gesellschaft ihrerseits lernen müssen, die Charakteristika und Perspektiven der ‚neu‘ Inkludierten wahr- und ernst zu nehmen sowie Anschluss zu ihnen zu entwickeln“ (Körber 2020: 254). Eine inklusive Geschichtskultur wird also nicht von selbst entstehen, sondern sie muss aktiv erarbeitet werden.

Für historisches Lernen an Schulen ist Geschichtskultur doppelt relevant: Einerseits ist sie ein Gegenstand, den es zu untersuchen gilt (Lücke 2023). Andererseits verbindet sich mit der Hinwendung zur Geschichtskultur aber auch die Hoffnung, dass die Schule die Heranwachsenden zur aktiven Teilhabe an Geschichtskultur befähigt – was freilich schwer überprüfbar ist, da diese Teilhabe vielleicht außerschulisch und vielleicht auch erst nach Beendigung der Schulzeit realisiert wird. Der Geschichtsunterricht hat also nicht nur propädeutische Funktion, die auf ein potenzielles späteres Studium der Schüler*innen hinführt. Sondern er ist auch Teil einer umfassenden Bemühung um Bildung, die Menschen lebenslang begleitet und ihnen eben diese Teilhabe ermöglichen soll.

Forschend-entdeckendes Lernen wird als eine Möglichkeit betrachtet, diese Teilhabe zumindest auf methodischer und motivationaler Ebene in der Schulzeit „einzuüben“. Dieser auch für den Geschichtswettbewerb zentrale methodische Ansatz beinhaltet auch eine normative Ebene, wie die Geschichtsdidaktikerin Heike Wolter schreibt: „Hinter dem gesellschaftlichen Auftrag forschend-entdeckenden Lernens verbirgt sich der Wunsch nach Erziehung zu demokratisch-freiheitlichen Grundwerten“ (Wolter 2018: 44). Auch würden Lernende ermutigt, Fragen an die Geschichte zu stellen, die individuell oder gesellschaftlich bedeutsam seien. Schüler*innen würden im selbstständigen, kritischen und reflektierenden Umgang mit historischen Quellen und Darstellungen gefördert. Zudem ermögliche forschend-entdeckendes Lernen selbstverantwortliches Lernen, das ein wichtiger Bestandteil eines selbstverantwortlichen Lebens sei (vgl. Wolter 2018: 45).

Eine interessante Frage ist, wie oft forschend-entdeckendes Lernen tatsächlich im Geschichtsunterricht an Schulen durchgeführt wird. Es ist wenig darüber bekannt, welchen Stellenwert diese Unterrichtsmethode hat. Vermutet werden könnte, dass forschendes Lernen vor allem im Kontext von Projektwochen oder in besonderen Lernszenarien wie der Arbeit am Geschichtswettbewerb angewandt wird. Lukas Greven macht in seiner geschichtsdidaktischen Dissertation darauf aufmerksam, dass im realen System Schule dieser zwar wissenschaftlich gut begründbare, aber hohe Anspruch auch deswegen nicht umstandslos umgesetzt werden könne, da der institutionalisierte Geschichtsunterricht auch ohne intrinsische Motivation einen (Teil)Kompetenzaufbau befördern müsse (Greven 2020: 32). Aber wie Saskia Handro schreibt, können Geschichtswettbewerbe vielleicht doch „vielfältige Impulse für die schulische Lernkultur und den Geschichtsunterricht“ aufzeigen und somit das Prinzip forschenden Lernens stückweise in den Unterrichtsalltag integrieren. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass sich hier die „partizipative Ressource regionaler Geschichtskultur“ zeigt, welche die „Partizipation durch Laienforscher[n]“ an der Geschichtskultur stiften kann (Handro 2019: 296).

Empirische Befunde

Teilhabe an Geschichtskultur lässt sich nicht unmittelbar messen. Dies gilt auch für den Geschichtswettbewerb, der meist nur für kurze Zeit im System Schule präsent ist. Dennoch ist es aus geschichtsdidaktischer Perspektive spannend zu fragen, welchen Einfluss forschend-entdeckendes Lernen auf die historischen Kompetenzen von Schüler*innen hat, die am Geschichtswettbewerb teilnehmen. Oder noch grundlegender: welche historischen Kompetenzen sich in den Beiträgen der Schüler*innen identifizieren lassen. Die wenigen empirischen Untersuchungen, die explizit Teilnehmer*innen der Geschichtswettbewerbe in den Blick nehmen und von denen hier zwei näher vorgestellt werden, kommen zu ambivalenten Ergebnissen. Betont werden muss dabei, dass bei diesen Forschungen vor allem auf das Schulfach Geschichte bezogene Kriterien wie Quellenkritik und Urteilskompetenz im Mittelpunkt standen, mithin also Kriterien schulischer Leistungsbeurteilung.

Christopher Wosnitza und Johannes Meyer-Hamme (2019) untersuchen aus geschichtsdidaktischer Perspektive 1.100 Essays von Schüler*innen, die diese als Wettbewerbsbeiträge eingereicht haben. Sie stellen fest, dass fast alle persönliche Bezüge beinhalten und sich ein historisches Orientierungsbedürfnis aus ihnen herauslesen lässt. Das Niveau der historischen Methodenkompetenz sei jedoch eher gering ausgeprägt gewesen, insofern die Entscheidung für eine bestimmte Konstruktion in den Beiträgen kaum reflektiert oder erklärt wurde. Damit ist etwa gemeint, dass die Schüler*innen die Darstellung und Interpretation ihrer Quellen oder die Herleitung ihrer Argumente selten begründeten. Eine tiefgehende Auseinandersetzung damit, warum bestimmte Informationen als relevant erachtet und andere eher weggelassen wurden, war in den Essays oft nicht zu finden.

Zu ähnlichen Befunden kommt auch Greven, der vor allem Kompetenzen von Wettbewerbsteilnehmer*innen im Zusammenhang mit Zeitzeug*innenbefragungen untersucht – eine Methode, die programmatisch eng mit dem Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten verbunden ist (Körber Stiftung 1975: 3). Greven zeigt, dass Schüler*innen oft unkritisch die Aussagen der von ihnen befragten Personen übernehmen und somit der forschende Zugang zu problematischen Einsichten führen kann (Greven 2022). Dies ist kein neues Ergebnis, sollte aber dennoch von Tutor*innen ernst genommen werden, damit sie die Lernenden bei der kritischen Interpretation stärker unterstützen. In einem Vergleich von Arbeiten aus den Jahren 1975 und 2013 stellt Greven zudem heraus, dass neuere geschichtsdidaktische Ansätze wie etwa kompetenzorientiertes Arbeiten die Arbeiten nur wenig beeinflusst haben. Seine Studie zeigt, dass die meisten Wettbewerbsbeiträge die Vergangenheit eher positivistisch rekonstruieren (Greven 2020: 210), dass sie Quellen also ohne kritische Distanz als Abbild der Vergangenheit deuten.

Dies klingt zunächst einmal etwas ernüchternd. Bedacht werden muss aber einerseits, dass die Anzahl empirisch belastbarer Studien zu Schüler*innen im Geschichtswettbewerb äußerst überschaubar ist und dass diese andererseits vor allem Textprodukte wie Essays in den Blick nehmen – was auch mit dem Schwerpunkt von Forschungen auf das Gymnasium begründet sein kann.

Ausblick

Wie kann die Teilhabe auch von Schüler*innen, die bislang nur wenig im Geschichtswettbewerb vertreten sind, also erhöht werden? Ein Weg könnte sein, „milder“ über die Leistungen von Kindern und Jugendlichen zu urteilen, die sich gerade erst auf den Weg machen, historisch zu denken. Denn für manche mag schon das Interesse an einer Geschichte eine wertvolle Erfahrung sein. Auch das reine Zusammentragen historischer Sachverhalte kann bereits eine beachtliche Leistung darstellen, auch wenn noch keine Sach- oder Werturteile artikuliert werden. Und einem „Gefühl“ für Geschichte in einer künstlerischen Arbeit Ausdruck zu verleihen, könnte ebenfalls ein Weg sein, sich dem Historischen anzunähern. Dies alles können Schritte sein, geschichtskulturelles Kapital aufzubauen und Selbstwirksamkeit zu erfahren.

Geschichtswettbewerbe könnten möglicherweise zudem davon profitieren, dass Bewertungskriterien noch deutlicher als bisher an Kompetenzen, Kapazitäten und individuellen Voraussetzungen angepasst werden, genau wie das auch für den schulischen Geschichtsunterricht gelten sollte. Eine andere Möglichkeit wäre, über Quotenregelungen eine größere Passgenauigkeit auch für die Bewertung von Wettbewerbsbeiträgen zu ermöglichen und bestimmte Gruppen gezielt zur Teilnahme zu ermutigen.

 

Literatur

ah: „Über sich hinausgewachsen“: Padua-Schüler drehen Doku über das Wohnen bei antonius, in: Fuldaer Zeitung, 15.5.2023, URL: https://www.fuldaerzeitung.de/fulda/schueler-fulda-drehen-doku-wohnen-antonius-wettbewerb-maren-herbert-92279266.html [20.10.2023].

Baumgärtner, Ulrich: Wegweiser Geschichtsdidaktik. Historisches Lernen in der Schule, 2. Aufl., Paderborn 2019, S. 40–41.

Greven, Lukas: „Manchmal sogar detektivischen Spürsinn entwickeln“ – Diachrone Betrachtung des forschend-historischen Lernens im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, in: Faber, Stephanie A. und Grieshaber, Christian (Hrsg.): Public History an Rhein und Mosel, Berlin 2022, S. 31–79.

Greven, Lukas: Research-based historical learning – a dynamic concept? Designing a retrospective longitudinal study of the Federal President’s History Competition, in: Yearbook of the international society for history didactics, Jg. 41 (2020), S. 195–217.

Handro, Saskia: Kinder und Jugendliche machen Geschichte! Geschichtswettbewerbe als partizipative Ressource, in: Minner, Katrin (Hrsg.): Public History in der Regional- und Landesgeschichte, Münster 2019, S. 295–327.

Henkemeier, Franz: Geschichte für Lernbehinderte. Entwurf einer Geschichtsdidaktik für lernbehinderte Schüler, Bochum 1986.

Körber, Andreas: Inklusive Geschichtskultur, in: Barsch, Sebastian/Degner, Bettina/Kühberger, Christoph/Lücke, Martin (Hrsg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Zugänge zu einer inklusiven Geschichtsdidaktik, Frankfurt a.M. 2020, S. 250–258.

Kühberger, Christoph und Schneider-Reisinger, Robert: Subjektorientierung, in: Barsch, Sebastian/Degner, Bettina/Kühberger, Christoph/Lücke, Martin (Hrsg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Zugänge zu einer inklusiven Geschichtsdidaktik, Frankfurt a.M. 2020, S. 27–36.

Lücke, Martin: Geschichtskultur im Geschichtsunterricht, in: Fenn, Monika und Zülsdorf-Kersting, Meik (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für den Geschichtsunterricht, Berlin 2023, S. 205–266.

Wolter, Heike: Forschend-entdeckendes Lernen im Geschichtsunterricht, Frankfurt a.M. 2018.

Wosnitza, Christopher und Meyer-Hamme, Johannes: Student essays expressing historical thinking: A quantitative and dually qualitative analysis of 1,100 papers for the History Contest of the German President, in: History Education Research Journal, Jg. 16 (2019), H.1, S. 88–102.

 

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