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7.2.1 Wer sind die Querdenker*innen? (Teil 1)

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Von Julia Alkanaan

Seit Anfang April 2020 finden überall in Deutschland Demonstrationen gegen die Maßnahmen der Bundesregierung und der Landesregierungen zur Eindämmung des Corona-Virus statt. Vor allem im Sommer 2020 wurden größere Proteste in Berlin und Stuttgart organisiert, die schließlich ihren Höhepunkt mit der Demo am 1. August 2020 in Berlin mit etwa 30.000 Teilnehmenden fanden.

Wer an diesen Protesten teilnimmt und warum, ist bislang wenig erforscht. Von Sebastian Koos (Universität Konstanz) liegt die Befragung "Die „Querdenker“. Wer nimmt an Corona-Protesten teil und warum?“ vor. Fest zustehen scheint, dass es sich um eine sehr heterogene Bewegung handelt (vgl. Koos 2020: 2). Jedoch eint die Querdenker*innen ein grundlegendes Misstrauen gegenüber den medialen, wissenschaftlichen und politischen Eliten.

Die Frage, wie repräsentativ die Befragten und damit die Ergebnisse im Hinblick auf alle Teilnehmenden der Demonstrationen sind, spielt eine wichtige Rolle und kann bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht richtig beantwortet werden. Deutlich wird aus den bestehenden Studien, dass überwiegend Personen aus dem ‚bürgerlichen Lager‘ an den Demonstrationen teilnehmen, sich aber unterschiedliche politische Einstellungen darin wiederfinden und Demonstrierende auch im Internet aktiv werden (vgl. Koos 2020: 2). Welche Allianzen entstehen nun in der neuen ‚Querfront‘ und auf was für ein ‚Wissen‘ berufen sie sich? 

Das (Gegen-)Wissen der Querdenker*innen

Auf der Straße und im Netz verbreitet die Querdenker*innen-Bewegung ihre Kritik an den staatlichen Corona-Maßnahmen und entwirft ihr eigenes ‚Wissen‘ mit ‚alternativen‘ Einschätzungen zum Coronavirus (vgl. Pantenburg / Reichardt / Sepp 2021: 3).

Dieses Gegenwissen ist tatsächlich oftmals quer zu vorherrschenden wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Wissen und Meinungen positioniert und wird von vielen Teilnehmenden vertreten. „Die Protestierenden ermächtigen sich selbst dazu, einen fortlaufenden und komplexen epidemiologischen und virologischen Forschungsdiskurs einschätzen und als falsch widerlegen zu können“ (Pantenburg / Reichardt/ Sepp 2021: 5).

Dabei spielen vor allem persönliches Erfahrungswissen und ‚das Bauchgefühl‘ eine große Rolle, nach denen beispielsweise das Immunsystem, ein gesunder Lebensstil und eine entsprechende Ernährung ausreichenden Schutz gegen das Virus bieten würden.

Ein 33-jähriger Vater, der durch den Zusammenbruch der Veranstaltungsbranche arbeitslos wurde, meint: 

"Also ich bin aufgewachsen bei anthroposophischen Eltern, ich wurde nie geimpft, ich habe ständig Verletzungen an den Händen und überall gehabt, habe immer im Dreck gespielt, hab nie irgendwas bekommen, bin, wie gesagt, gegen nix geimpft, und ich sehe das nicht ein, dass mein Sohn ’ne Impfpflicht gegen Corona kriegen soll, weil ich die ganzen Impfungen so ablehne“ (Pantenburg / Reichardt/ Sepp 2021: 5).  

Die Mobilisierung von Gegenwissen ist kein neues Phänomen, sondern vielmehr ein wesentlicher Bestandteil sozialer Bewegungen. Querdenker*innen betrachten es als ihre Pflicht, die gesellschaftlichen Missstände, die durch die Anti-Corona-Maßnahmen der Regierung erzeugt wurden, zu identifizieren und ein entsprechendes Problembewusstsein zu verbreiten. Ihr Ziel ist es, gegen die Maßnahmen zu mobilisieren und das Volk ‚aufzuwecken‘. Hierfür werden hauptsächlich die sozialen Medien genutzt.

Beim Gegenwissen handelt es sich jedoch nicht nur um alternative Wissensinhalte, sondern auch um gegensätzliche Wissens- und Erkenntnisformen, wenn etwa dem ‚kühlen‘ und ‚distanzierten‘ Expert*innenwissen emotionale Beweisführungen und eine Argumentation aus subjektiver Betroffenheit entgegengehalten werden (vgl. Pantenburg / Reichardt/ Sepp 2021: 6).

Michael Butter führt beispielsweise in seinem Artikel „Die neue Querfront“ an, dass viele Demonstrierende einen starken Bezug zwischen der NS-Zeit und dem, was sie heute während der Pandemie "erleben müssen", ziehen. Demonstrierende tragen unter anderem gelbe Sterne, auf denen ‚ungeimpft‘ steht, in Erwartung der Ausgrenzung, die sie angeblich erfahren, wenn sie sich nicht impfen lassen. Jana aus Kassel fühlt sich wie Sophie Scholl, weil sie Demonstrationen anmelden muss und eine Teilnehmende vergleicht ihre Tochter mit Anne Frank, weil sie ihren Geburtstag heimlich feiern musste.

Butter betont in seiner Analyse der Querdenker*innen-Bewegung, dass das größte Problem an dieser Rhetorik die Überzeugung sei, dass sich die Geschichte wiederholen würde und sie sich in einer vergleichbaren Situation befänden. Währenddessen wird die Relativierung des Holocaust abgestritten, um das subjektive Empfinden, dass die NS Zeit mit heute vergleichbar sei, zu betonen. Dabei wird von vielen behauptet, dass es keinerlei Sympathien für rechte Ideen und Ideologien gäbe (vgl. Butter 2021).

Verschwörungstheorien und Radikalisierung

Im Umkreis der Corona-Proteste bestehen verschiedene Verschwörungstheorien. Darunter lassen sich Überzeugungen verstehen, die auf die geheimen Machenschaften einer Gruppe von machtvollen Akteur*innen gerichtet sind, welche die Pandemie als Vorwand für ihre Ziele nutzen und dabei der normalen Bevölkerung schaden würden (vgl. Koos 2020: 7). Damit geht ein tiefes Misstrauen gegenüber den etablierten Medien einher und es werden alternative Wege benutzt, um sich eigenes Wissen / ‚Gegenwissen‘ zur Pandemie zu verschaffen, wie z.B. über die Messengerdienste Telegram und WhatsApp und über den Bekanntenkreis (vgl. Koos 2020: 10).

Michael Butter führt in seinem Artikel den Querdenker Mike an, mit dem er persönlichen Kontakt pflegt, um seinen Radikalisierungsprozess beispielhaft darzustellen. Der Jobverlust hat Mike in seinem Verschwörungsglauben bestärkt und die Coronakrise hat seine Radikalisierung beschleunigt. Grund dafür ist unter anderem der Kontakt mit Gleichgesinnten im Internet. Wo er früher zu abstrakten Vereinfachungen des Weltgeschehens neigte, sieht er sich inzwischen persönlich als Opfer einer Verschwörung. Seine Videos und Livestreams auf seinen Social Media Kanälen wurden immer zorniger und radikaler. Er wurde bereits sogar von Facebook und YouTube wiederholt verwarnt und zeitweise gesperrt. Darin sieht er einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit, dementsprechend sind seine Beiträge noch aggressiver geworden.

Mike sieht sich nicht als Neonazi oder Antisemit. Wie viele andere in der verschwörungstheoretischen Szene bezeichnet er sich als eher (öko-) links. Ähnlich verhält es sich für viele Personen, die regelmäßig an Corona-Demonstrationen teilnehmen.

Wie die kürzlich veröffentlichte, nicht repräsentative Studie der Universität Basel aufzeigt, haben viele Querdenker*innen bei der letzten Bundestagswahl (2017) für die Linke oder die Grünen gewählt. Gleichzeitig werden Begriffe wie ‚rechts‘, ‚Neonazi‘ oder ‚Antisemit‘ stark abgelehnt, wie sich am Beispiel von Mike zeigt, da die eigentlichen Faschisten die heutigen Regierenden und Mächtigen seien (vgl. Butter 2021).

Das zeigen auch die Ergebnisse der Befragung der Universität Konstanz während der Corona-Proteste am 4.10.2020 in Konstanz. Viele Teilnehmende fühlen sich nicht oder nicht mehr von politischen Entscheidungsträger*innen repräsentiert. So gibt ein vergleichsweise großer Anteil der Befragten an, sich nicht mehr mit einer Partei identifizieren zu können.

„Angesichts des großen Teils der Protestteilnehmenden, der angibt, dass die Demokratie in Deutschland nicht gut funktioniere, gleichwohl aber die Diktatur als Staatsform ablehnt, bleibt zu fragen, welches Demokratie-Verständnis die Querdenken-Protestierenden insgesamt zugrunde legen“ (Koos 2020: 11).

Erklärt das die merkwürdige Allianz, die wir seit einigen Monaten auf den Demonstrationen beobachten, auf denen Althippies und linke Impfgegner*innen mit antisemitischen Esoteriker*innen, ‚Reichsbürger*innen‘, organisierten Neonazis und der sich intellektuell gebenden Neuen Rechten im Protest zusammen kommen? Das Label ‚neue Querfront‘ für diese heterogene Bewegung erscheint angemessen, da sich unter anderem demokratiefeindliche Kräfte von links und rechts strategisch miteinander verbinden.

„Die Überzeugung, der sich als links begreifenden »Querdenker*innen«, dass der Aufstieg des »Vierten Reichs« begonnen hat, passt fatal zu einer rhetorischen Strategie der Neuen Rechten“ (Butter 2021), da der Neuen Rechten klar ist, dass sie mit positiven Bezüge zur NS-Zeit in Deutschland keine neuen Anhänger*innen gewinnen werden. Demonstrierende von links und rechts können erst einmal dieselben Slogans brüllen, da sie zumindest ein Minimalkonsens teilen bzw. oberflächlich dieselben Ziele verbindet. Trotzdem muss festgehalten werden, dass es viele durchaus bürgerliche Protestierenden gibt, die nicht demokratiefeindlich oder extremistisch sind. Gleichzeitig muss festgehalten werden, dass es unter den Teilnehmenden Personen gibt, die entweder bereits sehr radikal waren oder sich im Kontext der Proteste radikalisiert haben, wie es die Übergriffe auf Journalist*innen und der ‚Sturm‘ auf den Bundestag verdeutlichen (vgl. Koos 2020: 11).

Ist die neue Querfront eine populistische Bewegung?

Die meisten Teilnehmenden der Querdenker*innen Bewegung vereint, dass sie sich selbst wissenschaftliche Autorität für ihre Argumentationen aneignen, die entgegen den staatlichen Narrativen stehen. Expert*innentum ist dabei genauso wichtig wie das ‚Gegenwissen‘ von ‚Überläufern‘ aus den ‚Mainstream‘-Medien wie die ehemalige Nachrichtensprecherin Eva Herman oder der ehemalige RBB-Moderator Ken Jebsen (vgl. Pantenburg / Reichardt/ Sepp 2021: 4).

Es lassen sich viele Bezüge zwischen der Querdenker*innen-Bewegung und populistischen Bewegungen herstellen, da beide „oft die liberale Demokratie, parlamentarische Parteien und die Verfahrensförmigkeit demokratischer und repräsentativer Institutionen kritisieren“ (vgl. Pantenburg / Reichardt/ Sepp 2021: 8, zit. nach Rosanvallon 2020).

An dieser Stelle muss betont werden, dass viele Begriffsdefinitionen von Populismus oft uneindeutig und unpräzise sind. Er wird als Bezeichnung für die verschiedensten historischen und aktuellen Parteien, Bewegungen und Politiker*innen genutzt. Dabei gibt es Populist*innen mit rechter und linker politischer Ausrichtung. Es kann jedoch festgehalten werden, dass Populismus einen Politikstil bezeichnet, der sich durch vier Elemente auszeichnet (Spier 2014):

1. ‚Das Volk‘

Populist*innen sprechen in ihren Reden und Medienbeiträgen ‚das Volk‘ oder ‚die einfachen Leute‘ an. Dabei wird suggeriert, dass ‚das Volk‘ eine Einheit sei. Der Appell an das nicht näher spezifizierte ‚Volk‘ erlaubt Populist*innen, eine möglichst große Zielgruppe anzusprechen. Eine große Zahl von Menschen soll sich zugehörig fühlen können. 

2. Identität: Gemeinschaft durch Abgrenzung

Die Schaffung von einem ‚Wir‘ und einem ‚Ihr‘ ist für die Politik von Populist*innen zentral. Die Einschließung und die Ausschließung von Personen in und aus der Gruppenidentität bedingen sich durch dieses Stilmittel gegenseitig. Dabei lassen sich typischerweise zwei Gruppen von Feindbildern unterscheiden:

Einerseits die politischen, ökonomischen oder kulturellen Eliten, die dem ‚einfachen Volk‘ schaden wollen und andererseits greifen Populist*innen auch immer wieder marginalisierte Bevölkerungsgruppen an, gleich ob es sich um soziale, kulturelle, religiöse oder sprachliche Minderheiten handelt.

3. Die Führungsfiguren

Populistische Bewegungen sind sehr häufig abhängig von charismatischen Führungsfiguren. Kaum eine populistische Partei oder Bewegung kommt ohne solche Führungsfiguren aus, die als Gesicht und Aushängeschild fungieren. 

4. Die Organisation: Bewegung ≠ Partei

Typisch für Populismus ist zudem, dass er sich als Bewegung organisiert. Populist*innen meiden in der Regel den Begriff Partei als Selbstbezeichnung ihrer Organisation, schon um sich von den etablierten Parteien abzugrenzen. Stattdessen nennen sie sich Bund, Liga, Liste, Front oder eben Bewegung. Die Bewegung suggeriert eine tiefe Verwurzelung im ‚Volk‘. Zudem unterstreicht sie die Rolle des Anführers, der durch sein Charisma die unter Umständen sehr heterogene Gruppe der Anhänger zusammenhält (vgl. Spier 2014).

Resümee

Im Kontext der Querdenker*innen-Bewegung muss (mindestens) über eine populistische Bewegung gesprochen werden, da wir seit spätestens Anfang November 2020 die Gefahren und Tendenzen einer politischen Radikalisierung der Proteste beobachten können. Angriffe auf Journalist*innen und Gegendemonstrant*innen wie in Leipzig, Frankfurt am Main oder Berlin verdeutlichen diese Tendenzen. Zudem kann festgehalten werden, dass alle der oben genannten Charakteristiken auf die Querdenker*innen-Proteste zutreffen.

Bei der neuen ‚Querfront‘ handelt es sich um eine sehr heterogene Bewegung aus unterschiedlichen politischen Lagern mit dem gemeinsamen Ziel, Gegenwissen und Gegendiskurse zu etablieren, die gegen die politischen, wissenschaftlichen und medialen Eliten gerichtet sind. Dabei berufen sie sich auf emotionale Beweisführungen, gemischt mit verschiedenen Ideologien und Verschwörungstheorien, die im Beitrag von Somi Dubuque „Wer sind die Querdenker*innen?“ aufgeführt werden.

7.2.2 Wer sind die Querdenker*innen? (Teil 2).

Literatur und Quellen

Butter, Michael (2021): Die neue „Querfront“. In Spiegel Online. Online unter: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/linke-und-rechte-verschwoerungsglaeubige-die-neue-querfront-a-00000000-0002-0001-0000-000174784614 (24.03.21).

Koos, Sebastian: Die „Querdenker“. Wer nimmt an Corona-Protesten teil und warum? : Ergebnisse einer Befragung während der „Corona- Proteste“ am 4.10.2020 in Konstanz. Online unter: https://kops.uni-konstanz.de/handle/123456789/52497 (22.03.2021).

Rosanvallon, Pierre (2020): Das Jahrhundert des Populismus. Geschichte, Theorie, Kritik. Hamburg, S. 89–156; in: Hedwig Richter/Stefanie Coché (2021): Legitimation staatlicher Herrschaft in Demokratien und Diktaturen. Festschrift für Ralph Jessen. Bonn.

Spier, Tim (2014): Was versteht man unter „Populismus“? In: Bundeszentrale für politische Bildung. Online unter: https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/192118/was-versteht-man-unter-populismus (27.03.21).

Pantenburg, Johannes / Reichardt, Sven / Sepp, Benedikt (2021): Corona-Proteste und das (Gegen-)Wissen sozialer Bewegungen. Universität Konstanz. Online unter: https://kops.uni-konstanz.de/bitstream/handle/123456789/52555/Reichardt_2-1hyykoj505hxc6.pdf?sequence=1 (26.03.21).

 

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