Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Feindbild – und als Brücke zwischen rechten und dogmatisch-religiösen Akteur:innen
von Gert Pickel
Widerstände auf dem langen Weg zur Anerkennung
Die Bemühungen um die Gleichheit der Geschlechter sowie zur Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt haben erst im letzten Jahrhundert an Fahrt aufgenommen. So dauerte es nach der Einführung des Frauenwahlrechts 1918 weitere 40 Jahre bis Frauen – und nicht ihre Männer – über ihr Dienstverhältnis entscheiden konnten. Dem stand allerdings entgegen, dass dies bis 1977 mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar sein musste, worüber wiederum Männer entschieden (Gekeler 2019). Noch länger dauerte es mit der Anerkennung von Homosexualität. Während die Volkskammer der DDR den diskriminierenden §151 StGB erst 1988 aufhob, tat dies der Deutsche Bundestag für Gesamtdeutschland mit dem §175 BGB sogar erst 1994. Die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare wurde 2017 erlaubt.
Diese gesetzlichen Anerkennungen trafen allerdings nicht in allen Teilen der Bevölkerung auf restlose Zustimmung. Gerade von konservativer, religiöser und auch rechtsnationaler Seite kam es zu heftiger Kritik, nicht selten verbunden mit einer massiven Abwertung von Feminist:innen, Homosexuellen, Bisexuellen und Transpersonen. Diese ablehnende Haltung gegenüber sexueller und geschlechtlicher Vielfalt belebte sich in Deutschland in den letzten Jahren, wie sich an der stetigen Zunahme von Hasskriminalität gegen queeren Menschen und gegen Frauen zeigt (BMI 2022: 10; Ponti 2023). Gerade in jüngerer Zeit hatten vor allem Transpersonen unter Abwertung und Bedrohung zu leiden – speziell in den Sozialen Medien. Dass dortige Entgleisungen nur die Spitze einer breiteren Ablehnung bis in die Mitte der deutschen Bevölkerung sind, zeigen Umfrageergebnisse: Eigene Berechnungen auf Grundlage der 2022 erschienenen Leipziger Autoritarismus-Studie zeigen, dass 24% der Deutschen denken, dass durch den Feminismus die gesellschaftliche Ordnung gestört werde und 43% es ekelhaft finden, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen. Der Weg zu einer vollständigen gesellschaftlichen Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, so wird damit deutlich, ist noch weit.
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als religiöses Feindbild
Eine Gruppe, die in diesem Zusammenhang häufig Erwähnung findet, sind religiöse Menschen. Gerade mit Blick auf die vehemente Ablehnung von Abtreibung und Homosexualität unter Evangelikalen und Anhänger:innen der Pfingstkirche in den USA, wird die Frage nach der Positionierung deutscher Christ:innen laut. Hinzu kommen Vorurteile gegenüber in Deutschland lebende Muslim:innen. Nun ist die Haltung religiöser Menschen zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt vermutlich stark durch die Gesellschaft, in der sie leben, beeinflusst – und tendenziell oft ambivalent. So gibt es religiöse Menschen, die – mit Bezug auf den Wert der Nächstenliebe – sexueller und geschlechtlicher Vielfalt offen gegenüberstehen. Es gibt aber auch religiöse Menschen mit dogmatischen bis fundamentalistischen Vorstellungen ihrer Religiosität, die Abweichungen von einem traditionalen Familienbild als Verstoß gegen Gottes Gebote sehen (EKD 2022: 25–26, 40–42). Sicher: In Deutschland muss man in der Regel nicht damit rechnen, dass Kliniken als „Abtreibungskliniken“ bezeichnet, und im schlimmsten Fall von fundamentalistischen Christ:innen abgebrannt werden. Das hängt mit der kleinen Anzahl dogmatisch-fundamentalistischer Menschen in Deutschland (15% der Mitglieder einer Religionsgemeinschaft) zusammen, aber auch mit der geringen Verbreitung solcher Vorstellungen selbst in dieser Gruppe. (Tab. 1). Dass der Blick auf sexuelle und geschlechtliche Vielfalt durch die eigene Religiosität beeinflusst wird, ist allerdings kaum zu leugnen.
Tab. 1: Haltungen zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt
Untersuchungsgruppe
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Alle Befragten |
Personen mit dogmatisch- fundamental. Religiosität |
Personen mit pluralistischer Religiosität
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Wähler:innen AfD |
Personen mit rechts-extremer Einstellung |
Zustimmung der Befragten zu … |
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Frauen, die sich gegen eine Familie und Kinder entscheiden, empfinde ich als egoistisch. |
19% |
41% |
19% |
18% |
43% |
Frauen sollten sich wieder mehr auf die Rolle der Ehefrau und Mutter besinnen. |
19% |
40% |
17% |
33% |
43% |
Frauen mit großen Forderungen müssen sich nicht wundern, wenn sie wieder in die Schranken gewiesen werden. (Antifeminismus) |
26% |
40% |
22% |
50% |
57% |
Frauen übertreiben Schilderungen über sexualisierte Gewalt häufig, um Vorteile aus dieser Situation zu schlagen.(Antifeminismus) |
18% |
26% |
15% |
42% |
54%
|
Homosexuelle Paare sollten keine Kinder adoptieren dürfen. (Homosexuellen-feindlichkeit) |
29% |
53% |
27% |
51% |
48% |
Ich finde es ekelhaft, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen. (Homosexuellen-feindlichkeit) |
37% |
58% |
35% |
57% |
62% |
Quelle: Eigene Berechnungen; Leipziger Autoritarismus Studie und kombinierte Studie „Kirchenmitgliedschaft und politische Kultur“ 2020; Personen mit dogmatisch-fundamentalistischer Religiosität = (Literalistisch) „Meine heilige Schrift (>Bibel/Koran<) ist wortwörtlich zu verstehen + (Exklusivistisch) „Andere Religionen sind weniger wahr als meine“; Personen mit rechtsextremer Einstellung = Bestimmung nach Rechtsextremismus-Konsensskala in Leipziger Autoritarismus-Studie.
Erst 2020 konnte in einer mit der Leipziger Autoritarismus-Studie verkoppelten Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland zu „Kirchenmitgliedschaft und politischer Kultur“ ein Homosexuellenfeindlichkeit und Sexismus steigernder Effekt der Religiosität ausgemacht werden, der sich bei dogmatisch und fundamentalistisch denkenden Christ:innen (und auch Muslim:innen) sogar deutlich stärker zeigte (Pickel et al. 2022: 78; Pickel/Pickel 2023: 47; auch Tab. 1). Anders als man dies aufgrund der institutionellen Benachteiligung von Frauen und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften in der katholischen Kirche erwartet hätte, betraf dies Katholik:innen und Protestant:innen in vergleichbarer Weise. Vor allem die Nähe zu einem traditionalen Rollenverständnis und dem Bild einer traditionellen Familie dürfte für dieses Ergebnis essenziell sein. Entsprechend zeigt das „Blame Game“, Frauen- und Homosexuellenfeindlichkeit allein Muslim:innen zuzuweisen, was immerhin 2014 doch 82% der Deutschen taten (Pollack et al. 2014: 23), rassistische Züge. Was nicht heißen soll, dass unter deutschen Muslim:innen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt nicht auch oft abgelehnt wird. Sowohl bei Muslim:innen als auch bei Christ:innen scheint es sich bei einer solchen fehlenden Anerkennung um ein Problem eines traditionalen und dogmatisch-fundamentalistischen Verständnisses der eigenen Religiosität zu handeln (Öztürk 2023).
Interessant ist, dass gerade das Feindbild der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt eine „Wahlverwandtschaft“ zwischen manch religiösem Menschen und rechtsextrem bzw. rechtspopulistisch denkenden Wähler:innen herstellen kann. Denn auch von der Extremen Rechten wird das Bild der heteronormativen Familie mit Vater, Mutter und mehreren Kindern öffentlich propagiert. Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt wird in allen Formen als „degeneriert“ und „volksschädlich“ eingeordnet und aktiv bekämpft. Dies reicht von der Beteiligung an Demonstrationen für ein angebliches „Kindeswohl“ bis hin zum Wunsch der Abschaffung von sogenannten Gender-Lehrstühlen. Vor allem ein teils von rechter Seite inszenierter Streit über die sogenannte Gender-Sprache ermöglicht es Kräften der Extremen Rechten weit in die traditionalistisch ausgerichtete Mitte der Gesellschaft vorzudringen – und sie für ihre Wahl zu begeistern. Der Feminismus wird als Quelle allen Übels ausgemacht und wie schon vor 100 Jahren zum Ziel der Antifeminist:innen (Dohm 1902; Hoecker et al. 2020: 251–256). Alle Formen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt werden als Ausdruck der Degenerierung der demokratischen Gesellschaft und Parteiendemokratie gebrandmarkt.
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als politisches Feindbild
Deutlich wird dies bei Analysen der Wahlentscheidung für die AfD. Neben der allgegenwärtigen Ablehnung von muslimischen Migrant:innen als einem Wahlgrund, erweisen sich antifeministische Vorstellungen als zweite starke Triebkraft für Wähler:innen, der AfD ihre Stimme zu geben. Und das Potenzial ist alles andere als gering: Wenn immerhin 25% der Deutschen überzeugte Antifeminist:innen sind und 27% sexistische Einstellungen aufweisen, übersteigt dies deutlich den Kreis der Rechtsextremist:innen (Kalkstein et al. 2022: 253). In der Betrachtung einzelner Items steigt die Zustimmung zu antifeministischen Items unter Wähler:innen der AfD auf 40–50%. Dies ist keine Mehrheit, doch eine deutlich stärkere Zustimmung als in der Gesamtbevölkerung. Es existiert also eine Klientel, welche über eine klare Ablehnung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt mobilisiert werden kann. Vor allem Bezüge auf die „normale“ Kernfamilie mit biologisch vorbestimmter Zweigeschlechtlichkeit, bei gleichzeitiger Verunglimpfung von Feminist:innen, Geschlechterforscher:innen, von Homosexuellen und Transpersonen bewähren sich als zentrale Strategien von Rechtsextremist:innen und Anhänger:innen der Extremen Rechten sowie der AfD. Alle Formen sexueller und geschlechtlicher Vielfalt werden als Feindbild präsentiert – und dieses Feindbild wird von nicht wenigen Wähler:innen geteilt (Tab. 1).
Aber warum wird sexuelle und geschlechtliche Vielfalt unter manchen Bürger:innen heute noch als Feindbild gesehen? Die Antwort ist – wie zu erwarten – vielschichtig. Sieht man einmal von Rechtsextremist:innen ab, die aufgrund eines völkisch geprägten Familienbildes mit dem Wunsch, die Nation durch viele Kinder zu stärken, ein heteronormatives Familienkonzept vorziehen, finden sich säkulare wie religiöse Gründe. Zum einen wird sexuelle und geschlechtliche Vielfalt abgelehnt, weil männliche Machtpositionen in der Gesellschaft durch Männer verteidigt werden. Feministische Ansprüche werden entsprechend als schädlich angesehen (Connell 1995). Für die am stärksten zugespitzte Form der Ablehnung solcher Ansprüche sehen sich im Darknet verbrüdernde Incels – Männer, die unfreiwillig ohne Partner:in (und Sex) sind und den Feminismus sowie die gestiegene sexuelle und geschlechtliche Pluralität dafür verantwortlich machen. Es finden sich wie gezeigt aber auch Verteidiger des heteronormativen Familienbildes im kirchlichen und religiösen Raum: Begründen die einen ihre Ablehnung von Vielfalt mit der Abweichung von der biologischen Normalität, sehen die anderen darin eine Abweichung von Gottes Willen von einer traditionalen Familie.
Die Ablehnung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt als demokratieschädlich
Das Feindbild der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt ist nicht nur für die Betroffenen toxisch, was schlimm genug ist: Es ist auch für eine auf Pluralität und die Anerkennung von Pluralität ausgerichtete Demokratie ein schleichendes Gift. Die antidemokratische Stoßrichtung besteht in der Annahme, dass hinter der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt ein Traditionen auflösender, „Normalität“ zurückweisender und das ‚homogene Volk‘ schädigender Mechanismus liege. Diesem entgegenzutreten fühlen sich nicht nur dogmatische bis fundamentalistische Mitglieder religiöser Gemeinschaften verpflichtet, sondern auch Vertreter:innen der Extremen Rechten bis hin zu Personen aus der Mitte der Gesellschaft. Aus diesem geteilten Ziel können ungewöhnliche Koalitionen und andere Bündnisse zwischen dogmatisch-fundamentalistisch denkenden Religiösen und rechten Parteien entstehen. Das Feindbild verbindet so nicht nur traditionale, religiöse und extrem rechte Bürger:innen, sondern erweist sich zudem als zutiefst antidemokratisch. Vielleicht ist dies auch der Grund, warum es von Parteien der Extremen Rechten so gerne für die Mobilisierung genutzt wird. Das Feindbild dient als Brücke zwischen ihren antipluralistischen, antimodernen und antidemokratischen Absichten.
Literatur
BMI: Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2022. Bundesweite Fallzahlen, Berlin 2022.
Dohm, Hedwig: Die Antifeministen, Berlin 1902.
Gekeler, Senta: Diese Rechte haben Frauen in den letzten 100 Jahren errungen, in: Human Resources, 5.3.2019, S. 1, URL: https://www.humanresourcesmanager.de/arbeitsrecht/diese-rechte-haben-frauen-in-den-letzten-100-jahren-errungen/.
Höcker, Charlotte/Pickel, Gert/Decker, Oliver: Antifeminismus – das Geschlecht im Autoritarismus? Die Messung von Antifeminismus und Sexismus in Deutschland auf der Einstellungsebene, in: Decker, Oliver/Brähler, Elmar (Hrsg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität, Gießen 2020, S. 249–282.
Kalkstein, Fiona/Pickel, Gert/Niendorf, Johanna/Höcker, Charlotte/Decker, Oliver: Antifeminismus und Geschlechterdemokratie, in: Decker, Oliver/Heller, Ayline/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (Hrsg.): Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen – alte Reaktionen?, Gießen 2022, S. 245–270.
Öztürk, Cemal: Revisting the Islam-patriarchy nexus: is religious fundamentalism the central cultural barrier to gender equality, in: Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik, Jg. 7 (2023), H. 1, S. 173–206.
Pickel, Gert/Huber, Stefan/Liedhegener, Antonius/Pickel, Susanne/Yendell, Alexander/Decker, Oliver: Kirchenmitgliedschaft, Religiosität, Vorurteile und politische Kultur in der quantitativen Analyse, in: EKD (Hrsg.): Zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung. Eine interdisziplinäre Studie zu Kirche und politischer Kultur, Leipzig 2022, S. 24–97.
Pickel, Gert/Pickel, Susanne: Kirchenmitgliedschaft, Vorurteile und politische Kultur. Kernergebnisse der quantitativen Studie Kirchenmitgliedschaft und politische Kultur, in: Lämmlin, Georg/Rebenstorf, Hilke/Weisheit, Jil (Hrsg.): Religion – Kirche – Vorurteil. Diskussion eines Forschungsprojektes zu Kirchenmitgliedschaft und politische Kultur, Leipzig 2023, S. 35–52.
Pollack, Detlef/Müller, Olaf/Rosta, Gergely/Friedrichs, Nils/Yendell, Alexander: Grenzen der Toleranz. Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt in Europa, Wiesbaden 2014.
Ponti, Sarah: Queerfeindliche Hasskriminalität in Deutschland, in: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hrsg.): Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Antifeminismus & Hasskriminalität 13 (2023), S. 112–125.
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- 28 Feb 2024 - 07:37