Medieninteresse am Geschichtswettbewerb: Eine Chance für die Teilnehmenden – und zugleich ein Risiko?
von Armin Himmelrath
Dass von Schülerinnen und Schülern erstellte Beiträge des Geschichtswettbewerbs immer wieder auf großes Medieninteresse stoßen, verwundert nicht. Schließlich stimmen etliche der Wettbewerbskriterien mit journalistischen Relevanzkriterien überein, wie der regionale oder biografische Bezug, Transparenz, das Entdecken von bisher Unbekanntem oder die Richtigkeit der recherchierten Informationen. Zu den wichtigsten Nachrichtenfaktoren seriös arbeitender Medien zählt der Kommunikationsberater Holger Handstein „Reichweite, Wirkungsintensität (Schaden oder Nutzen), Prominenz, Macht, Nähe, Überraschung, Personalisierung, Kontroverse und Themenetablierung“ (Handstein 2016: 1).
Hinzu kommt: Aktivitäten im schulischen Umfeld und insbesondere solche, die auf positive Weise vom schulischen Alltag abweichen, können wiederum selbst diese Relevanzkriterien erfüllen. Die Gruppe von Viertklässlerinnen und Viertklässlern, die in der örtlichen Seniorentagesstätte Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen führt, oder die Elftklässlerin, die sich selbst das Lesen von Kurrentschrift beibringt, um historische Unterlagen aus dem Stadtarchiv entziffern zu können, sind aus journalistischer Sicht herausragende Berichtsanlässe – erst recht, wenn sie mit ihren Projektarbeiten erfolgreich sind und auf Landes- oder gar Bundesebene ausgezeichnet werden.
Das journalistische Interesse rührt auch daher, dass dies Beispiele dafür sind, wie der Bildungs- und Erziehungsauftrag von Schule anders und gleichwohl im Sinne des Gesetzgebers erfüllt werden kann. Denn der Wettbewerb und das Einstehen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer für die von ihnen erarbeiteten Ergebnisse decken sich mit den Vorgaben der Landesschulgesetze. Beispielhaft seien zwei genannt: Nordrhein-Westfalen fordert von Schule, dass die Kinder und Jugendlichen „insbesondere“ lernen sollen, „für sich und gemeinsam mit anderen zu lernen und Leistungen zu erbringen“ sowie „die eigene Meinung zu vertreten und die Meinung anderer zu achten“ (§ 2 Abs. 6 SchulG NRW). Und in Brandenburg sollen die Schülerinnen und Schüler „mit Medien sachgerecht, kritisch und kreativ“ umgehen und „zur demokratischen Gestaltung einer gerechten und freien Gesellschaft“ beitragen (§ 4 Abs. 5 Punkt 2 und 9 BbgSchulG). Damit wird klar: Nicht nur die Wettbewerbsteilnahme selbst, auch der Schritt in die mediale Öffentlichkeit und damit das Wirken in die Gesellschaft hinein sind wichtige – und politisch gewollte – Optionen im schulischen Lernkontext.
Fallbeispiele
Anhand von Beispielen lässt sich die mediale Rezeption ausgewählter Wettbewerbsbeiträge verdeutlichen – und gleichzeitig zeigen, wie stark damit Selbstwirksamkeitserfahrungen der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler geprägt werden können.
Bereits 2005 hatten Sarah Grandke und Laura Tetzlaff aus Brandenburg ihren Wettbewerbsbeitrag „NS-Zwangs- und Ostarbeit in der Uckermark“ eingereicht (Körber-Archiv GW 2005-0738). Bei Sarahs weiterer Beschäftigung mit dem Thema stieß sie auf die Geschichte eines Außenlagers des KZ Ravensbrück. Zehn Jahre später nahm Sarahs Schwester mit einem weiteren Beitrag (Körber-Archiv GW 2015-0459) zum ehemaligen Außenlager am Wettbewerb teil und thematisierte darin die mangelhafte lokale Erinnerungskultur. Die Schülerinnen haben damit den Impuls für eine zwar langanhaltende und zähe, letztlich aber doch erfolgreiche und folgenreiche Debatte gelegt: Wo zu Beginn der Forschungsarbeiten das große (Ver-)Schweigen herrschte, gibt es jetzt sichtbare Hinweise auf diesen Teil der Geschichte vor Ort. Im Dezember 2022 wurde in Hohengüstow der Gedenkstein für einen ermordeten Zwangsarbeiter in Hohengüstow zum 80. Jahrestag eingeweiht. Ende 2023 wurde in Zichow eine Gedenktafel für das Außenlager eingeweiht. Beides sind unterschiedliche Orte und unterschiedliche Initiativen. Beides stieß immer wieder regional und überregional auf mediales Interesse (Richter 2022; Strehlow 2023; RBB 2023).
80 Jahre nach der Ermordung eines polnischen Zwangsarbeiters erinnert eine Gedenktafel in Hohengüstow an das Verbrechen, aufgestellt dank dem Engagement von Sarah Grandke. Das Bild zeigt die Einweihung im Dezember 2022 mit Józef Sowa (Präsident der Vereinigung der durch das Dritte Reich Geschädigten Polen). Foto: Kamil Majchrzak
Dass auch jüngere Teilnehmende am Geschichtswettbewerb eine gute Chance haben, nicht nur mit einem Preis ausgezeichnet zu werden, sondern auch mediales Interesse zu wecken, zeigt die im Wettbewerb 2010/11 zum Thema „Skandale“ entstandene Arbeit von Enrica und Steffen Wedig aus Münster, die einen 1. Bundespreis gewann. Die Geschwister, zum Zeitpunkt des Wettbewerbs zwölf und zehn Jahre alt, hatten sich mit dem Contergan-Skandal beschäftigt und dazu sowohl Archivmaterial recherchiert als auch mit Zeitzeuginnen gesprochen (Körber-Archiv GW 2011-0283). Katrin Schlusen (2011) zeigte in ihrem WDR-Beitrag eindringlich, mit wie viel Engagement die Kinder an die selbst gestellte Aufgabe herangingen; auch weitere Medien berichteten ausführlich.
Auf zunehmend größeres mediales Interesse stieß auch der Beitrag von Max Uhlemann, der die Herkunft verschiedener Straßennamen seiner Heimatstadt Radolfzell untersucht hatte (Körber-Archiv GW 2011-0093). Der Schüler hatte sich unter anderem mit dem menschenverachtenden Verhalten des Schutztruppenadjutanten Paul von Lettow-Vorbeck in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika beschäftigt und dessen Eignung als Namenspatron einer Straße in Frage gestellt. Auch andere „Kriegshelden“ des Ersten Weltkriegs nahm er kritisch unter die Lupe. Der Beitrag löste heftige Diskussionen auch in anderen Kommunen aus: War die Berichterstattung zu Beginn noch zurückhaltend (hpk 2012), änderte sich das mit zunehmender Dauer der Diskussion; zehn Jahre später fiel in Radolfzell schließlich die Entscheidung für eine Umbenennung der Straße (Becker 2021).
Risiken
Zu Max Uhlemanns Geschichte gehört jedoch auch, dass er aufgrund seiner Arbeit in den Fokus rechter und rechtsextremer Netzaktivisten und -aktivistinnen geriet und massiv angefeindet wurde – mutmaßlich eine Reaktion auf die mediale Berichterstattung über den damals 16-Jährigen und seine Arbeit. In hetzerischen Blogbeiträgen wurde er unter anderem als „Milchbart“ geschmäht, als „Bubi-Schnösel“ und „Schwachstrom-Gymnasiast“, der ein „Schwachsinnsreferat“ abgegeben habe (Screenshot liegt dem Autor vor).
Das Beispiel zeigt eindringlich: Hier hat sich in den vergangenen Jahren ein neues Aufgabenfeld für Tutorinnen und Tutoren aufgetan. Sie müssen die medialen Auswirkungen, die ein Wettbewerbsbeitrag potenziell haben kann, von Anfang an mit im Blick halten. Dabei geht es jedoch nicht darum, Beiträge vor öffentlichem Interesse abzuschirmen – spätestens bei einer Auszeichnung mit einem Landes- oder Bundespreis gerät eine Wettbewerbsarbeit ohnehin in den Fokus der Medien.
Die Konsequenz daraus sollte die Entwicklung einer Medienstrategie sein – auch das übrigens gemäß den Landesschulgesetzen und der Kultusministerkonferenz-Empfehlung „Bildung in der digitalen Welt“ eine gewollte Aufgabe von Schule (Kultusministerkonferenz 2016). Zu einer solchen Strategie kann die aktive Einbindung seriöser Medien gehören: Aufrufe zur Recherche nach Materialien oder Zeitzeuginnen und -zeugen in journalistischen Veröffentlichungen sind ebenso denkbar wie die dortige spätere Präsentation der Forschungsergebnisse. Aber auch den Umgang mit Hate-Speech, Cyber-Bullying und anonymen Attacken aus dem Netz zu lernen sollte Teil dieser Strategie sein (und ist m.E. über den Geschichtswettbewerb hinaus ein essenziell notwendiges Thema an Schulen). Hilfestellungen dafür finden sich beispielsweise bei klicksafe (2024). Zudem dürfte es nicht schwerfallen, Journalistinnen und Journalisten regionaler Medien als Gesprächsgäste zu diesen Fragen in die Schule einzuladen.
Der Geschichtswettbewerb ist damit nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine medienpädagogische Chance für die Teilnehmenden, ihre Lehrerinnen und Lehrer sowie die Außendarstellung der jeweiligen Schule. Und auch: eine Chance für uns Journalistinnen und Journalisten, über engagierte, für ihr Thema brennende Menschen berichten zu können.
Literatur
Becker, Georg: In Radolfzell wird die Lettow-Vorbeck-Straße umbenannt, in: Südkurier, 6.12.2021, URL: https://www.suedkurier.de/region/kreis-konstanz/radolfzell/in-radolfzell-wird-die-lettow-vorbeck-strasse-umbenannt;art372455,10987605 [20.1.2024].
Handstein, Holger: Relevanz, in: Journalistikon. Das Wörterbuch der Journalistik, Köln 2016, URL: https://journalistikon.de/relevanz/ [10.1.2024].
hpk: Max sorgt für Streit um Straßennamen auch in Radolfzell, in: seemoz.de, 5.4.2012, URL:
https://archiv.seemoz.de/menschen/8204/ [4.2.2024].
klicksafe.de: Die EU-Initiative für mehr Sicherheit im Netz, URL:
https://www.klicksafe.de/ [20.1.2024].
Kultusministerkonferenz (Hrsg.): Bildung in der digitalen Welt. Strategie der Kultusministerkonferenz, Berlin 2016, URL: https://www.kmk.org/fileadmin/pdf/PresseUndAktuelles/2018/Digitalstrategie_2017_mit_Weiterbildung.pdf [10.1.2024].
RBB: Gedenktafel für Zwangsarbeiterinnen in Zichow enthüllt, in: RBB.de, 26.11.2023, URL: https://www.rbb24.de/studiofrankfurt/panorama/2023/11/brandenburg-uckermark-zichow-gedenktafel-ns-zwangsarbeiterinnen.html [10.1.2024].
Richter, Christoph: Jugendliche in der Uckermark wollen Gedenkort, in: Deutschlandfunk Kultur, 11.11.2022, URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/uckermark-zichow-aussenlager-kz-ravensbrueck-adelsgeschlecht-von-arnim-100.html [10.1.2024].
Schlusen, Katrin: Kinder erforschen Contergan-Skandal, in: wdr.de, 18.11.2011, URL: https://www1.wdr.de/archiv/contergan/geschichtswettbewerb100.html [5.2.2024].
Strehlow, Monika: Würdiges Gedenken für lange Verschwiegenes, in: Nordkurier, 25.9.2023, URL: https://www.pressreader.com/germany/blick-in-die-region-9BN1/20230925/282119231161338 [20.1.2024].
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- 20 Mär 2024 - 08:17