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Gedenkstättengeschichte(n) und politische Bildung

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Frederik Schetter ist Referent im Arbeitsbereich Erinnerungskultur, Antisemitismus und Gedenkstätten der Bundeszentrale für politische Bildung.

Von Frederik Schetter

Eine gern genannte Kernthese politischer Bildung lautet: Demokratie ist zu erlernen, zu sichern und zu verteidigen, wenn man demokratisch mit Vergangenheit umgeht und dabei entdeckt, dass es immer viele Vergangenheiten gibt. Immanent ist dieser These, dass politische Bildung stets skeptisch demgegenüber Position beziehen will und muss, was „Geschichtspolitik“ bzw. „Erinnerungspolitik“ heißt. Zwar kann diese die Demokratie verteidigen und sichern – aber nur, wenn sie nicht dekretiert wird, und nur, wenn es dabei Raum für Ambiguitätstoleranzen gibt, die geradezu kennzeichnend für eine plurale und diverse demokratische Gesellschaft sind. Gerade staatlich organisierte politische Bildung sollte sich daher immer ein hohes Maß an Selbstreflexion bewahren, um sich nicht für die Instrumentalisierung von Geschichte durch kurzfristige Regierungsinteressen einspannen zu lassen.

Um in diesem Sinne ein reflektiertes Lernen aus der Geschichte zu ermöglichen, sollte man sich auch immer über das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart bewusst sein: Eine Auseinandersetzung mit historischen Gegenständen hat mindestens so viel mit der Gegenwart wie mit der Vergangenheit zu tun. Dieses Grundprinzip der Geschichtswissenschaft ist die Basis dafür, dass heute selbst das antike Römische Reich noch keineswegs „über-“ oder gar „ausgeforscht“ ist, sondern von der Militär- bis zur Geschlechtergeschichte neue Erkenntnisse über gesellschaftliches Zusammenleben bereithält. Die Vermittlung von historischem Wissen kann in der politischen Bildung also kein Selbstzweck sein. Sie soll vielmehr in die Lage versetzen, die gegenwärtige Welt um uns herum besser zu verstehen. 

Zur vermeintlichen Selbstverständlichkeit der Gedenkstättenlandschaft

Das kann etwa dadurch geschehen, dass durch Vergleich und Inbezugsetzung von Gestern und Heute vor Augen geführt wird, wie sich gesellschaftliche Dynamiken entwickeln können. Der gesellschaftliche (Nicht-)Umgang mit den Orten ehemaliger Konzentrationslager kann dabei als ein Paradebeispiel dienen. So verfügt Deutschland gut 75 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft und 30 Jahre nach dem Ende der DDR über eine Vielfalt an Gedenkstätten, die für die Auseinandersetzung mit Geschichte(n) zentral sind und die eine geradezu „staatstragende“ Bedeutung (Haug 2010) für die deutsche sowie mitunter internationale Erinnerungskultur(en) haben. Die Trägerschaft der Gedenkstätten variiert von Bundesland zu Bundesland und erfährt unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. Sie werden stark von der Zivilgesellschaft getragen, von Vereinen, Verbänden, Landkreisen, Kommunen, Ländern und auch in Zusammenarbeit mit dem Bund: Mit der 1999 etablierten und 2008 fortgeschriebenen Gedenkstättenkonzeption ist die Bundespolitik in vormals ungekanntem Maß beteiligt. 

Selbstverständlich ist dies nicht, auch wenn der nunmehr gängige Begriff der „Gedenkstättenlandschaft“ diesen Schluss nahelegen kann. Die „Gedenkstättenlandschaft“ ist Ergebnis eines langen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses und musste gegen viele Widerstände erarbeitet und durchgesetzt werden: Noch vor einer Generation fristeten zivilgesellschaftliche Initiativen an vielen der heutigen Gedenk- und Lernorte ein wenig beachtetes Nischendasein. Viele der Orte selbst wurden nicht als Gedenkorte, sondern sehr unterschiedlich genutzt – beispielsweise als Schullandheim oder als Justizvollzugsanstalt. Für manche Orte gilt das heute noch.

Bereits 1983 widmete sich eine Reihe von Gedenkstätteninitiativen in dem von Detlef Garbe herausgegebenen Sammelband „Die vergessenen KZs?“ einem kritischen Resümee der Situation. Der Versuch, die „historische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht auf die zwölf Jahre der Naziherrschaft zu beschränken“ (Garbe 1983, S. 25), bietet damals wie heute zahlreiche Potenziale für die politische Bildungsarbeit. Einerseits kann durch eine umfassende Historisierung die Vergangenheit aktualisiert und andererseits ermöglicht werden, historische wie gegenwärtige Handlungsmöglichkeiten sowie Entscheidungsprozesse zu reflektieren. Um dabei nicht durch allzu vorschnelle oder gar falsche Analogieschlüsse die Spezifik des historischen Geschehens aus dem Auge zu verlieren, gilt es freilich auch, die Unterschiede zwischen den historischen Kontexten herauszuarbeiten. 

Meistererzählungen und Kristallisationspunkte

Unter dieser Prämisse lässt sich durch die Auseinandersetzung mit „der“ Gedenkstättengeschichte aufzeigen, dass die Gegenwart nicht zwangsläufig oder alternativlos ist, sondern stets das Resultat von Entscheidungen vieler Menschen. Damit ist auch die Zukunft der Gedenkstättenlandschaft nicht statisch oder festgelegt. Wenn auch in verschiedenem Ausmaß, sind doch sehr viele wirkmächtig an ihrer Konstruktion beteiligt. Aus diesen Erkenntnissen kann auch eine gesunde Skepsis gegenüber Meistererzählungen gewonnen werden, etwa der, wir Deutschen seien angesichts der heutigen Vielfalt der Gedenkstättenlandschaft gewissermaßen „Erinnerungsweltmeister“. Gerade in turbulenten Zeiten der Moderne wurden wiederholt Praktiken im Nachhinein für althergebracht und unverrückbar erklärt, um Gesellschaften Stabilitätsanker zur Verfügung zu stellen. Wer beispielsweise weiß, dass die „urbayerische“ Lederhose erst nach einer Verordnung des Königs im 19. Jahrhundert Verbreitung fand, wird auch in der Gegenwart den Charakter von „traditionellen“ Verhaltensweisen oder Bekleidungsvorschriften hinterfragen. Und während – nach diesem Exkurs nun wieder mit dem Blick auf die NS-Herrschaft – bei der Frage, wer sich gegen das NS-Regime stellte, der späte militärische Widerstand der Gruppe um den Wehrmachtsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg Gegenstand umfassender erinnerungspolitischer Debatten war und Sophie Scholl mittlerweile einen „eigenen“ Instagram-Kanal hat, steht beispielsweise der schwäbische Schreiner Georg Elser noch immer allzu selten im Zentrum kollektiver Aufmerksamkeitsdynamiken. Er hatte bereits 1939 auf sich allein gestellt versucht, Hitler bei einer Veranstaltung im Münchner Bürgerbräukeller zu töten.

Derlei Kristallisationspunkte der Vergangenheit sind allerdings nicht grundsätzlich instrumentell zu verstehen. Sie sind vielmehr bis zu einem gewissen Grad unvermeidbar. Zum einen werden aus der Gegenwart immer neue und für jede Person individuelle Fragen an die Geschichte gestellt. Zum anderen sind gesellschaftliche Entwicklungen zu jeder Zeit vielschichtig und divers. Niemand würde sich anmaßen, die heutige Welt in Gänze und mit all ihren verästelten Einzeldynamiken und persönlichen Erfahrungen zu beschreiben. Dieses Eingeständnis der Unvollkommenheit muss umso mehr für abgelaufene Zeitabschnitte gelten. Was folgt aus diesen theoretischen Überlegungen nun für das Lernen aus dem gesellschaftlichen Umgang mit den Orten ehemaliger Konzentrationslager?

Vermittlungsperspektiven

In der Vermittlungsarbeit gilt es, die Pluralität von Gedenkstättengeschichte als Geschichten zu betonen. Nur durch eine multiperspektivische Herangehensweise lässt sich der Vielzahl an Erfahrungen sowohl der historischen Akteur*innen als auch der heutigen Lernenden gerecht werden. Auf der einen Seite gilt es dabei, durch das Zusammenführen und Bilanzieren bestehender Forschungen gesicherte Fakten und Erkenntnisse sowie Forschungsdesiderate auszuloten. In diesen Fällen liegt die Aufgabe darin, durch die Grundlagen einer soliden Quellenkritik – wer hat etwas aus welchen Motiven wann und wo gesagt oder geschrieben – zu erklären und verständlich zu machen. Auf der anderen Seite ist dies aber nur die Basis unseres Wissens, auf der Fragen, Interpretationen und Narrative aufsetzen.

Blicken wir zum Beispiel zurück auf den Aspekt, dass die Etablierung der KZ-Gedenkstätten gegen viele Widerstände oder zumindest Passivität erarbeitet und durchgesetzt werden musste: Dies trifft mitunter auch auf die staatlich organisierte politische Bildung zu. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Bundeszentrale für politische Bildung beispielsweise – am 25. November 1952 per Erlass des Bundesministers des Innern Robert Lehr als Bundeszentrale für Heimatdienst aus der Taufe gehoben – zählten in den Aufbaujahren der 1950er Jahre die Information über den neuen demokratischen Staat, seine Werte und Institutionen. Bis weit in die 1960er Jahre hinein blieb zudem die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus das dominante Feld der politischen Bildungsarbeit der Bundeszentrale. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stand dagegen anfangs und viele Jahre kaum, von Ausnahmen abgesehen, im Fokus. 

Das durchaus gängige Narrativ, die Gedenkstättenlandschaft sei gänzlich ohne oder gar ausnahmslos gegen staatliches Handeln entstanden, bekommt jedoch erste Brüche, wenn man genauer auf die Zeit blickt, in der Detlef Garbes Sammelband „Die vergessenen KZs?“ entstand. Kurz bevor Garbe und seine Mitstreiter*innen die Geschichte des gesellschaftlichen Umgangs mit den Orten ehemaliger Konzentrationslager aus einer aktivistischen Perspektive kritisch resümierten, hatte Ulrike Puvogel, seit Mitte der 1970er Jahre Mitarbeiterin der Bundeszentrale für politische Bildung, eine erste Bestandsaufnahme von Denkmalen und Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik vorgenommen. Die 1981 publizierten „Bestandsaufnahmen“ lassen sich eher als detaillierte, sachliche Mängelanzeigen denn als reine Dokumentationen lesen und nahmen „zwischen den Zeilen bereits vieles vorweg, was Aktivist*innen der Gedenkstättenbewegung in den kommenden Jahren anprangern sollten“ (Siebeck 2020). In den folgenden zwei Jahrzehnten folgte eine Reihe von weiteren, aktualisierten Dokumentationen, sowohl für die Gedenkstätten auf dem Gebiet der „alten“ Bundesrepublik als auch für die „neuen“ Bundesländer. Puvogel versuchte also zu einer Zeit, in der von einer mehr oder weniger flächendeckenden Gedenkstättenlandschaft keinesfalls die Rede sein konnte, genau diese mitsamt ihren Leerstellen zu dokumentieren, zu vernetzen und somit letztlich mit zu konstruieren (vgl. Siebeck 2020). 

Mit Blick auf mögliche Vermittlungspotenziale von Gedenkstättengeschichte(n) sind bei der Frage, wie die Rollen von staatlichen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Initiativen mit Blick auf die historische Genese und konzeptionelle Entwicklung der bundesrepublikanischen Gedenkstättenlandschaft bewertet werden können, Meinungsverschiedenheiten indes nicht nur unumgänglich, sondern wünschenswert: So lässt sich lernen, dass verschiedene, von der Gegenwart determinierte Perspektiven zu unterschiedlichen Priorisierungen und Bewertungen führen (können). In der Auseinandersetzung darüber wird zum einen das argumentative Ringen um die plausiblere Interpretation eingeübt. Zum anderen entdecken historisch Lernende, dass auch abweichende oder konkurrierende Sichtweisen ihr Verständnis von der Welt bereichern können, sich Schnittmengen ergeben oder eigene Haltungen zu revidieren sind – und manchmal schlicht auch als Facetten ein und desselben Gegenstandes nebeneinanderstehen können. 

Wenn das Lernen aus der Geschichte zum Ziel hat, eine demokratische Gesellschaft und Teilhabe daran zu ermöglichen, sind dichotome Geschichtsbilder daher nicht der richtige Weg. In Demokratien (wie auch in Diktaturen) sind es die kleinen, alltäglichen Entscheidungen und Handlungen, meist in einem historischen „Grau“, durch welche die meisten Menschen wirkmächtig werden. Das nicht als Defizit zu erfahren, sondern genutzte wie auch ungenutzte Spielräume kennen und verstehen zu lernen sowie Verbindungen zum eigenen Leben herzustellen, ist zentrales Ziel handlungsorientierter politischer Bildung.

Literatur

Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Gedenkstätten für Opfer des Nationalsozialismus auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, 2. überarb. Aufl., September 1981 (Redaktion: Ulrike Puvogel).

Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Bd. 1: Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein, 2. überarb. u. erw. Aufl., Bonn 1995 (Autor*innen: Ulrike Puvogel, Martin Stankowski unter Mitarbeit v. Ursula Graf; Redaktion: Ulrike Puvogel; redaktionelle Mitarbeit: Jutta Klaeren, Heike Rentrop).

Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Bd. 2: Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen, Bonn 1999 (Autorinnen: Stefanie Endlich, Nora Goldenbogen, Beatrix Herlemann, Monika Kahl, Regina Scheer; Konzeption, Projektleitung, Redaktion: Ulrike Puvogel; redaktionelle Mitarbeit: Jutta Klaeren).

Detlef Garbe (Hrsg.): Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik, Bornheim-Merten 1983.

Verena Haug, Staatstragende Lernorte. Zur gesellschaftlichen Rolle der NS-Gedenkstätten heute, in: Barbara Thimm/Gottfried Kößler/Susanne Ulrich (Hrsg.), Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik, Frankfurt/M. 2010, S. 33-37.

Hanna Huhtasaari, Die Bundeszentrale für politische Bildung.   Selbstverständnis und Auftrag im Arbeitsfeld Gedenkstättenpädagogik, in: Elke Gryglewski/Verena Haug/Gottfried Kößler/Thomas Lutz/Christa Schikorra (Hrsg.), Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen, Berlin 2015, S. 82-97.

Cornelia Siebeck, Zur Rolle der BPB in der bundesrepublikanischen Gedenkstättengeschichte, 30.11.2020 unveröffentlichtes Manuskript.

 

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