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Nur eine „Nachgeschichte“? Gedenkstättengeschichte(n) und historisch-politische Bildungsarbeit

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Cornelia Siebeck, Historikerin, forscht und publiziert zu erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Fragen. Derzeit arbeitet sie im Projektteam „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ an der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Parallel realisiert sie das Projekt „Gedenkstättengeschichte(n)“ Dr. Oliver von Wrochem, Historiker, wurde 2009 Leiter des Studien- und Begegnungszentrums der KZ-Gedenkstätte Neuengame. Seit 2019 leitet er die Gedenkstätte.

Von Cornelia Siebeck und Oliver von Wrochem

Historische Momentaufnahme 1: Dachau, April 1965

„Das ehemalige Konzentrationslager Dachau hat sich in eine riesige Baustelle verwandelt. Sechzehn Baufirmen arbeiten zur Zeit hier“, berichtet Brigitte Jeremias, Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, von einem Ortstermin in Dachau kurz vor Eröffnung der KZ-Gedenkstätte: „Das Gelände links und rechts der alten pappelgesäumten, von Süd nach Nord verlaufenden Lagerstraße wird wieder von den Fundamenten der 34 Baracken begrenzt, die Zementeinfassungen sollen mit Kies angefüllt werden.“ (Jeremias 1965)

Die Reportage vermittelt nicht nur einen lebendigen Eindruck von den laufenden Bauarbeiten, sondern verweist auch auf allerlei Konflikte um das ehemalige Lager: Die wiederholten Beschwerden ehemaliger Häftlinge über den Zustand des Geländes, auf dem Ende der 1940er-Jahre deutsche Flüchtlinge und Vertriebene angesiedelt worden waren. Die jahrelang unerhörten Forderungen des Internationalen Dachau-Komitees, hier eine würdige Gedenkstätte einzurichten. Die Frage, was nun aus den noch auf dem Gelände verbliebenen Bewohner*innen werden soll, welche die Redakteurin als verwahrloste Gestalten beschreibt, die aus ihrer Aggression gegen die im Entstehen begriffene KZ-Gedenkstätte keinen Hehl machen.

Zugleich unterschlägt sie in ihrer Reportage manche Information. Vielleicht will sie den damaligen bundesdeutschen Zeitungsleser*innen nicht „zu viel“ zumuten. Vielleicht aber interessiert sich Brigitte Jeremias, Jahrgang 1914, auch selbst nicht so recht für unliebsame Details. Zum Beispiel dafür, dass „Frau Jakusch aus München“ (ebd.), die sie als emsige Gedenkstättenmitarbeiterin präsentiert, ursprünglich aus einer Frankfurter jüdischen Familie kam und – nachdem sie zahlreiche Angehörige verloren hatte –  einen früheren kommunistischen Häftling des Konzentrationslagers Dachau geheiratet hatte (vgl. Hammermann 2014: 244).

Oder dafür, dass der von ihr gepriesene „würdige Friedhof auf dem Leitenberg“ (ebd.) erst in Reaktion auf einen internationalen Skandals hergerichtet wurde, der 1949 infolge einer radikalen Vernachlässigung der dort befindlichen Massengräber entbrannt war. Und eine schon damals offenkundige Konfliktkonstellation, welche die Arbeit der KZ-Gedenkstätte jahrzehntelang prägen sollte, dass nämlich die Stadt Dachau deren Existenz ablehnte, weil sie eine andauernde Beschädigung ihres Images befürchtete, wird in der Reportage allenfalls angedeutet. 

Historische Momentaufnahme 2: Neuengamme, Spätsommer 1978

Detlef Garbe, Jahrgang 1956 und seit einem halben Jahr Student in Hamburg, besucht den Ort des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme. Über dessen Geschichte hatte er während seines Freiwilligendienstes bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste „in den Archiven der polnischen Gedenkstätten [...] schon einiges erfahren“. In Hamburg hingegen war ihm bisher „nirgends ein Hinweis auf das ehemalige KZ begegnet.“ (Garbe 1983: 39).

Vor Ort ist er irritiert: „Auf der linken Seite sehe ich rotgeklinkerte, von Zaun und Turm umgebene Bauten. Wird dies das ehemalige KZ gewesen sein? Es erinnert mich eher an eine Kaserne. Ich entdecke ein Schild: Strafanstalt Vierlande.“ Als nächstes erblickt er ein „riesiges Betonmauergeviert, fensterlos, grau in grau und mit Sicherheitsbereich.“. Der Anblick erinnert den jungen Studenten an die JVA Stuttgart-Stammheim: „Wievieler Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit bedarf es, um hier einen solchen Alptraum aus Beton zu erreichten? Es handelt sich um die Jugendstrafanstalt Vierlande. Meterhohe Mauern, Scheinwerfer, Wachtürme, die Ordnung von Wächtern und Bewachten. Auf dem Gelände eines ehemaligen KZs.“

Anschließend läuft er am verfallenden Klinkerwerk vorbei, wo die Gefangenen einst Zwangsarbeit leisten mussten und die mittlerweile als Werft für Segelboote und Yachten fungiert. „Kein Hinweis, keine einzige Informationstafel über das damalige Geschehen ist mir bisher auf meinem Weg begegnet.“ Zuletzt stößt er auf eine 1965 errichtete Mahnmalanlage, die auch nur spärliche Informationen vermittelt: „Ich bin wütend und enttäuscht zugleich.“ (ebd.: 40f.).

So zumindest beschrieb Detlef Garbe seine erste „Begegnung“ mit dem Ort des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme drei Jahre später in dem von ihm herausgegebenen Sammelband „Die vergessenen KZs?“. Zwischenzeitlich hatte er sich mit anderen in der „Initiative Dokumentationsstätte KZ Neuengamme“ zusammengeschlossen, die sich für den Aufbau einer aktiven KZ-Gedenkstätte engagierte (vgl. ebd. 43ff.). Aus ihrer Sicht war die „Unwissenheit über Neuengamme [...] kein Zufall. Die Vergeßlichkeit wurde von den Mächtigen in Politik und Gesellschaft bestens organisiert. Diese ‚organisierte Vergesslichkeit‘ entsprach gleichwohl dem Bewußtsein und den Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung.“

Die „Gedenkstättenlandschaft“ – eine abgeschlossene Entwicklung?

Ende der 1990er-Jahre wurden Gedenkstätten zu den NS-Verbrechen in der Bundesrepublik zu „Stützpunkte[n] einer demokratischen Erinnerungskultur“ (Deutscher Bundestag 1998: 240) erklärt. Seither wird Gedenkstättenarbeit vielerorts staatlich gefördert. Der damit einhergehende Institutionalisierungs- und Professionalisierungsschub (vgl. Siebeck 2016: 273ff.) hat dazu geführt, dass wir heute wie selbstverständlich von einer „Gedenkstättenlandschaft“ sprechen. Mitunter werden Gedenkstätten gar als „[s]taatstragende Lernorte“ (Haug 2010) wahrgenommen, die in ihrer eigenen „Erfolgsgeschichte“ erstarrt seien (Brachmann u.a. 2021).

Jedenfalls sieht sich, wer im Jahr 2022 an die Orte der ehemaligen Konzentrationslager Dachau und Neuengamme oder an eine andere große KZ-Gedenkstätte kommt, mit scheinbar „fertigen“ Institutionen konfrontiert, welche über ein nahezu vollständig durchmusealisiertes Gelände, wissenschaftlich hochdifferenzierte und professionell gestaltete Dauerausstellungen sowie zahlreiche akademische und pädagogische Mitarbeiter*innen verfügen.

Mit Recht widmen sich diese primär der Erforschung und zielgruppengerechten Vermittlung der Geschichte der nationalsozialistischen Massenverbrechen. Ein weiteres Thema sind ideologische Kontinuitäten sowie übergreifende Strukturen und Praktiken gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion. Zunehmend gibt es auch (selbst-)reflexive Angebote zum familiengeschichtlichen, gesellschaftlichen und biographischen Umgang mit der NS-Vergangenheit.

Gedenkstättengeschichte als „blinder Fleck“ in der Vermittlungsarbeit?

Doch über die mittlerweile nahezu 80 Jahre (!) währenden geschichtspolitischen Kämpfe und erinnerungskulturellen Aushandlungsprozesse um die historischen Orte selber (vgl. u.a. Siebeck 2015) ist in Gedenkstätten vergleichsweise wenig zu erfahren: Welche „Gedächtnis- und Vergessensgemeinschaften“ (Düben 2022: 271) bildeten sich in verschiedenen gesellschaftsgeschichtlichen Kontexten rund um die jeweiligen Orte und deren Verbrechensgeschichte heraus? Wie versuchten sie, ihre Geschichtsbilder durchzusetzen?

Was motivierte Überlebende und Angehörige, sich für würdige Gedenkstätten an den historischen Tat- und Leidensorten zu engagieren, wer waren ihre Mitstreiter*innen, wer ihre Gegenspieler*innen, und was waren deren subjektive und gesellschaftspolitische Anliegen? Woher kam die viel zitierte „Gedenkstättenbewegung“ der späten 1970er- und 1980er-Jahre in der alten Bundesrepublik? Was trieb junge Menschen wie Detlef Garbe an, sich für eine ‚arbeitende Gedenkstätte‘ am Ort des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme zu engagieren? Und wie konnte es letztendlich gelingen, die beiden nach 1945 auf dem Lagergelände errichteten Justizvollzugsanstalten zugunsten der geforderten Gedenkstätte zu beseitigen?

Kurz: Welche Akteur*innen mit welchen geschichts- und gesellschaftspolitischen Motiven hatten – und haben – unter welchen historischen Bedingungen welche Möglichkeiten einer konkreten Deutungs-, Nutzungs- und Gestaltungsmacht über diese Orte?

Gedenkstättengeschichte(n) und „forensische Bildung“

In aller Regel wird die Geschichte der Orte nach 1945 und damit auch die Entwicklung der dortigen Gedenkstätten unter dem Label der „Nachgeschichte“ subsumiert. Zu den damit einhergehenden Fragestellungen gibt es kaum reguläre pädagogische Angebote; in den Dauerausstellungen werden sie meist fragmentarisch und vergleichsweise unterkomplex abgehandelt.

Üblicherweise wird dabei zunächst kritisch von allerlei „falschen“ oder zumindest defizitären Formen des Umgangs mit den historischen Orten erzählt. Vor dieser Negativfolie wird dann eine Geschichte des „richtigen“ Umgangs mit Ort und Vergangenheit entfaltet, welche auf den Status Quo als alternativlosem Telos hinausläuft, das sich in der räumlichen Umgebung vor Ort ja zudem auch noch mit der Macht des Faktischen als solches manifestieren kann.

Von daher dürfte es vielen Rezipient*innen schwer fallen, die Geschichte und Gegenwart von Gedenkstätten kritisch zu reflektieren, sich darin als involvierte Subjekte zu verorten und sich informiert zu dieser Geschichte zu verhalten. Dies aber wäre eine notwendige Voraussetzung dafür, sich Gedenkstätten als Orte anhaltender Konflikte und Aushandlungsprozesse über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anzueignen und sich (selbst-)bewusst an deren Bewahrung und weiteren Ausgestaltung zu beteiligen (vgl. Siebeck 2022: 127ff.). 

Der Historiker, Erziehungswissenschaftler und langjährige Leiter der Pädagogischen Dienste in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück Matthias Heyl plädiert mit Blick auf die nationalsozialistische Verbrechensgeschichte zurecht gegen ein bloßes „Erspüren von Geschichte“ am „authentischen Ort“, das zwangsläufig in allerart Projektionen münden muss (vgl. Heyl 2010). Dem setzt er eine Programmatik der „forensischen Bildung“ entgegen, das konkrete historische Spuren im Sinne von „Sachbeweisen“ sichtbar und einer historischen Reflexion und Kontextualisierung zugänglich macht (vgl. Heyl 2010: 199f.).

Wäre es nicht an der Zeit, auch die Geschichte der nationalsozialistischen Tatorte nach 1945 wenn nicht im Zeichen einer „forensischen Bildung“, so doch auf dem Wege einer ebenso differenzierten wie historisch reflektierten Auseinandersetzung mit ihren ideellen und materiellen „Spuren“ für die historisch-politische Bildungsarbeit zu erschließen?

Literatur

Ines Brachmann, Cornelia Chmiel, Jennifer Farber, Jens Hecker, Anke Hoffstadt, Lisa Schank: Die Gedenkstätten, eine unendliche deutsche Erfolgsgeschichte? In: Hinterland 48 (2021), S. 63-57 (https://www.hinterland-magazin.de/wp-content/uploads/2021/06/Hinterland_Magazin-HL48-52.pdf ,Zugriff 23.4.2022).

Deutscher Bundestag (1998): Gesamtdeutsche Formen der Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen und ihre Opfer, in: Schlussbericht der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“, Drucksache 13/11000, 10.6.1998, S. 226-257.

Ann Katrin Düben (2022): Die Emslandlager in den Erinnerungskulturen 1945 - 2011. Akteure, Deutungen und Formen, Göttingen: Brill/V&R unipress.

Detlef Garbe (1983a): Neuengamme – Musterbeispiel für Vergessen und Verdrängen, in: Ders. (Hg.): Die Vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik, Bornheim-Merten: Lamuv Verlag, S. 37-68.

Gabriele Hammermann (2014): „Dachau muß in Zukunft das Mahnmal des deutschen Gewissens werden“: Zum Umgang mit der Geschichte der frühen politischen Häftlinge, in: Nicholas Wachsmann, Sybille Steinbacher: Die Linke im Visier. Zur Errichtung der Konzentrationslager 1933, Göttingen: Wallstein Verlag, S. 229-258.

Verena Haug (2010): Staatstragende Lernorte. In: Barbara Thimm, Gottfried Kößler, Susanne Ulrich (Hg.): Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik, Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel Verlag, S. 33-37.

Matthias Heyl (2010): „Forensische Bildung“ am historischen Tat- und Bildungsort – ein Plädoyer gegen das Erspüren von Geschichte, in: Christian Geißler, Bernd Overwien (Hg.): Elemente einer zeitgemäßen politischen Bildung, Münster: LIT Verlag, S. 189-202.

Brigitte Jeremias (1965): Dachau wird sich zur Vergangenheit bekennen. Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers entsteht eine Gedenkstätte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. April 1965, S. 9.

Cornelia Siebeck (2015): 50 Jahre „arbeitende“ Gedenkstätten in der Bundesrepublik. Vom gegenkulturellen Projekt zur staatlichen Gedenkstättenkonzeption – und wie weiter? In: Elke Gryglewski, Verena Haug, Gottfried Kößler, Thomas Lutz, Christa Schikorra im Auftrag der AG Gedenkstättenpädagogik, Berlin: Metropol, S. 19-34.

Dies. (2016): „The universal is an empty place”. Nachdenken über die (Un-Möglichkeit demokratischer KZ-Gedenkstätten, in: Daniela Allmeier, Inge Manka, Peter Mörtenböck, Rudolf Scheuvens (Hg.): Erinnerungsorte in Bewegung. Zur Neugestaltung des Gedenkens an Orten nationalsozialistischer Verbrechen, Bielefeld: Transkript, S. 269-311.

Dies. (2022): Nach der ‚Erfolgsgeschichte‘. Die Gedenkstättenarbeit zu den NS-Verbrechen muss ihre Zukunft zurückgewinnen, in: Volkhard Knigge (Hg.): Jenseits der Erinnerung – Verbrechensgeschichte begreifen. Impulse für die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach dem Ende der Zeitgenossenschaft, Göttingen: Wallstein, S. 120–136.

 

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