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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Marie-Helen Jakob
Der Begriff Narzissmus beschreibt grundlegend eine starke Form der Selbstachtung, Selbstliebe oder Anziehung zum eigenen Bild (vgl. Buchanan 2018). Namensgebend ist der »Narziss-Mythos«, in dem der Halbgott Narziss sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Der Begriff Narzissmus wurde von Sigmund Freud aufgenommen, in die Psychoanalyse eingeführt und später von anderen Feldern der Psychologie und klinischen Psychiatrie modifiziert (vgl. Bilke-Hentsch et al. 2020: 33). Da das Phänomen unterschiedlich ausgelegt und eingegrenzt wird, fehlt eine einheitliche Begriffsdefinition. Psychoanalytische Betrachtungsweisen des Narzissmus unterstreichen diesen als Erlebniszustand, bei dem nur die eigene Person als real erfahren wird, während alles andere, was die eigene Person nicht betrifft, im tieferen Sinne nicht real und von Relevanz erscheint (vgl. Fromm 1989: 481). Freud unterscheidet weiterhin zwischen primärem und sekundärem Narzissmus (Freud 1914: 4). Den primären Narzissmus ordnet er als geläufige frühkindliche Entwicklung ein, während er den sekundären Narzissmus als Krankheit versteht, die daraus resultiert, dass der Außenwelt entzogene Libido auf das Ich umgelenkt wird (vgl. ebd.: 6). Der Freudsche Narzissmus-Begriff wurde häufig aufgegriffen, von einigen Seiten kritisiert und teilweise modifiziert. Hierzu zählen u.a. die Analysen von Heinz Kohut (1976, 1979) und Otto F. Kernberg (1978) zu den bekanntesten Arbeiten zum Narzissmus-Begriff. Trotz unterschiedlicher Narzissmus-Verständnisse und -Analysen wird grundlegend zwischen gesundem und pathologischem Narzissmus unterschieden. Ersterer ist zunächst als Persönlichkeitseigenschaft zu verstehen, die bis zu einem gewissen Maß allen Menschen eigen ist (vgl. Schulz-Hageleit 2012: 131), weshalb sich der Begriff narzisstische Kränkung auch außerhalb von psychoanalytischen Kontexten etabliert hat. Letzterer wurde 1980 als narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) in die psychiatrische Klassifikation des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) aufgenommen (vgl. Bilke-Hentsch et al. 2020: 45). Eine trennscharfe Abgrenzung zwischen Narzissmus und NPS ist allerdings oft schwierig, weshalb die Übergänge als fließend zu verstehen sind. Der pathologische Narzissmus ist nach DSM vor allem durch folgende Merkmale gekennzeichnet: tiefgreifendes Muster der eigenen Großartigkeit, ausgeprägtes Bedürfnis nach Bewunderung, Mangel an Einfühlungsvermögen (DSM 2018: 918).
In Bezug auf Verschwörungsdenken haben Studien Zusammenhänge zwischen Narzissmus und dem Glauben an Verschwörungserzählungen feststellen können (vgl. Cichoka et al. 2016). Die Annahme böswilliger Absichten anderer Personen konnte mit individuellem Narzissmus in Verbindung gebracht werden (vgl. ebd.: 4). Weiterhin besteht ein Zusammenhang zwischen Paranoia und Narzissmus, welcher auf die Diskrepanz zwischen (übermäßig positivem) Selbstbild und oftmals (nicht übermäßig positivem) Fremdbild zurückzuführen ist. Eine solche Paranoia-Veranlagung macht jeweilige Personen anfälliger dafür, bestimmte Ereignisse als Verschwörung wahrzunehmen (vgl. ebd: 4). Auch kollektiver Narzissmus – die Annahme der Überlegenheit und Grandiosität der ‚eigenen‘ Gruppe – ist ein zentraler Faktor bei Verschwörungsdenken. Kollektiver Narzissmus scheint den Glauben an konspirative Absichten von ‚anderen‘ Gruppen (in Abgrenzung zur ‚eigenen‘ Gruppe) zu fördern (vgl. ebd.: 9). In diesem Zuge stellt die Annahme, ‚die Wahrheit‘ (die Verschwörung) erkannt zu haben und somit eine bedeutungsvolle Position einzunehmen, eine narzisstische Befriedigung dar.
Literatur
Bilke-Hentsch, Oliver / Walter, Marc (2020), Narzissmus: Grundlagen - Formen - Interventionen. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
Buchanan, Ian (2018), "Narcissism". In A Dictionary of Critical Theory Oxford University Press.
DSM (2018), Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-5. Göttingen: Hogrefe.
Freud, Sigmund (1914), Zur Einführung des Narzißmus.
Fromm, Erich (1989), Vom Haben zum Sein. Wege und Irrwege der Selbsterfahrung. Vol. XI, Erich-Fromm-Gesamtausgabe.
Kernberg, Otto F. (1978), Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus. Frankfurt: Suhrkamp.
Kohut, Heinz (1976), Narzissmus. Eine Theorie zur psychoanalytischen Behandlung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen. Frankfurt: Suhrkamp.
Kohut, Heinz (1979), Die Heilung des Selbst. Frankfurt: Suhrkamp.
Schult-Hageleit, Peter (2012), Geschichtsbewusstsein und Psychoanalyse. Freiburg: Centaurus Verlag.
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- 23 Feb 2022 - 07:05