Timo Hellmers ist Historiker und Philosoph. Als Referent für Bildung und Vermittlung am Europäischen Hansemuseum in Lübeck verantwortet er als Creative Producer die Entwicklung der beiden Apps.

von Timo Hellmers

Seit dem Eröffnungsjahr 2015 prägt das Europäische Hansemuseum Lübeck (EHM) die Wahrnehmung der Geschichte der Hanse im öffentlichen Diskurs. Im Sommer 2023 wurde ein Rekordwert der Besucher*innen erreicht, sicherlich auch anlässlich der Weiterentwicklung der Dauerausstellung und aufgrund der Erweiterung des Programms um Digitale Spiele.

Weiterentwicklung der Dauerausstellung

Einen wichtigen Anstoß zur Weiterentwicklung der Dauerausstellung bereits kurz nach Gründung des Museums gab eine Befragung von 599 Besuchenden im Jahr 2019. Sie attestierte eine unzureichende Kinder- und Familienfreundlichkeit. Ein Grund dafür war, dass trotz atmosphärischer Inszenierung verschiedener Lebenswelten, die zuvor aufwendig recherchiert worden waren, und trotz des umfassenden Einsatzes von Monitoren und Audiostationen die visuelle Vermittlung vordergründig blieb. Diese verlangt von Besucher*innen sowohl eine hohe Kompetenz im Textverständnis als auch eine gute Visualisierungsfähigkeit. Die didaktische Aufbereitung richtet sich vornehmlich an Erwachsene – an die „klassischen Museumsgänger*innen“ über fünfzig Jahre mit Vorkenntnissen und akademischer Bildung. Eine aktivierende, handlungsorientierte Didaktik und ein leicht nachvollziehbarer narrativer roter Faden wurden hingegen – so die Befragungsergebnisse ­– vermisst. Hier setzte die Entwicklung der Digitalen Spiele durch das Team Bildung und Vermittlung an, welches neue mediale Zugänge zur Ausstellung erarbeiten und die komplexe achthundertjährige Hansegeschichte einem heterogenerem Publikum eröffnen soll.

Digitales Spiel in der Ausstellung

Dafür stand im Jahr 2020 eine Gesamtsumme von 272.900 € zur Verfügung, wovon rund 60.000 € auf die Posten Hardware, Marketing, Honorarkräfte sowie die Planung und Veranstaltung eines Game Jam entfielen (Nolden 2021). Die Mittel wurden von „dive in. Programm für digitale Interaktion“ der Kulturstiftung des Bundes zur Verfügung gestellt und der zeitliche Rahmen der Umsetzung auf das Jahr 2021 festgelegt. Mit der Auftragsvergabe an das Game Design-Studio Wegesrand begann schließlich die Entwicklungsphase des Spiels „Abenteuer Hanse“.

Das Narrativ der Dauerausstellung gibt den Rahmen für die App vor, um die Besucher*innen chronologisch und mit einer neuen Story durch die Hansegeschichte zu führen. Gemeinsam mit der fiktiven Wissenschaftlerin Dr. von Knoggeburg bereisen die Spieler*innen die Schauplätze der Vergangenheit und treffen auf verschiedene Figuren. In Interaktion mit ihnen werden Kernaussagen der Ausstellung realitätsnah auf den Punkt gebracht, ohne die Inhalte ihrer Komplexität zu berauben. Das Ergebnis ist ein digitaler Rundgang mit audiovisueller Ansprache, der auf Deutsch und Englisch verfügbar ist und haptisches wie kommunikatives Lernen ermöglicht. Gespielt wird auf einem mobilen Endgerät, entweder auf einem Leihgerät des EHM oder auf jenem der Spieler*innen. Die App steht zum freien Download für Android und iOS zur Verfügung.

Die Spielerfahrung basiert auf drei Bausteinen: Narrativ, Exploration und verschiedene spielerische Herausforderungen. Während das Narrativ rund um eine Zeitreise-Erzählung die Rahmenhandlung bildet und Orientierung im Ausstellungsraum bietet, unterstützen spielerische Interaktionen die Auseinandersetzung mit den Inszenierungen. Zwei Beispiele: Im Raum „An der Newa um 1193“, in welchem zwei rekonstruierte Koggen, Transportschiffe der Hansekaufleute, samt Ladung aus dem 12. Jahrhundert dargestellt sind, kann – um sich den Themen Navigation und Alltag an Bord anzunähern – in einer 3D-Umgebung eine Kogge gesteuert oder eine Partie Mühle beendet werden.

Mühlespiel an einer rekonstruierten Kogge. © Europäisches Hansemuseum Lübeck

In der inszenierten Baustelle „Lübeck um 1226“ wird mit sechseckigen Feldern im Stil von „Die Siedler von Catan“ die Stadtentwicklung Lübecks nacherlebt. Weitere, klassische Spielmechaniken kommen z.B. in Form von Quizfragen und Bilderrätseln zum Einsatz.

Ausbau der Stadt in der Inszenierung Lübeck um 1226. © Europäisches Hansemuseum Lübeck

Das explorative Spielerlebnis besteht im Auffinden und Scannen von in der Ausstellung angebrachten Markern, die optisch an kaufmännische Hausmarken angelehnt sind. Ist der Scan erfolgreich, werden 3D-Modelle von Objekten als Augmented-Reality-Erfahrung angezeigt, die in dem jeweiligen Raum eine Rolle spielen. Jedes dieser Objekte ist mit einer kleinen Hintergrundgeschichte verknüpft, die Einblicke in den Alltag der Kaufleute gewährt. Die damit verbundenen Quizfragen lassen sich durch aufmerksames Beobachten oder das Erfassen von Texten lösen. Das explorative Moment dient so der Verbindung zwischen Digitalem Spiel und analogem Museumsraum (Nolden/Knoth 2022: 100).

Digitale Anwendungen als Chance

Da „Abenteuer Hanse“ ein Spielerlebnis ausschließlich im Museum ermöglicht, wuchs der Wunsch, die Geschichte der Hanse auch Nicht-Besucher*innen zugänglich zu machen. Dank einer zweiten Förderzusage der Kulturstiftung des Bundes über 182.000 € konnte das EHM im Jahr 2022 das Digitale Spiel „Abenteuer Dielenhaus“ realisieren. In erneuter Zusammenarbeit mit der Agentur Wegesrand entstand das 3D-Modell eines Lübecker Dielenhauses aus der Mitte des 15. Jahrhunderts.

Abenteuer Dielenhaus. © Europäisches Hansemuseum Lübeck

Während das Haus nicht fotorealistisch gezeichnet ist, sondern im Comicstil, sollten die Objekte im Spiel der Zeit entsprechen und die Gestaltung von Kleidung und Architektur der historischen Realität möglichst nahekommen. Die Erkundung des virtuellen Hauses ist zentraler Bestandteil des Spieles. Der Spielmechanik von Escape Rooms folgend erledigen die Spielenden anhand von drei Queststrängen alltägliche Aufgaben der Hansekaufleute. Es geht um Warenlogistik, Prestige und Kleidung, um das Handelsnetzwerk und die Briefkultur.

Während „Abenteuer Hanse“ die Besuchsmotivationstypen Explorers, Experience Seekers und Facilitators (nach John H. Falk, vgl. Otte 2020) und somit Individualbesuchende und Kleingruppen erreichen möchte, ist der digitale Escape Room vor allem für den Einsatz im Unterricht der Klassenstufe 7 konzipiert. Für die Einbindung in den Lehrplan wurde eine pädagogische Handreichung erstellt. Ziel der App ist, Lehrkräften Material zur Vor- oder Nachbereitung des Museumsbesuchs als auch zur Auseinandersetzung mit der Geschichte der Hanse und der mittelalterlichen Stadt zu bieten, ohne nach Lübeck zu reisen.

Impact

Seit Herbst 2022 können Besuchende das „Abenteuer Hanse“ nutzen. Voraus ging eine umfassende Testphase von drei Monaten. Währenddessen wurde zunächst mit ausgewählten Fokusgruppenteilnehmenden im Alter von 12 bis 60 Jahren das Spielerlebnis erhoben. Dem schlossen sich Befragungen durch Interviews und einen Fragebogen an. Derselbe Fragebogen wurde auch an Individualbesuchende ausgegeben. Anhand von insgesamt über hundert ausgefüllten Bögen und nach internen Tests konnten zahlreiche Fehler behoben sowie das User-Interface verbessert werden. Insbesondere dem Wunsch nach einer Vollvertonung wird ein Update in Kürze nachkommen. Bereits drei Monate zuvor wurde, ebenfalls nach einem Fokusgruppentest mit Schüler*innen von 7. Klassen, der Release des Spiels „Abenteuer Dielenhaus“ für Android und iOS umgesetzt.

Seitdem wurde „Abenteuer Hanse“ fast 2.000-mal auf eigenen Geräten und EHM-Leihgeräten installiert bzw. abgeschlossen. „Abenteuer Dielenhaus“ wurde 1776-mal gespielt. Eine umfassende Evaluation der Angebote ist noch in Planung. Doch bereits jetzt lassen sich aus 76 Evaluationsfragebögen, aus Gesprächen und Besuchsbeobachtungen erste Schlüsse zum Hanse-Game ziehen. Insbesondere das explorative Spielerlebnis scheint gut zu funktionieren: Die Suche nach den Markern und den Augmented-Reality-Objekten führt zu einer intensiven Erkundung der Räume. Ebenso unterstützt die App das Verständnis des chronologischen Aufbaus der Ausstellung. Da „Abenteuer Hanse“ selten allein gespielt wird, ist ein Austausch zwischen den Spielenden zu beobachten. Ob die Vermittlung der Kernaussagen zur Geschichte der Hanse funktioniert, ist im Weiteren zu untersuchen.

Die wichtigsten Ziele, nämlich neue Zugänge zur Hansegeschichte zu ermöglichen und einen erlebnisorientierten wie spaßigen Besuch zu gestalten, bescheinigen die meisten Spieler*innen: Sie vergeben hier 7,3 von 10 möglichen Punkten, weshalb das EHM die Projekte als erfolgreich wertet. Dieser Erfolg ist auch im Marketing-Bereich messbar: Anlässlich beider Games wurde Crossmediales Storytelling umgesetzt, also ein Narrativ über mehrere digitale Kanäle erzählt. Die Resonanz auf den Plattformen Instagram, YouTube und insbesondere Facebook war groß. Ebenso wie die Website zu „Abenteuer Hanse“ wird auch die Website zum „Abenteuer Dielenhaus“ – insbesondere von Lehrkräften – regelmäßig aufgerufen. Eine erfolgreiche Pressearbeit mit insgesamt 401 Artikeln und Meldungen in Print, Online und Radio, sowie die Nominierung von „Abenteuer Hanse“ beim Deutschen Computerspielpreis und die Auszeichnung mit dem International Serious Play Award hatten wesentlichen Anteil an der nachhaltigen Verbreitung beider Digitalen Spiele.

Digitale Spiele – was bleibt?

Für außerschulische Lernorte sind Digitale Spiele nicht nur ein interessantes Medium, um neue Zielgruppen zu erreichen. Darüber hinaus ermöglichen sie eine spielerische Annäherung an Inhalte und das Erkunden neuer Perspektiven. Gerade wenn es um das Erinnern komplexer Ereignisse und um immaterielles Kulturerbe geht, bieten sich didaktische und pädagogische Aufbereitungen an, die mutig neue Wege beschreiten. Dies gilt insbesondere für die Geschichte der Hanse, welche reich an Dokumenten, jedoch arm an Objekten ist. Zudem wurde das Phänomen Hanse vielfach mystifiziert und propagandistisch aufgeladen. Das beschworene Bild der mächtigen und kriegerischen Hanseflotte, welche es tatsächlich nie gegeben hat, wurde für Herrschaftsansprüche während der Zeit des Deutschen Kaiserreichs und der NS-Diktatur missbraucht. Heute wird die Hanse touristisch vermarktet und von zahlreichen Firmen im Namen getragen. Das führt zu neuen Hansebildern. Für diese Aspekte sensibilisierte Game-Designer*innen und außerschulische Lernorte haben mit Hilfe von Games nicht nur die Möglichkeit, diese Mythen zu widerlegen. Sie können durch pluralistische Sichtweisen auch neue Blickwinkel eröffnen, wie es in anderen Themenfeldern etwa die Digitalen Spiele „Herbst `89“ vom Deutschen Historischen Museum oder „Through the Darkest of Times“ erfolgreich tun. Dabei ist es vor allem die narrative und spielerische Herangehensweise, die Spielende zu schätzen wissen.

Die Ereignisse und Handlungen im Spiel motivieren die Spielenden, über die Inhalte ins Gespräch zu kommen und dadurch das Erlebte besser zu erinnern. Obwohl von Kritiker*innen häufig argumentiert wird, dass Spiele oder grundsätzlich digitale Inhalte den Blick auf das Display binden, kann ein passendes Konzept in Verbindung mit interaktiven Spielmechaniken die Kommunikation zwischen den Spielenden fördern und das Verständnis komplexer Themen erleichtern.

Der Weg dorthin ist ein sehr intensives Projektmanagement sowie eine solide Finanzierung. Die Organisation, das Entwickeln eines Konzepts sowie die Programmierung und das Testen benötigen ausreichend Zeit und binden Personal. Im EHM waren zwei Personen an der Entwicklung beteiligt plus – je nach Projektphase – weitere Fachleute aus den Teams Kommunikation, Wissenschaft und Technik. Nicht zuletzt war die Unterstützung von verschiedenen externen Dienstleistern, allen voran den Game-Designer*innen der Firma Wegesrand, notwendig, um Digitale Spiele ins Museum bringen zu können.

Eine Herausforderung ist insbesondere die Ansprache der Zielgruppen: Sie bedarf weiterer Arbeit, denn die Angebote außerschulischer Lernorte stehen in starker Konkurrenz zu kommerziellen Games. Hier setzt das EHM auf crossmediales Storytelling, um eine möglichst vernetzte und diverse Ansprache auf mehreren Kanälen zu erreichen. Weitere Maßnahmen sollen sich insbesondere an Lehrkräfte richten und die Apps als Angebot für Schulen adressieren. Darin, dass das Medium Videospiel nach Auswertungen des Verbands „game“ im Jahr 2023 von 62 % der Deutschen als das Medium unserer Zeit betrachtet wird, liegt gerade auch für kleinere Institutionen mit geringen Budgets eine große Chance. Kommerzielle Spiele wie „Minecraft“, Spieleplattformen wie „Roblox“ oder Open-Source-Software wie „Twine“ bieten zahlreiche Ansatzpunkte, museale Inhalte spielerisch zu vermitteln. Wichtige Impulsgeber, wie etwa Creative Gaming oder das Projekt Erinnern mit Games, gibt es bereits.

 

Literatur

Nolden, Nico/Knoth, Timo: „Das gehört aber in ein Museum!“ Mehrwerte digitaler Spiele und Augmented Reality für historische Museen, in: Spielzeit – Spielraum, Zeitschrift für Museum und Bildung, H. 92–93 (2022), S. 100–120.

Nolden, Nico: Begegnungsort GameJam – Interaktive Sphären zur Kommunikation im Europäischen Hansemuseum, 10.11.2021, URL: https://gespielt.hypotheses.org/4385[25.9.2023].

Otte, Josefine: Personas der Gemäldegalerie, Methodik von Persona-Verfahren und Visitor Journey Mapping, URL: https://www.museum4punkt0.de/ergebnis/personas-der-gemaeldegalerie-methodik-von-persona-verfahren-und-visitor-journey-mapping/[25.9.2023].

Zimmermann, Felix: Digitale Spiele als historische Erlebnisräume. Ein Zugang zu Vergangenheitsatmosphären im Explorative Game, Glückstadt 2019.

 

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