Michael Elm: Der Erste Weltkrieg im Filmischen Gedächtnis. Kulturelles Trauma und Transnationale Erinnerung in Europa und dem Nahen Osten
Von Pascal Beck
In den späten 1970er Jahren hat der US-amerikanische Historiker George F. Kennan den Begriff der „Urkatastrophe“ für den Ersten Weltkrieg geprägt. Als Krieg, der alle Kriege beenden sollte, wurde der Erste Weltkrieg zum Ausgangspunkt weiterer Katastrophen. Der Erste Weltkrieg wird dabei nicht nur als Ausgangspunkt für darauffolgende Kriege verstanden, sondern auch mit einer Krise des Fortschrittbegriffs verknüpft, zeigten sich doch in diesem die Errungenschaften der Industrialisierung und des wissenschaftlichen Fortschritts angewendet auf neue Waffentechniken. Die im Krieg gegen die Menschen gerichtete Technik hat das Vertrauen in den technischen, aber auch gesellschaftspolitischen Fortschritt nachhaltig erschüttert.
Walter Benjamins Engel der Geschichte stuft den ungebremsten Fortschritt selbst als Katastrophe ein. Der Blick des Engels fokussiert die Schreckensereignisse, die sich im Laufe der Geschichte auftürmen und einander verstärken. Der Engel wird von einem Sturm rückwärts in die Zukunft getrieben. Ein Bild, das Michael Elm auch bemüht. In Der Erste Weltkrieg im Filmischen Gedächtnis – Kulturelles Trauma und Transnationale Erinnerung in Europa und dem Nahen Osten untersucht der Autor wie an den Großen Krieg in Filmen erinnert wird. Der Film als Medium, so Elm, ist fester Bestandteil der Erinnerungskultur und trägt zum populären Gedächtnis bei. Bei seiner Untersuchung nimmt er sich neben den filmischen der traumatheoretischen Diskurse an, die durch den Ersten Weltkrieg entscheidend beeinflusst wurden. Welche Umschreibungen, Bewältigungsstrategien, aber auch Kontinuitäten von Gewaltgeschichte lassen sich hundert Jahre später in Gegenwartsfilmen, sogenannten Zentenariumsproduktionen, ausmachen? Wie übersetzt sich die „Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts“ in filmische Narrative? Gilt dies auch für den Nahen Osten, den der Krieg in seiner modernen Form durch den Untergang des Osmanischen Reiches erst hervorbrachte? Diese drei Fragen stellen den Rahmen seiner Untersuchungen dar.
Kriegssituationen führen nicht unmittelbar zu Erinnerungspraktiken. Vielmehr durchlaufen sie eine gesellschaftliche Formung, die auch die individuelle Verarbeitung erlittenen Leids beeinflusst. Elms Untersuchung bedient sich der Theorie des kulturellen Traumas, um herauszufinden, wie Gewalterfahrung transgenerational verarbeitet wird. Die Theorie wurde unter anderem vom Kultursoziologen Jeffrey C. Alexander geprägt. Die besagt, verschiedene gesellschaftliche Akteur*innen und Gruppen würden Gewalterfahrung derart mit Bedeutung besetzen, dass diese sich zu einem kulturellen Trauma verdichten. Die soziale und kulturelle Konstruktion von Erinnerung ergibt sich nicht einfach aus dem Geschehenen. Alexander untersucht diese gesellschaftlichen Erinnerungskonstruktionen im sogenannten Trauma-Prozess, an dessen Anfang die Behauptung einer Verletzung durch eine sozial verursachte Gewalterfahrung steht. Um dieser Behauptung gesellschaftliche Reichweite zu verleihen und ihre Anerkennung und kulturelle Institutionalisierung zu erwirken, benötigt es gewisse Unterstützungsgruppen. Eine erfolgreiche Durchsetzung zeichnet sich dann schließlich durch die Erlangung einer kulturellen Hegemonie aus, die sich in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ausbreitet. Das Medium Film partizipiert an diesem Trauma-Prozess, wurde bislang jedoch nicht in diesem Bezug untersucht. Michael Elm versucht mit seinem Buch diese Leerstelle zu schließen.
Elm beginnt damit, die Entwicklung von Darstellungen des Ersten Weltkriegs im Kontext des Kriegsfilmgenres zu besprechen. Das Kriegsfilmgenre sei dabei stark von den Filmen zum Ersten Weltkrieg geprägt. Das mag unter anderem an der gleichzeitigen Entstehung des Films als Medium liegen, aber auch an der propagandistischen Nutzung des Films von Staat und Militär. Somit seien die filmischen Kriegserzählungen bis in die späten 1980er weitgehend national gefärbt. Schon zu Beginn der 1970er entwickelte sich jedoch der Antikriegsfilm, mit dem zunehmend eine Individualisierung der Filme und die Entstehung der Erinnerungsfilme einhergingen. Die Genrekonventionen, die mit den ersten Filmen zum Ersten Weltkrieg etabliert wurden, bleiben zwar, werden aber zeitgeschichtlich aktualisiert. So werden beispielsweise nationale Rahmenerzählungen durch individualisierende Darstellungen gelockert.
Das zweite Kapitel führt in die historisch-politischen Gründe des Zusammenbruchs des Osmanischen Reichs ein. In Europa wenig beachtet, zeigt auch der türkische Nachfolgestaat kein allzu großes Interesse an der historischen Misere, so dass im kollektiven Gedächtnis der heutigen Türkei die Osmanen den Krieg verloren und die Türken ihn gewonnen haben. Elm führt an, dass, wenn die Mittelmächte zusammen mit den Jungtürken den Krieg gewonnen hätten, die Geschichte längst mehrfach verfilmt und in den Status nationaler Mythen umgedichtet worden wäre.
Im dritten Kapitel wendet er sich den Zentenariumsproduktionen zwischen 2013 und 2018 zu und stellt die filmischen Neuerungen und Umschreibungen der Weltkriegserinnerungen heraus. Dabei widmet er sich dem Genozid an den Armenier*innen in einem eigenen Unterkapitel. In einem weiteren Unterkapitel veranschaulicht Elm die Feminisierung der Weltkriegserinnerung. In den Zentenariumsproduktionen ändert sich weniger die Exposition weiblicher Charaktere als deren Sprechpositionen, indem sie aus ihren Nebenrollen heraustreten.
Das populäre Gedächtnis im Nahen Osten befasst sich mit dem Ersten Weltkrieg weniger wegen seiner Ursachen als aufgrund seiner Folgen. Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und die unter englischer und französischer Kolonialverwaltung vorgenommene Neustrukturierung der Region führten zu einer Situation gesellschaftlicher Instabilität. Die Folge war eine Zeit gewaltvoller Transformationen, die eine völlig neuartige Ordnung von Staatengebilden hervorbrachte. Das vierte Kapitel untersucht die erinnerungskulturelle Verarbeitung im Nahen Osten anhand dreier dokumentarischer TV-Produktionen von Al-Jazeera Englisch. Hier ist der Erste Weltkrieg deutlich als kulturelles Trauma kodiert, von dem aus die gewaltvolle Aufteilung der Region markiert wird.
Das fünfte Kapitel analysiert einige Produktionen von Arte. Die untersuchten Produktionen werden auf die Konstruktion transnationaler Narrative und die Ausprägung kultureller Traumata befragt. Dabei führt Elm unter anderem einen Vergleich zwischen der Arte-Produktion 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGS und den Al-Jazeera-Produktionen (AJE) durch. Beide kodieren den Großen Krieg als kulturelles Trauma für ihre Regionen und betonen, dass die Anstrengungen und das Leiden an den Heimatfronten der Bedeutung der Kampfhandlungen an der Front in nichts nachstehen. Die AJE-Produktionen unterscheiden sich aber beispielsweise in ihrer gegenwartsbezogenen Wendung von der Arte-Produktion, die mehr in der Vergangenheit und der Erinnerung daran bleibe. Zudem werde bei Arte der Genozid an den Armenier*innen klar benannt, wogegen er bei den AJE-Produktionen weiterhin als Kontroverse verstanden wird.
Im sechsten und letzten Kapitel legt Elm dar, wie die Filmsprache des kulturellen Traumas sich in die Verarbeitung von Gewaltgeschichte einfügt und dabei bestehende Erinnerungsformen sowie Memorialtraditionen fort- und umschreibt. Hierfür greift Elm wieder auf den Engel der Geschichte zurück. Dieser, so Elm, bräuchte für seinen kritischen Blick die Imagination eines anderen, das dem Unheil entgegenwirke. Ebenso benötige die Theorie des kulturellen Traumas einen positiven Anknüpfungspunkt als Kontrast zu den erlittenen Schmerzen. Hierbei wird auf die Handlungsfähigkeit ihrer Akteur*innen gesetzt. Diese beschädigte Subjekte sollen die Fähigkeit wieder erlangen, das eigene Leben und die äußere Welt als Möglichkeitsraum zu verstehen. Elm sieht im Medium Film gerade dieses Potential, den Möglichkeitsraum zu überschreiten. Die meisten Zentenariumsfilme, so Elm, erzählen eben die Geschichte davon, wie die beschädigten Subjekte sich ihre Lebensbejahung zurückerobern müssen.
Michael Elm schließt mit seiner Untersuchung demnach nicht nur eine Lücke in der Wissenschaft und arbeitet nicht nur die Entwicklung des Kriegsfilmgenres heraus, sondern erkennt zudem im Film die Möglichkeit der Traumabewältigung. Dem Begriff der „Urkatastrophe“ aber fügt er kritisch an, dass damit vorausgegangene Kriege nicht verharmlost werden dürfen.
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- 1 Dez 2021 - 07:28