überLAGERt – lokale Jugendgeschichtsarbeit an Orten ehemaliger KZ-Außenlager in Brandenburg. Ergebnisse und Erkenntnisse.
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Sandra Brenner und Emily Koch
Ziel des Projekts
Das Modellprojekt überLAGERt sollte die Jugendlichen dazu befähigen, Erinnerungskultur aktiv mitzugestalten und sie darin bestärken, als Akteur*innen in Diskursen aufzutreten sowie die gesellschaftliche Aufarbeitung der NS-Geschichte in einem östlichen Bundesland anzugehen.
Während der Projekte sollten die teilnehmenden Jugendlichen durch eigene Recherchen den Zusammenhang von Mechanismen der Abwertung und Diskriminierung von Minderheiten sowie von Machtempfinden und Gruppenzwang verstehen. Die Jugendlichen sollten die Möglichkeit erhalten, ihr lokales Kontextwissen einbringen zu können, welches ihnen den Zugang zu Interviewpartner*innen und noch nicht entdeckten Quellen ermöglichen sollte.
Umsetzung – landesweiter Koordination mit Begleitangeboten
Die Beratungsstelle für lokale Jugendgeschichtsarbeit „Zeitwerk“ im Landesjugendring Brandenburg e.V. (LJR) hat während der Projektlaufzeit 2018 bis 2021 die landesweite Koordination des Projekts überLAGERt sowie die Planung, Umsetzung und Evaluierung der Begleitangebote übernommen. In einem ersten Schritt haben sich zumeist die Projektbegleitenden beim LJR gemeldet und dann eine Beratung erhalten. In der Praxis sind wir von dem angedachten Projektablauf abgewichen: Auch im laufenden Projektjahr sind Gruppen zu uns gestoßen und wir haben auf deren Bedarfe flexibel mit Projektbesuchen und Workshops reagiert. Die Mitarbeitenden des Zeitwerks haben die Projekte kontinuierlich begleitet: durch Projektbesuche vor Ort, durch regelmäßige Projektbegleitenden-Treffen, durch die Koordination und Begleitung von Gedenkstättenbesuchen und weiteren Exkursionen. Aufgrund der Auswirkungen durch die COVID-19-Pandemie wurden zunehmend auch Online-Workshops durchgeführt. Eine gemeinsame Abschlussveranstaltung im September 2021 fand in Präsenz statt.
Lokale Forschung in den Gruppen
An dem Projekt überLAGERt haben im Pilotprojekt 2017 Gruppen aus zwei Klein-, zwei Mittel- und einer Landgemeinde teilgenommen. Zwischen 2018 und 2021 haben sich insgesamt sieben Gruppen aus vier Mittelstädten, zwei Kleinstädten und einer Landgemeinde beteiligt. Es gab weiteres Interesse von Trägern der Jugendhilfe, bei denen sich jedoch keine Jugendlichen für eine Gruppe zusammenfanden. Die Projektlaufzeit der einzelnen beteiligten Gruppen variierte von zwei Monaten bis hin zur gesamten Projektlaufzeit. Die überLAGERt-Gruppen haben sich regelmäßig zu Teamtreffen vor Ort verabredet, um gemeinsam zu recherchieren und an der Projektpräsentation zu arbeiten. Eine Gruppe hat nach dem ersten Projektjahr selbständig weitergeforscht. Die Gruppen haben sich in unterschiedlicher Weise vor Ort an Gedenk- oder öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen beteiligt.
Ergebnisse und Potentiale
Fokus: lokale Ebene
Auf der lokalen Ebene birgt das Projekt überLAGERt das Potential, dass Jugendliche Kontextwissen zu ihrem Ort mitbringen. Auch der Zugang zu Quellen ist oft leichter, da den Jugendlichen mit weniger Skepsis begegnet wird und ältere Menschen sich oft freuen, wenn die Jugend sich für ihre Geschichte interessiert. Weiterhin findet das Projekt in der unmittelbaren Lebenswelt der Jugendlichen statt – so haben sie einen unmittelbaren Bezug zum Thema und es ist greifbarer. Sie trauen sich eher, Themen kritisch zu hinterfragen: unmittelbare Nachbarschaft versus „man habe von nichts gewusst“. Die lokale Ebene kann ein Ansatz sein, den abstrakten Zahlen ein Gesicht zu geben, indem Ereignisse und Biografien vor Ort recherchiert werden. Von 1933 bis 1945 befanden sich mehr als zwölf Millionen Menschen aus 20 europäischen Ländern in verschiedenen von der deutschen Gesellschaft errichteten Lagern (Das Bundesarchiv, 2021). Neben den großen Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen gab es ungefähr 60 KZ-Außenlager im heutigen Brandenburg. Für die Suche nach noch lebenden Zeitzeug*innen oder Nachkommen braucht es allerdings ausreichend Zeit innerhalb des Projekts. Weiterhin braucht es Anlässe wie Gedenk- und Erinnerungsveranstaltungen vor Ort, um auf die Suche aufmerksam zu machen.
Fokus: Jugendarbeit
Mit dem Fokus auf das Potential für die Jugendarbeit im Projekt überLAGERt stärkt die aktive Teilnahme an dem Projekt das Geschichtsbewusstsein und Engagement der Jugendlichen nachhaltig und gibt ihnen die Möglichkeit, sich im öffentlichen Raum zum Thema Nationalsozialismus zu positionieren. Die Jugendlichen eignen sich Wissen an, finden Raum für das Ausloten eigener Positionen und gestalten Erinnerungskultur im ländlichen Raum Brandenburgs aktiv mit, statt nur passive Empfänger*innen zu sein. Die jungen Menschen finden unter Anleitung Zugänge zu kreativen Ansätzen der Erinnerung oder nutzen das ritualisierte Gedenken bewusster infolge der eigenen Auseinandersetzung. Die Projektbeteiligten verknüpften ihren Einsatz in dem Projekt mit der Teilnahme an lokaler Gedenk- und Erinnerungskultur. Die Möglichkeit zur Durchführung eigener Veranstaltungen und zu deren lokaler Verstetigung hing mit der Länge der Teilnahme an dem Projekt zusammen.
Fokus: Erinnerungskultur
Potentiale für die Erinnerungskultur finden sich im Zugänglich-Machen von „Laien“wissen, was oftmals mit einer Übersetzungsleistung verbunden ist: Denn das, was Historiker*innen oft leicht zugänglich scheint, wie die Kenntnis unterschiedlicher Sammlungen, muss in ehrenamtlichen Jugendprojekten erst als grundsätzliche Kompetenz in der Kenntnis von Recherchewegen erlernt werden. Die Projektbegleitenden wünschen sich eine stärkere Vernetzung vor Ort und in der Region bspw. mit Initiativen, die bereits zu diesem Thema arbeiten. Weiterhin sehen sie Chancen in der Einbeziehung von Eltern in das Projekt. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit innerhalb des eigenen Wohnortes kann Hürde und Chance zugleich sein: Eine Hürde, wenn die Menschen vor Ort sich nicht damit beschäftigen wollen und eine Chance, wenn die Beschäftigung gewünscht ist und der Projektarbeit mit Wohlwollen begegnet wird.
Fokus: langfristige Begleitung
Ein besonderes Potential des Projektes überLAGERt liegt in der institutionellen Grundförderung der Beratungsstelle Zeitwerk des LJR, die mit ihren Mitarbeitenden seit 2005 als verlässliche Ansprechpartnerin in Brandenburg Vorhaben im Bereich Jugendgeschichtsarbeit initiiert und begleitet. Projektpartner*innen werden als langfristige Netzwerkpartnerschaften vor Ort betrachtet und nicht in der Logik zeitlich abgegrenzter Förderungen. Daher haben Umsetzungen von Projekten vor Ort in der Zusammenarbeit auch eher den Charakter von Vorhaben, sodass aus einem abgeschlossenen Projekt möglichst sinnvoll anschlussfähige neue Projekte entstehen können. Es braucht immer beides: die Fachexpertise der Mitarbeitenden in den Gedenkstätten sowie die Expertise über Prozessbegleitung in der Jugendarbeit. Weiterhin ist das Selbstverständnis der Arbeit im Landesjugendring nie nur die reine Vermittlungsarbeit, sondern immer auch die Stärkung und das Bewusstmachen der Möglichkeiten lokalen Engagements. Fast alle teilnehmenden Jugendlichen gaben an, dass sie sich auch über das Projektende hinaus in ihrem Ort engagieren wollen.
Materialien
Im Rahmen des Projektes überLAGERt sind verschiedene Materialien entstanden, die sowohl Fachkräfte als auch Jugendliche darin unterstützen sollen, im Bereich der lokalen Geschichtsarbeit aktiv zu werden. Der Anspruch bei der Entwicklung dieser Materialien war, den Nutzer*innen einen schnellen praktischen Start zu ermöglichen:
- Gemeinsam mit unseren Kooperationspartner*innen haben wir eine Online-Karte erstellt, in der alle uns bekannten Außenlager verzeichnet und mit Informationen versehen sind. Die Standorte sind farblich markiert, je nachdem, ob sie zu Sachsenhausen oder Ravensbrück gehörten. Die Karte ist auf www.ueberlagert.de zu finden.
- Weitere pädagogische Materialien sind entstanden: die Handreichung „Was noch erinnert werden kann… Handreichung zur lokalen Geschichtsarbeit“, das „Logbuch zur NS-Geschichte vor Ort“ sowie ein Kartenspiel in leichter Sprache „Fragen fragen – Das Kartenspiel für gute Gespräche“. Die genannten Materialien werden in diesem Magazin rezensiert.
Hier wird es schwierig – Forschung versus Auseinandersetzung
Die praktische Arbeit der Projekte vor Ort barg unterschiedliche Herausforderungen und Hürden: Projektbegleitende und Jugendliche gingen nicht immer mit denselben Motivationen in die gemeinsame Projektarbeit. So hatten Projektbegleitende einen Fokus auf das Vorantreiben der Forschung zum NS vor Ort, während die Jugendlichen sich zunächst auf der Ebene einer ersten Auseinandersetzung mit der NS-Zeit vor Ort beschäftigen wollten. Weiterhin fand überLAGERt im außerschulischen Bereich statt, sodass die Arbeit in der Projektgruppe mit anderen Freizeitaktivitäten wie Sport-AG oder Freund*innen treffen konkurrierte. Der Wunsch nach schnellen Forschungserfolgen und guten Quellen stand oft der Unmittelbarkeit des Zugangs zu Quellen gegenüber. Die Enttäuschung der Projektbeteiligten war entsprechend groß, wenn sich keine Quellen oder Interviewpartner*innen vor Ort fanden. Wichtig war es hier, die gemeinsamen Motivationen von Projektbegleitenden und Jugendlichen hervorzuheben: lebensweltliche Bezüge, das Interesse an Geschichte und eigene Werthaltungen.
Eine gemeinsame Struktur finden
Auf der Ebene der Gruppe müssen die Lebenswelten und -realitäten der Jugendlichen mitbedacht werden: Wie kann, auch vor dem Hintergrund fester Projektzeiträume, sinnvoll mit Fluktuation in der Gruppe umgegangen werden? Wie können gemeinsame Termine gefunden werden, die für die jungen Menschen verbindlichen Charakter haben? Wie können Jugendliche zu Treffen gelangen, wenn die Anbindung an den ÖPNV vor Ort nicht gegeben ist? Wie kann mit der plötzlichen Umstellung auf Onlinetreffen umgegangen werden, wenn Beschränkungen aufgrund einer Pandemie Vor-Ort-Treffen verbieten? Hier kann unter anderem bei den Projektbegleitenden angesetzt werden, die mit sehr verschiedenen Motivationen, pädagogischen Vorerfahrungen und historischen Vorkenntnissen in diese Rolle gekommen sind. Eine Stärkung der Expertisen in Form von Weiterbildungsangeboten und Einzel- sowie kollegialer Supervision wurde im Rahmen von überLAGERt angeboten.
Äußere Erwartungen
Hinzu kommen äußere Erwartungen, dass die Jugendlichen etwas herausfinden sollten, was bislang unbekannt war. Hier spielt der Aspekt des Wissenstransfers eine wichtige Rolle: Denn wenn die Ressourcen in den Archiven nicht gegeben sind, zusätzliches Material von Jugendgruppen zu sichten und einzuordnen, gehen die Ergebnisse der Gruppen verloren. Weiterhin bedenken Erwachsene oft nicht, dass für die Jugendlichen ein sehr großer Anteil des historischen Wissens neu ist. In der Arbeit vor Ort kann es auch ein „zu viel“ Erinnerung an den NS geben – Menschen vor Ort wollen, auch wenn sie dem Thema gegenüber aufgeschlossen sind, auch über eigene Biographien sprechen, weil sie bspw. selbst teils traumatische Kindheitserinnerungen haben, weil sie geflüchtet sind, umgesiedelt wurden, bespitzelt wurden. Damit laufen die Projekte die Gefahr, dass die Menschen vor Ort „dicht machen“, insbesondere im ländlichen Raum, in welchem es, anders als in der Stadt, nur wenige Ausgleichsmöglichkeiten gibt. Ist etwas Thema, dann ist es Thema bei jedem und jeder zu jeder Zeit.
Auf der Seite www.ueberlagert.de gibt es weitere Informationen und Einblicke in die Projekte.
Literatur
Benz, W., & Diestel, B. (2005). Der Ort des Terrors: Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. .C.H. Beck.
Das Bundesarchiv. (3. 12 2021). Zwangsarbeit im NS-Staat. Von https://www.bundesarchiv.de/zwangsarbeit/ abgerufen am 19. März 2022.
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- 30 Mär 2022 - 06:09