Im langen Schatten der Entnazifizierung. Familiäre Erinnerungen an Helfer, Opfer und Täter
Beitrags-Autor Profil / Kontakt
Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Hanne Leßau
Befragt man Deutsche nach ihren familiären Erinnerungen an die NS-Zeit, stellt sich ein Befund immer wieder ein: Sie überschätzen die Hilfsbereitschaft und den Widerstandsgeist ihrer Vorfahren und unterschlagen deren Mitwirkung an der nationalsozialistischen Ausgrenzungs- und Verbrechenspolitik stark. In der dritten MEMO-Studie aus dem Jahr 2020 (MEMO 2020) etwa gaben jeweils rund ein Drittel der Befragten an, dass eigene Angehörige zu den „Opfern“ des Nationalsozialismus gehört (35,8%) oder potenziellen NS-Opfern geholfen hätten (32,2%). „Täter“ machten in der eigenen Verwandtschaft hingegen weniger als ein Viertel (23,2%) der Befragten aus. Ältere Umfragen zeigen Ähnliches, was bereits seit Jahren Zweifel am Erfolg der deutschen Erinnerungskultur nährt (etwa Salzborn 2020).
Die inzwischen fast sprichwörtliche Formulierung für diesen Befund warf vor zwei Jahrzehnten eine Gruppe von Sozialpsycholog*innen auf, als sie anhand von Mehrgenerationengesprächen der Tradierung von Erinnerungen im Familiengedächtnis nachgingen (Welzer u.a. 2002). Die Thesen ihrer Studie „Opa war kein Nazi“ prägen die Diskussion bis heute und führen die Unterschlagung von Täterschaft vor allem auf ein gegenwärtiges Bedürfnis zurück: Die nachfolgenden Generationen möchten ihre Verwandten in Distanz zum Nationalsozialismus sehen, und dies umso stärker, so Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall, je besser die Nachkommen über die Verbrechen des Nationalsozialismus informiert seien. „Gerade das Wissen, dass der Nationalsozialismus ein verbrecherisches System war, das Millionen von Opfer gefordert hat, ruft in den Nachfolgegenerationen das Bedürfnis hervor, eine Vergangenheit zu konstruieren, in der ihre eigenen Verwandten in Rollen auftreten, die mit den Verbrechen nichts zu tun haben“ (ebd.: 207). Mit dieser Einschätzung verbindet sich eine eher pessimistische Sicht auf die Möglichkeiten kritisch-historischer Aufarbeitung, die notwendigerweise an die Grenzen der emotionalen Bedürfnisse familiärer Bindungen stoßen müsse.
Entnazifizierung und biografisches Erinnern
Diese These besitzt zweifellos ihre Plausibilität, lässt aber eine entscheidende Frage offen: Woher stammen die Geschichten, die im Familiengedächtnis von Generation zu Generation weitergegeben werden? Begibt man sich auf die Suche, landet man an einem eher überraschenden Ort: der Entnazifizierung. Dies erstaunt, gilt die administrative Überprüfung der Deutschen auf ihre NS-Vergangenheit in den ersten Nachkriegsjahren doch heute gemeinhin als ein gescheitertes Projekt, in dem Lug und Trug, taktisches Lavieren und die Suche nach Schlupflöchern vorgeherrscht hätten. Doch dieses Negativbild der Entnazifizierung erzählt mehr über die Rolle, die der Personalüberprüfung bis heute als Gegenbild zum Konzept einer kritischen Erinnerung zukommt, als über die Entnazifizierung selbst. Diese war in den 1940er Jahren gerade dadurch gekennzeichnet, dass hier nicht einfach die so schnell zur Vergangenheit gewordene NS-Diktatur im Allgemeinen verhandelt wurde, sondern die individuelle Rolle von Einzelnen. So viele Deutsche wie in keinem anderen Zusammenhang sahen sich in der Entnazifizierung mit Fragen nach ihrer Vergangenheit im Nationalsozialismus konfrontiert. Und diese Fragen erforderten nicht allgemeine Äußerungen, sondern Auskünfte und Erklärungen zum eigenen Fall. Dies machte die Entnazifizierung in der frühen Nachkriegszeit zum wichtigsten Ort, an dem individuelle NS-Vergangenheiten befragt, erklärt, verhandelt und bewertet wurden.
In der durchaus aufwendigen Vorbereitung der Prüfverfahren und in der Interaktion mit den Entnazifizierungsstellen schufen die zu Überprüfenden Deutungen ihrer eigenen NS-Vergangenheit, die die eigene Rolle im Nationalsozialismus erklären und damit mögliche Sanktionen verhindern sollten. Diese „Entnazifizierungsgeschichten“, wie ich diese Erzählungen nenne, die ich in einer ausführlichen Studie untersucht habe (Leßau 2020), waren jedoch mehr als strategisch entworfene Rechtfertigungen. In ihnen drückt sich auch die biografische Sicht der Betreffenden auf das eigene Leben aus, was sich etwa daran zeigt, dass die gegenüber den Entnazifizierungsinstanzen vorgebrachten Deutungen auch im Privaten und nach Abschluss der Entnazifizierung über Jahrzehnte weitererzählt wurden. In vielen Fällen wurden die Entnazifizierungsgeschichten dabei zum elementaren Bestandteil biografischer Erinnerungen, wie sich etwa mit dem Vergleich zwischen Entnazifizierungsunterlagen und Autobiografien zeigen lässt (Leßau 2020: 437-473).
Der Holocaust als blinder Fleck privater Erinnerungen
Auch der Gruppe um Harald Welzer war aufgefallen, dass die an der Jahrtausendwende beobachteten Familienerinnerungen auf „verblüffende Weise“ Berichten aus dem ersten Nachkriegsjahrzehnt entsprachen (Welzer u.a. 2002: 206), ohne dass sie diesem Zusammenhang genauer nachgingen. Sich der Entnazifizierung als noch immer prägendem Moment der familiären Erinnerungen an den Nationalsozialismus bewusst zu werden, bietet Chancen, die Umfrageergebnisse und die damit zusammenhängenden „Erinnerungslücken“ besser zu verstehen. Denn das mangelnde Bewusstsein für die Mittäterschaft eigener Vorfahren ist, wie Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall ganz richtig betonten, Ausdruck einer grundsätzlichen Perspektive, in der „die Vernichtung der europäischen Juden nur als beiläufig thematisiertes Nebenereignis vorkommt“. Einen „systematischen Platz im deutschen Familiengedächtnis“ besitze der Holocaust nicht (ebd.: 210). Stattdessen liefen dessen Erinnerungen darauf hinaus, „Deutsche“ und „Nazis“ als „zwei völlig verschiedene Personengruppen“ zu kennzeichnen: bei Erzählungen, dass Verwandte „in die Partei ‚eintreten mussten‘“; dass diese dies oder jenes „im Gegensatz zu den ‚Nazis‘ nicht aus Überzeugung“ getan hätten; dass sie „im Rahmen ihrer Funktionen“ für Partei oder Staat stets versucht hätten, „sich wie gute Menschen zu verhalten“ (ebd.: 205). Es sind solche Geschichten, die sich bei den Fragen nach „Opfern“ und „Helfern“ in der eigenen Familie zu den hohen Zahlenwerten addieren.
Die Einlassungen der Deutschen in ihren Entnazifizierungsverfahren der späten 1940er Jahre lassen sich in der Tat nahezu identisch kennzeichnen (Leßau 2020: 213-267). Interessant ist an diesem Umstand aber, dass sich ihr Zuschnitt im historischen Blick nicht alleine aus den Absichten der Verfahrensbetroffenen erklären lässt. Mindestens ebenso sehr wurde dieser Zuschnitt durch den institutionellen Kontext bestimmt, in dem die Entnazifizierungsgeschichten entstanden. Von der Vergangenheit sprachen die Deutschen in den Prüfverfahren nicht anlasslos, sondern auf Aufforderung, die sie mittels eines umfangreichen Fragebogens erreichte. Dieser rahmte das Sprechen über individuelle NS-Vergangenheiten in der Entnazifizierung entscheidend, indem er bestimmte Perspektiven und Themen festlegte, andere hingegen unberücksichtigt ließ. Im Interesse einer praktikablen Durchführung der Entnazifizierung beschränkte sich der Fragebogen dabei vor allem auf geschlossene, häufig nur mit Ja oder Nein zu beantwortende Fragen nach Mitgliedschaften und Funktionärsämtern in einer Reihe von politischen Organisationen und staatlichen Institutionen. Nach der Beteiligung an nationalsozialistischen Verbrechen fragte der Fragebogen nicht; nicht einmal nach dem Wissen um diese. Deren Aufklärung war Aufgabe der Strafjustiz, nicht der Entnazifizierungsbürokratie (Raim 2013). Dass die Deutschen in ihren Überprüfungsverfahren vor allem über Mitgliedschaften und Funktionärstätigkeiten sprachen, nicht aber über die Judenvernichtung und andere Massenverbrechen des Nationalsozialismus, lag insofern auch entscheidend daran, dass sie hiernach nicht gefragt worden waren.
Formen der Distanzgewinnung
Der Fragebogen und die weiteren Regeln der Prüfverfahren bestimmten aber nicht nur in diesem Sinne, worüber in der Entnazifizierung (nicht) gesprochen wurde. Sie prägten vor allem die Art und Weise, wie sich die Deutschen zu ihrer Vergangenheit im Nationalsozialismus positionierten. Zwei Dinge waren hierfür entscheidend: Erstens honorierte die Entnazifizierung gerade keine kritische Haltung zur eigenen Vergangenheit. Mit dem Fragebogen sollte eine Einschätzung über politische „Verlässlichkeit“ einer Person im Nachkrieg gerade durch einen Blick auf dessen Vergangenheit geklärt werden. Insofern mussten Betroffene Distanz zum Nationalsozialismus eben auch schon für diese Vergangenheit behaupten. Eine Haltung, die eine engagierte Unterstützung des Nationalsozialismus als Fehler eingestand, für den man sich nun im Nachkrieg schäme, hätte vielleicht Anerkennung unter dem Prüfpersonal gefunden. Sie hätte aber dennoch scharfe Sanktionen nach sich gezogen, weil für die abschließende Kategorisierung die „Belastungen“ aus der Vergangenheit entscheidend waren, nicht eine reuige oder selbstkritische Haltung in der Gegenwart.
Diese Aufgabe, sich bereits für die Zeit vor 1945 in Distanz zum Nationalsozialismus zu setzen, lösten die zu entnazifizierenden Deutschen ganz überwiegend nun nicht damit, dass sie dreist logen und etwa Mitgliedschaften oder Ämter in NS-Organisationen verschwiegen. Schon lange weiß die historische Forschung, dass das Ausmaß der „Fragebogenfälschung“ ausgesprochen gering war (etwa Niethammer 1972). Stattdessen versuchten die Deutschen, sich in der Entnazifizierung in Distanz zum Nationalsozialismus zu bringen, indem sie ausführlich von ihrem eigenen Leben erzählten. Hierfür schuf der Fragebogen, das ist der zweite Punkt, ungeplant eine hervorragende Ausgangslage. Seinem pragmatischen Schematismus, der aus formalen „Belastungsmerkmalen“ auf das Verhältnis zum Nationalsozialismus schloss, hielten viele zu Überprüfende ihre jeweiligen Biografien entgegen und betonten, dass diese mit den allgemeinen Kriterien der Entnazifizierung nicht angemessen bewertet werden könne. Dass sie etwa Mitglied in der NSDAP geworden seien, so argumentierten hunderttausende Deutsche, würde in ihrem Fall nichts über ihre Einstellung zum Nationalsozialismus aussagen, weil für den Parteieintritt besondere Umstände verantwortlich gewesen seien. Diese schilderten zahllose Deutsche den Entnazifizierungsstellen durchaus ausführlich mit biografischen Erzählungen über ihr Leben, die die „innere Einstellung“ der betreffenden Personen zum Nationalsozialismus besser zu kennzeichnen vorgaben als die standardisierten Angaben des Fragebogens.
Aus dem Schatten der Entnazifizierung heraustreten
Nicht was man getan hatte, stand insofern in der Entnazifizierung zur Disposition. Vielmehr suchten der Fragebogen und die Einlassungen der Verfahrensbetroffenen die Frage zu beantworten, was jemand gewesen war, nämlich „Nationalsozialist“ oder nicht. Erzählungen davon, wie man NS-Opfern geholfen hatte, wie man gegen Ungerechtigkeiten wenigstens im Rahmen des Möglichen protestiert hatte, wie man Nachbar*innen oder Arbeitskolleg*innen nicht bei der Gestapo angezeigt hatte, zeichneten insofern nicht deshalb ein falsches Bild von der Vergangenheit, weil sie erfunden wurden, sondern weil sie als Ausdruck einer inneren Einstellung ausgegeben wurden, die andere Momente des Zustimmens und Mitmachens überdeckte. Wo man das NS-Regime unterstützt hatte, wo man in Organisationen eingetreten war oder für sie Ämter erfüllt hatte, war dies in den Entnazifizierungsgeschichten stets nur auf äußeren Anlass, auf sozialen Druck oder berufliche Verpflichtungen hin geschehen. Mit dieser Trennung zwischen innerlicher Einstellung und äußerlichen Zwängen gelang es zahllosen Deutschen, in der Entnazifizierung Erzählungen über das eigene Leben zu finden, die ohne Lügen auskamen und dennoch das falsche Bild einer scharfen Grenze zwischen sich und „den Nationalsozialisten“ zeichneten.
Nicht nur diese falschen Bilder spuken bis heute in den Familiengedächtnissen vieler Deutscher herum. Es ist vor allem die mit ihnen verbundene Perspektive auf individuelle NS-Vergangenheiten, die den Blick der Nachkommen auf ihre eigene Familiengeschichte bis in die Gegenwart bestimmt. Im öffentlichen Erinnern an den Nationalsozialismus ist das anders. Hier haben zahlreiche erinnerungspolitische Einschnitte seit den 1960er Jahren dafür gesorgt, dass der Blick auf „die Nationalsozialisten“ inzwischen vor allem von dem gelenkt wird, „was sie taten und weniger von dem, was sie waren“ (Herbert 2004: 39). Im familiären, privaten Erinnern blieben solche weitreichenden Einschnitte allerdings aus, die zu einer Neujustierung der Kriterien und Perspektiven des Erinnerns zwangen. Insofern ließen sich die beständigen Umfragezahlen statt als Ergebnis emotionaler Bedürfnisse der Nachgeborenen oder einer verweigerten Aufarbeitung auch einfach als Ausdruck einer eigentlich überkommenden, aber eben tradierten Art verstehen, über den Nationalsozialismus zu sprechen. Ihr mit der Popularisierung anderer Perspektiven und Kriterien ein Ende zu setzen, wäre eine Aufgabe für die gegenwärtige Erinnerungsarbeit, um das familiäre Gedächtnis aus dem langen Schatten der Entnazifizierung zu befreien.
Literatur
Herbert, Ulrich: »Wer waren die Nationalsozialisten?« Typologien des politischen Verhaltens im NS-Staat, in: Hirschfeld, Gerhard/Jersak, Tobias (Hg.): Karrieren im Nationalsozialismus. Funktionseliten zwischen Mitwirkung und Distanz, Frankfurt a. M./New York 2004, S. 17-42.
Leßau, Hanne: Entnazifizierungsgeschichten: Die Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit, Göttingen 2020.
Multidimensionaler Erinnerungsmonitor (MEMO-Studie) III/2020, hrsg. von Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung/Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft.
Niethammer, Lutz: Entnazifizierung in Bayern. Säuberung und Rehabilitierung unter amerikanischer Besatzung, Frankfurt a. M. 1972.
Raim, Edith: Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945–1949, München 2013.
Salzborn, Samuel: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern Leipzig/Berlin 2020.
Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a. M. 2002.
- |
- Seite drucken
- |
- 27 Okt 2021 - 06:20