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Die Kölner Edelweißpiraten „als Vierte Front in Köln“

Kriminalisierung versus Anerkennung des jugendlichen politischen Widerstandes

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Roland Kaufhold hat 27 Jahre als Sonderschullehrer gearbeitet und schreibt nun als Publizist und Journalist über jüdische Biografien, emigrierte jüdische Psychoanalytiker, Antisemitismus und Rechtsradikalismus u.a. für die Jüdische Allgemeine, haGalil, Belltower und zahlreiche psychoanalytische Magazine.

Von Roland Kaufhold

Die Edelweißpiraten waren in der Nazizeit eine widerständige Gruppe, die vor allem mit Köln assoziiert wird. Es gab Edelweißpiraten auch in zahlreichen weiteren rheinischen Industriestädten; dennoch hat sich der Kampf um die Erinnerung am Beispiel des verleugneten und kriminalisierten politischen Widerstandes gegen das Unrecht vor allem in Köln abgespielt.

Insgesamt soll es 3.000 Edelweißpiraten gegeben haben, die in Köln in mehreren, nur lose miteinander verbundenen Stadtteilgruppen organisiert waren. Die Edelweißpiraten, eine der Nachfolgegruppen der 1936 verbotenen „Bündischen Jugend“, gehörten zu den bekanntesten oppositionellen Jugendgruppen – neben den Navajos, Fahrtenjungen‚ und weiteren Gruppierungen. In ihrer Heterogenität verband sie die Ablehnung des nationalsozialistischen Drills und dessen totalitären Herrschaftsanspruchs. 

Die politische Dimension ihres Widerstandes (vgl. von Hellfeld 1981, Finkelgruen 2020) – die von konservativen Forscher*innen mit erstaunlicher Energie in Abrede gestellt wird – zeigte sich allein schon darin, dass sie von der Gestapo und dem Volksgerichtshof mit größter Entschlossenheit verfolgt und vor Gericht gestellt wurden. Die schärfste politische Repressionsmaßnahme war die öffentliche Hinrichtung von 13 Oppositionellen, darunter sechs minderjährigen Edelweißpiraten, am 10.11.1944 am Bahnhof Ehrenfeld. Der Journalist Peter Finkelgruen forschte ab Mitte der 1970er Jahre, auch vor dem Hintergrund seiner Suche nach den eigenen familiären jüdischen Wurzeln, in Köln über die Edelweißpiraten – und stieß nur auf Schweigen. Er war der erste Journalist, der ab 1978 mit Verwandten und Freund*innen der Hingerichteten sprach. 

Der „kölsche Kraat“ Jean Jülich

Jean Jülich, 1929 in Köln geboren und aufgewachsen, war der bekannteste Edelweißpirat. Dank seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit als „Kölscher Jung“ und Karnevalsmusiker gelang es ihm, das kollektive Schweigen in Köln, das erstaunlicherweise insbesondere von führenden Kölner SPD-Funktionären (Antwerpes, Burger) betrieben wurde, immer wieder zu durchbrechen. Als der Kölner Regierungspräsident Antwerpes und sein für „Entschädigungs“verfahren zuständiger Mitarbeiter Dette (vgl. Finkelgruen 2020) nach einer Monitor-Sendung über die Edelweißpiraten (Mai 1978) erneut versuchten, die brutale Kriminalisierungsstrategie insbesondere gegenüber der Familie des im November 1944 hingerichteten Edelweißpiraten Bartholomäus Schink – Jeans Freund – fortzuführen, drohte der in Köln beliebte Jean Jülich fünf Tage später in einem Brief an Monitor damit, seinen „Grünen Ausweis“ als anerkannter politischer Verfolgter öffentlich zurückzugeben, damit auch er selbst, wie sein Freund Barthel Schink, „als Krimineller eingestuft werde“ (in Finkelgruen 2020, S. 63). Daraufhin versuchten die Behörden, nun ausgerechnet den Widerständler Jülich und den Juden Finkelgruen juristisch und politisch unter Druck zu setzen. Damit jedoch war der Sozialdemokrat Antwerpes an die Falschen geraten.

Jülichs Biografie als – wie er sich selbst voller Stolz nannte – „Kölscher Kraat“ (Finkelgruen 2020, S. 153-170) steht exemplarisch für das Schicksal vieler Edelweißpiraten. Jülich war der Erste, der sich ab 1978 öffentlich zu den Edelweißpiraten bekannte, im Wissen darum, dass er und seine hingerichteten Freund*innen in Köln zu Lebzeiten wohl niemals Gerechtigkeit erleben würden. Nun sprach er öffentlich immer wieder über seine ermordeten Freund*innen, insbesondere über den mutigen Antifaschisten Hans Steinbrück.

Unter ärmlichen Bedingungen aufgewachsen, schloss Jülich sich mit 13 Jahren den Köln-Sülzer Edelweißpiraten an. Er fand auch Kontakt zu der „aktivistischeren“, konkrete Widerstandshandlungen ausführenden Ehrenfelder Gruppe. Jülichs Vater war ein kommunistischer Funktionär, der ab 1932 in der Illegalität arbeitete. Die gewaltsame Festnahme seines Vaters im Jahr 1936 erlebte der Siebenjährige voller Ohnmachtsgefühle. Jean lebte mal bei seiner Oma, mal in Waisenhäusern. Die Treffen mit Kölner Jugendlichen - insbesondere mit Ferdi Steingass –, die sich durch ihre Kleidung, ihre Lieder und ihre antitotalitäre Grundeinstellung auszeichneten, formten sein Lebensgefühl. Die gemeinsamen Ausflüge ins Siebengebirge und zu ländlich gelegenen Seen mit ihrer eigenen Kleidung, dem aufgesteckten Edelweiß und ihren Liedern, Jean mit Gitarre, stärkten seine Bereitschaft, das nationalsozialistische System nicht zu akzeptieren (vgl. Jülich 2003).

Jülich beteiligte sich gemeinsam mit engen Freund*innen an lebensgefährlichen antifaschistischen Widerstandsaktionen: Sie sprühten Antinazi-Parolen an Hauswände, verteilten Flugblätter und Jean verübte mit Freund*innen eine Attacke gegen einen Nazi-Kiosk: „Eines Abends legten wir eine schwere Eisenkette um das Zeitungshäuschen (…) Dann befestigten wir die Kette am letzten Wagen der Linie 13 (…) Die Bahn fuhr los, die Kette warf das Häuschen um.“ (Jülich 2003, S. 52)

Im November 1944 wurde Jülich inhaftiert. Wenige Tage später, am 10.11.1944, wurden sechs Edelweißpiraten und sieben weitere Widerständler, darunter seiner Freunde Franz Rheinberger, Bartholomäus Schink und Hans Steinbrück, am Ehrenfelder Bahnhof vor mehreren Hundert Zuschauer*innen, darunter auch Verwandten der Widerständler*innen, öffentlich hingerichtet. Über drei Jahrzehnte lang blieb dieser Mord in Köln unerinnert.

Zweifelhafte Deutungsversuche

Die Motive für den Anschluss an die unangepassten Jugendlichen waren höchst unterschiedlich: Die Ablehnung der Konformität, des nationalsozialistischen Drills und der alltäglich erlebten Gewalt war stärker als die Angst vor dem immer stärker werdenden Terror, den sie bei ihren Treffen in Köln und auf dem Lande regelmäßig erlebten.

Die wissenschaftliche und politische Publizistik, die von Hellfelds (1981) früher Studie in den Jahrzehnten danach folgte, brachte zwar viel Detailmaterial, aber aus meiner Sicht politisch-sachlich mehr Rückschritt und Verleugnung als Fortschritt mit sich (vgl. Finkelgruen 2020, S. 209-2016, Kaufhold 2020).

Zentrale Protagonisten der Edelweißpiraten

In Köln waren es vor allem Personen, aus kommunistischen Familien, die sich ab 1978 öffentlich zu den Edelweißpiraten bekannten: neben Jülich vor allem Fritz Theilen, Heinz Humbach und Gertrud Koch. Dabei galten diese Jugendlichen, ideologisch mehrheitlich nicht gebundenen und sich nach Freiheit und Autonomie sehnend, bei den Kommunist*innen in der Nachkriegszeit als eher „unzuverlässige Gesellen“. Über die Edelweißpiraten wollte man nicht sprechen, eher über das „Nationalkomitee Freies Deutschland“ (NKFD). Diese 1943 in Köln entstandene und vor allem aus Kommunist*innen und weiteren Parteien bestehende Oppositionsgruppierung umfasste 200 Personen und hatte am Sülzgürtel 8 seinen Sitz. Parallel zur Hinrichtung der Edelweißpiraten wurde der Führungskern des NKFD festgenommen. 

Jean Jülichs zwei Jahre älterer Freund, der Kommunist Fritz Theilen (1927 – 2012), bekannte sich früh zu den Edelweißpiraten. Seine bereits im Jahr 1984 erschienenen autobiografischen Erinnerungen (Theilen 1984) fanden eine stärkere Rezeption. Der Edelweißpiratenforscher von Hellfeld, mit Finkelgruen vertraut, steuerte ein Vorwort sowie Begleitmaterial zum Buch bei, in dem die Edelweißpiraten als „Verfolgte und Opfer des Faschismus“ (S. 7) benannt werden. „Konservative“ Publizist*innen wollten dies nicht gelten lassen und konstruierten in ihren Büchern eine groteske Separierung zwischen den „unpolitischen“ Jugendlichen einerseits und dem „kriminellen“ Widerstand der Ehrenfelder Gruppe und insbesondere des ermordeten Hans Steinbrück andererseits (vgl. Kaufhold 2020). Dass sich bis heute herabsetzende Darstellungen zu Steinbrück, Goeb und Rheinberger auf der Website des EL-DE Hauses finden, ist schwer erträglich, insbesondere für Finkelgruen (2020, S. 209-216, S. 254f.) und Finkelgruens langjährigen Freund Gerhart Baum (Baum 2020). Der linksliberale Kölner hatte gemeinsam mit Prof. Ulrich Klug (FDP) maßgeblichen Anteil an der Rehabilitierung der Edelweißpiraten.

Zurück zu Fritz Theilen: Theilen beschreibt sein Engagement bei den Navajos und den Edelweißpiraten ab seinem zehnten Lebensjahr, die politische Repression und seine Enttäuschung, dass er in Köln „unsere Träume und Ideale aus der bündischen Jugend unter den Nazis“ nicht zu verwirklichen vermochte (Theilen 1984, S. 45). Theilen wurde im EL-DE Haus verhört und beteiligte sich als Lehrling in den Ford-Werken an Sabotageakten gegen die Nazis. Er engagierte sich im Untergrund und überlebte mit Glück. Die Albträume „über die Zeit der Flucht und der Verfolgung“ sei er „bis zum heutigen Tag“ nicht mehr losgeworden (ebd., S. 195). Voller Empörung beschreibt er die Nachkriegsjahrzehnte, in denen die Diffamierung und Kriminalisierung der Edelweißpiraten nie aufgehört habe, auch nicht durch Publizist*innen. Theilen trat immer wieder gemeinsam mit Jülich und „Mucki“ Koch als Zeitzeuge auf, so auch in Dietrich Schuberts frühem Kinofilm „Nachforschungen über die Edelweißpiraten“ (1980). 2011, ein Jahr vor seinem Tode, wurde Theilen von Roters für seinen Mut ausgezeichnet (vgl. Kaufhold 2020, S. 251-258). 2006 folgten die Erinnerungen der Edelweißpiratin und Widerständlerin Gertrud „Mucki“ Koch, die gleichfalls einen maßgeblichen Anteil an der Erinnerung an den jugendlichen Widerstand hatte.

Der Kampf um die Erinnerung

Der Kampf um die Anerkennung der wenigen Kölner Jugendlichen, die nicht bei den Nationalsozialisten mitgemacht haben, setzte erst über 30 Jahre nach Ende der Nazizeit ein. Die Täter und die Zuschauer*innen, also die große Majorität der für die Shoah Verantwortlichen, galten hingegen als ein anerkannter Teil der kollektiven „Erinnerung“. Yad Vashem ehrte auf Grundlage der journalistischen Forschungen Finkelgruens (vgl. Finkelgruen 2020, Kaufhold 2020a) 1984 bewusst Personen aus drei unterschiedlichen Opfergruppen: den Edelweißpiraten Jean Jülich, den hingerichteten Edelweißpirat Bartholomäus Schink und den Widerständler und späteren Diplomaten Michael Jovy. Die Kriminalisierung der Edelweißpiraten wurde auch in den folgenden 21 Jahren durch führende Kölner Sozialdemokrat*innen aufrecht erhalten. Linksliberale FDP-Vertreter (Baum, Ulrich Klug und Finkelgruen), Teile der SPD und eine breitere Bewegung erinnerungspolitisch Engagierter stemmten sich dem entgegen. 

Der Kölner Regierungspräsident Jürgen Roters (SPD) sorgte in sehr umsichtiger Weise‚ im persönlichen Kontakt zu den noch lebenden Edelweißpiraten im Jahr 2005 für deren symbolische Rehabilitation. Die teils abstrus anmutenden wissenschaftlichen und journalistischen Publikationen über die Edelweißpiraten der vergangenen 40 Jahre (vgl. Kaufhold 2020) demonstrieren die Stärke des Wunsches nach Vergessen, nach der Ausstoßung und fortbestehenden Kriminalisierung der jugendlichen Unangepassten. Die Verleugnung der verbrecherischen Vergangenheit, die familiäre Identifikation mit den NS-Tätern und Mitläufern bestehen als Wunsch fort – in jeder neuen Generation. Jede Erinnerung ruft die Gegenreaktion der Verleugnung wach. Es erinnert an die Aussage des in Wien gebürtigen israelischen Psychoanalytikers Zvi Rix, dass die Deutschen den Juden den Holocaust niemals verzeihen würden. 

Der 95-jährigen Edelweißpiraten mit jüdischem Familienhintergrund, Wolfgang Schwarz – dessen Bruder Günther gehörte zu den 13 am 10.11.1944 Hingerichteten – ist der letzte noch lebende Edelweißpirat. Am 10.11.2019 trat er 93-jährig noch einmal am Ehrenfelder Edelweißpiratendenkmal in der Heute-Sendung als Zeitzeuge auf, der die Verbrechen erinnerte.

Die kontinuierliche musikalische Erinnerung an die Edelweißpiraten beim jährlichen Edelweißpiratenfestival (vgl. Krauthäuser et. al. 2016), die von Jülich, Koch und weiteren Edelweißpiraten in deren letzten Lebensjahren in persönlicher Weise unterstützt wurde, erscheint als die angemessenste Form der Erinnerung an den jugendlichen Widerstand und seine  Lieder.   

Literatur

Finkelgruen, P. (2011): Erinnerungen an Jean Jülich, haGalil, 5.12.2011: https://www.hagalil.com/2011/12/juelich-2/

Finkelgruen, P. (2020): „Soweit er Jude war…“. Moritat von der Bewältigung des Widerstandes – die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln 1944“. Mit einem Vorwort von Gerhart Baum. Herausgegeben von R. Kaufhold, A. Livnat und N. Englhart. BoD. ISBN-13: 9783751907415

Jülich, J. (2003): Kohldampf, Knast un Kamelle. Ein Edelweißpirat erzählt sein Leben. Köln: KiWi.

Kaufhold, R. (2014): Eine späte Rehabilitierung. Eine Erinnerung von Peter Finkelgruen an einen ehemaligen Widerstandskämpfer (Georg Ferdinand Duckwitz und Michael Jovy),  https://www.hagalil.com/2013/12/edelweisspiraten-2/

Kaufhold, R. (2020): Die „Kölner Kontroverse“? Bücher über die Edelweißpiraten. Eine Chronologie. In S. 217-342, in: Finkelgruen (2020), S. 217-342

Koch, G. (2006): Edelweiß. Meine Jugend als Widerstandskämpferin.

Krauthäuser, J./K. Mescher/ B. de Torres (2016): Edelweißpiratenfestival. Eine Dokumentation in Text, Bild und Ton. Köln: Dabbelju Verlag.

Theilen, F. (1984): Edelweißpiraten. Geschichte eines Jugendlichen der trotz aller Drohungen nicht bereit war, sich dem nationalsozialistischen Erziehungsanspruch unterzuordnen. Köln.

Von Hellfeld, M. (1981): Edelweißpiraten in Köln. Jugendrebellion gegen das 3. Reich. Köln.

 

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