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4.1 Antisemitische Verschwörungstheorien in historischer Perspektive

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Von Andreas Wolf

Die historische Entstehung von antisemitischen Verschwörungstheorien ist eng verknüpft mit der Geschichte des Antisemitismus. In den ersten vier Jahrhunderten des Christentums entwickelte sich ein Arsenal antijüdischer Polemik und Pejorative und ein System des Antijudaismus (vgl. Kampling 2010: 11). In Unterscheidung zum rassistischen Antisemitismus, der im Nationalsozialismus mit der Shoah zu seinem Höhepunkt gelangte, wird der Begriff Antijudaismus gebraucht, um eine religiös begründete Judenfeindschaft von Christ*innen zu bezeichnen (vgl. Kampling 2010: 10). Die wichtigsten Bestandteile des Antijudaismus sind die Behauptung des Ungehorsams gegen Gott und die Blindheit dem wahren (christlichen) Glauben gegenüber, die Gesetzlosigkeit und die damit einhergehende Unmoral und der Vorwurf, Jesus Christus getötet zu haben. Folglich wurden Jüdinnen*Juden in einigen Epochen der Kirchengeschichte als Häretiker*innen behandelt und seit dem 4. Jahrhundert wirkten christliche Theolog*innen im Römischen Reich auf einen geminderten Rechtsstatus derer hin (vgl. Kampling 2010: 11). Neben diesen Formen der Benachteiligung kam es zu militanten antijüdischen Ausbrüchen, deren Anlass häufig Vorwürfe des Hostienfrevels, des Ritualmords und der Brunnenvergiftung waren. Im historischen Kontext der Pest wiederum kam es aufgrund eben des Vorwurfs der Brunnenvergiftung zur größten Pogromwelle des Mittelalters (vgl. Pfahl-Traughber 2002: 31). Die antijüdischen Vorwürfe im Mittelalter, so Kampling, könnten aber nicht als Verschwörungstheorien bezeichnet werden, sondern nur als Vorformen und Versatzstücke derselben. Das läge daran, dass es weder eine Öffentlichkeit für die Anschuldigungen noch das für solche Theorien nötige Verständnis von Zeitlichkeit gegeben habe und auch die für moderne Verschwörungstheorien typische Beweisführung gar nicht vorhanden gewesen sei. Anders als bei Verschwörungstheorien der, inzwischen globalisierten, westlichen Moderne, bei denen es darum ginge, eine sich entfaltende Intrige zu enthüllen, dienten die damaligen Vorwürfe gegen Jüdinnen*Juden in den meisten Fällen dazu, bereits stattgefundene Gewalt zu rechtfertigen, indem den Opfern ein Komplott unterstellt worden sei (vgl. Butter 2018: 145).

Bei der historischen Betrachtung der Entstehung antisemitischer Verschwörungstheorien ist es wichtig festzuhalten, dass die Vorwürfe gegen Jüdinnen*Juden mit Beginn der frühen Neuzeit zunächst abnahmen, was darauf zurückzuführen ist, dass im Zuge der Reformation andere Feindbilder an Bedeutung gewannen und sich Verschwörungstheorien vermehrt auf Akteure im politischen Raum konzertierten, auf den Jüdinnen*Juden keinen Einfluss hatten (vgl. Butter 2018: 162 f.). Der christliche Antijudaismus stellte Elemente für eine Ideologie bereit, die im Antisemitismus übernommen werden konnten, denn spätestens im 18. Jahrhundert entfalteten sich im Antijudaismus auch prärassistische Züge. Die bisherige Annahme, dass Jüdinnen*Juden durch die Taufe zum Christentum konvertieren können, wurde nunmehr in Frage gestellt. Die Grenze zum modernen Antisemitismus wurde endgültig nach der Französischen Revolution überschritten, als sich im Katholizismus die Vorstellung verbreitete, dass Jüdinnen*Juden als Agenten der Moderne für die Zerstörung der christlichen Werte verantwortlich seien (vgl. Kampling 2010: 13). Für den österreichisch-britischen Philosophen Karl Popper, der den Begriff „Verschwörungstheorie“, wie wir ihn heute benutzen, maßgeblich prägte, sei der Konspirationismus ein Produkt der europäischen Aufklärung (vgl. Butter 2018: 142). Hier wird also deutlich, dass etwa zur gleichen Zeit, in der sich der religiös begründete Antijudaismus zu einem rassistisch motivierten und umfassenden Welterklärungsmodell gewandelt hat, auch Verschwörungstheorien moderner Prägung entstanden sind.

Anfang des 20. Jahrhunderts erschien mit den „Protokollen der Weisen von Zion“ die Blaupause für die Idee der jüdischen Weltverschwörung. Obwohl die Autorenschaft der Protokolle nach wie vor ungeklärt und das Pamphlet schon längst als Fälschung entlarvt ist, werden sie noch immer als Beweis für ein globales jüdisches Komplott herangezogen (vgl. Butter 2018: 164). Die Protokolle prägten nachweislich das Weltbild Adolf Hitlers, des NS-Chefideologen Alfred Rosenbergs und anderer führender Nationalsozialisten und wurden in Propagandaorganen wie dem „Völkischen Beobachter“ oder dem „Stürmer“ ständig wiederholt. So hatten die „Protokolle der Weisen von Zion“ dazu beigetragen, eine Stimmung zu erzeugen, in der es schließlich zum Genozid an den europäischen Jüdinnen*Juden gekommen ist. 

Nach 1945 ist offener Antisemitismus aufgrund der Erfahrung des Holocaust in weiten Teilen der westlichen Welt stigmatisiert worden (vgl. Butter 2018: 166). Antisemitische Hetze steht in der Bundesrepublik unter Strafe, weshalb deutliche Worte vermieden werden und stattdessen mit suggerierenden Andeutungen gearbeitet werden muss. Antisemitische Ressentiments bestehen jedoch fort, werden nun allerdings nicht mehr in der traditionellen Form von der religiösen bis zur rassistischen Variante propagiert, sondern artikulieren sich in Umwegkommunikation sowie in Form des „neuen“ und „antizionistischen“ Antisemitismus. Dieser verwendet bekannte antijüdische Stereotype und richtet sich nicht gegen das Kollektiv aller Jüdinnen*Juden, sondern gegen Repräsentanten (meist gegen Israel als den jüdischen Staat), meint aber alle (vgl. Pfahl-Traughber 2002: 141). So ist es wenig verwunderlich, dass die Verbreiter*innen moderner antisemitischer Verschwörungstheorien diese Taktik übernommen haben und statt die Jüdinnen*Juden direkt als Verschwörer*innen zu benennen nun auch Codes und Chiffren verwenden. Eine Kontinuitätslinie von den antijüdischen Vorwürfen des Mittelalters zu den antisemitischen Verschwörungstheorien der Moderne in dem Sinne, dass sich ein religiöses Muster nach und nach säkularisiert hätte, ist nach Meinung Michael Butters nicht zu ziehen (vgl. Butter 2018: 163). Jedoch lassen sich Motive des religiös motivierten Antijudaismus, oder an die Begebenheiten der Gegenwart angepasste Motive, häufig auch in modernen antisemitischen Verschwörungstheorien finden.

Dies wird im Folgenden anhand der Betrachtung einiger exemplarisch ausgewählter moderner Verschwörungstheorien veranschaulicht. Im Zuge der Corona-Pandemie entstanden zahlreiche Verschwörungstheorien, die sich über Social-Media-Plattformen rasend schnell verbreiteten. Viele von ihnen haben den Ursprung des Virus zum Gegenstand oder hängen mit der Impfung gegen dieses zusammen. Es kursieren verschiedene Versionen, in denen verschiedene Personen oder Personengruppen als „Strippenzieher“ ausgemacht werden. Bill Gates wird beschuldigt, die Weltbevölkerung durch Gift in den Impfstoffen gegen das Corona Virus drastisch reduzieren zu wollen oder in einer anderen Variante mit der Impfung heimlich Mikrochips zu injizieren. Beides diene dem Zweck, die Menschen zu kontrollieren und die Weltherrschaft an sich zu reißen.

Aber was hat das mit Antisemitismus zu tun? Bill Gates kann als Chiffre für „die Juden“ verstanden werden. Gates ist zwar nicht jüdischer Herkunft, jedoch wird er häufig als „Freund der Jüdinnen*Juden“ bezeichnet oder aufgrund seines Vermögens mit dem Stereotyp des „Geldjuden“ (siehe Finanzjudentum) identifiziert. Dass dieses Deutungsangebot von vielen Rezipient*innen angenommen wird, wird deutlich, wenn man per Google „Bill Gates Jude“ sucht. So erhält man ungefähr 2.980.000 Ergebnisse (Stand 13.03.2021). Neben Bill Gates identifizieren einige Versionen dieser Erzählung George Soros als Akteur. Soros ist Jude und überlebte die massive Judenverfolgung während der Besetzung seiner Heimat Ungarn durch die Nationalsozialisten. Dadurch ist Soros als Chiffre noch eindeutiger. Des Weiteren kann die Erzählung, in der der Impfstoff Gift enthält, als eine modernisierte Version des Vorwurfs der Brunnenvergiftung interpretiert werden und die angeblichen Weltherrschaftsbestrebungen Gates oder Soros werden zur historisch angepassten Version des Narrativs der jüdischen Weltverschwörung.

Mit der QAnon-Verschwörung wurde ein weiterer antijüdischer Vorwurf des Mittelalters wiederbelebt. Die Erzählung, die in den USA entstanden ist und auch Anhänger in Deutschland hat, fantasiert von einer Zweitregierung, die die Welt aus dem Untergrund heraus lenken würde (siehe Deep State). Diese Geheimregierung halte Hunderttausende Kinder in unterirdischen Anlagen gefangen, um aus ihrem Blut Adrenochrom zu gewinnen. Dieser Stoff werde dann von den Mitgliedern, die als reich und mächtig beschrieben werden, getrunken, um sich damit zu verjüngen. Neben der jüdischen Weltverschwörung, die hier erneut aufgegriffen und reproduziert wird, enthält die QAnon-Verschwörung das Motiv des Ritualmordes. Schon im Mittelalter kursierten Vorwürfe, in denen Jüdinnen*Juden vorgeworfen wurde, sie würden das Blut getaufter Christenkinder für die Durchführung religiöser oder magischer Rituale benötigen.

Literatur

Butter, Michael (2018): „Nichts ist wie es scheint“ – Über Verschwörungstheorien. Berlin: Suhrkamp.

Kampling, Rainer (2010): Antijudaismus. In: Benz, W. (Hrsg.) Handbuch des Antisemitismus – Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart Band 3 Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin/New York: Walter de Gruyter, S. 10-13.

Pfahl-Traughber, Armin (2002): Antisemitismus in der deutschen Geschichte. Berlin: Bundeszentrale für politische Bildung.

 

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