Empathie statt kritische Geschichtsvermittlung - Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Franziska Göpner
Am 21.06.2021 wurde in Berlin das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung eröffnet. Der Eröffnung vorangegangen sind jahrelange Kontroversen um die inhaltliche Ausrichtung eines solchen Erinnerungsortes. Dabei wurde insbesondere um die Frage gestritten, wie der Zwangsmigration der Deutschen im Zuge des Zweiten Weltkriegs erinnert werden kann, ohne damit die vorangegangenen nationalsozialistischen Verbrechen und die deutsche Verantwortung zu relativieren. Kritiker*innen sahen im Projekt eines solchen Erinnerungsorts im Zentrum Berlins den Versuch, die deutschen Opfer der Zwangsmigration mit den Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen und des Holocaust gleichzusetzen (u.a. Hahn/Hahn 2008). Die Idee eines europäischen Zentrums gegen Vertreibungen reagierte auf diese Kritik, worin das Zentrum als ein gemeinsamer europäischer Erinnerungsort konzipiert wurde. 2008 wurde schließlich die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung gegründet mit dem Ziel, „im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext (...) der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wachzuhalten“ (vgl. Bundestagsdrucksache 16/10571, S. 5). Die neu eröffnete Ausstellung des „Lern- und Erinnerungsortes zu Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration in Geschichte und Gegenwart“, wie sich das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung selbst versteht, verortet die Geschichte der Zwangsmigration der Deutschen in den Kontext der nationalsozialistischen Verbrechen und des Holocaust. Entlang eines Rundgangs durch die Ausstellung zeigt der folgende Artikel exemplarisch auf, wie eine stark subjektive und emotionalisierende Erzählweise jedoch die historischen Zusammenhänge zu verwischen droht. Die europäische und globale Rahmung des Themas Zwangsmigration schafft dabei die Voraussetzungen dafür, die Geschichte der Zwangsmigration der Deutschen in den Jahren 1944/1945 als eine einseitige Geschichte von Opfern zu erzählen.
Ein Nebeneinander von Opfergeschichten
Die Ausstellung des Dokumentationszentrums gliedert sich in zwei Ebenen. Im ersten Teil der Ausstellung werden die Themen Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration als Bestandteil einer europäischen und globalen Geschichte eingeführt. Darüber hinaus wird über die Einbeziehung von aktuellen Fluchtbewegungen ein Gegenwartsbezug und somit eine Überzeitlichkeit der Geschichte aufgezeigt. Bereits dieser erste Teil der Ausstellung ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl an einzelnen Geschichten und historischen Beispielen, die u.a. durch Schaukästen, Videoelemente und Infografiken multimedial präsentiert werden. Trotz (oder gerade wegen) dieser Vielfalt der Medien und Objekte bleibt jedoch der rote Faden an vielen Stellen unklar. Die Ausstellung führt die Konzepte der Nation und des Nationalstaats als Ursachen für Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration ein, die mit der Idee einer ethnisch homogenen Bevölkerung verbunden sind. Auch Krieg und Gewalt werden als wichtige Gründe für Fluchtbewegungen benannt. Hier zeigt sich eine Engführung, die beispielsweise politische Motive einer Flucht und damit auch aktive Entscheidungsmöglichkeiten von Menschen ausblendet. Bereits an dieser Stelle der Ausstellung werden historische Beispiele von Zwangsmigrationen aufgezeigt – die Flucht der deutschen Bevölkerung vor der Roten Armee aus Ostpreußen im Herbst 1944, die Fluchtbewegungen im Rahmen des Koreakriegs 1953 bzw. des Kriegs in der Ukraine 2014.
Die genaue Auswahl dieser Geschichten bleibt unklar, die ausgewählten Beispiele stehen nebeneinander und werden nur knapp und ohne eine weiterführende historische Einordnung erläutert. In einer Videoinstallation zum Thema „Verlust und Neuanfang“ erzählen Betroffene auf lebensgroßen Leinwänden von ihren Erfahrungen der Flucht und den daran gebundenen Herausforderungen, in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Auf visueller Ebene werden hier sehr unterschiedliche Geschichten nebeneinander gestellt: die sogenannten Boat People aus Südvietnam, deutsche Vertriebene zum Ende des Zweiten Weltkriegs sowie Geflüchtete aus dem ehemaligen Jugoslawien. Mit Blick auf die subjektiven Erfahrungen von Verlust und Neuanfang ähneln diese Geschichten möglicherweise einander, doch die historischen und politischen Rahmenbedingungen unterscheiden sich deutlich. Diese Darstellung eines solchen universellen Opfers macht auch weiterführende Fragen von Verantwortung unsichtbar (vgl. Levy/Sznaider 2005: 3). In diesem Nebeneinander der Geschichten der Betroffenen bleibt ein Eindruck von unterschiedslosem subjektivem Leid zurück.
Ergänzend zu dieser historischen und inhaltlichen Einführung verknüpft die erste Ebene der Ausstellung die Geschichte mit jüngeren Beispielen globaler Fluchtbewegungen. Dabei werden auch rechtliche und politische Fragen thematisiert, u.a. die Entwicklung der internationalen Gerichtsbarkeit oder auch das deutsche Asylsystem als politisches Instrument.
Eine Ausstellungswand zum Thema „Lager“ stellt Fotos von Geflüchtetenlagern nebeneinander und verknüpft damit unterschiedliche zeitliche und historische Kontexte. Das Bild eines Aufnahmelagers in der alten Bundesrepublik aus den späten 1940er Jahren steht dabei beispielsweise neben einem Lager für syrische Geflüchtete aus dem Jahr 2016 in Berlin oder einem Lager für afghanische Geflüchtete in Pakistan. „So unterschiedlich die Ursachen von Flucht und Vertreibung sind – die Probleme, vor denen Menschen fern ihrer Heimat stehen, ähneln sich“ - so der begleitende Ausstellungstext. Diese Fotos der Lager verbleiben auf der Ebene der Betroffenheit – weder thematisieren sie die konkreten Ursachen der Flucht, noch ermöglichen sie eine Beschäftigung mit den ökonomischen und politischen Bedingungen der Aufnahmeländer, die für die Aufnahme von Geflüchteten zentral sind. Ergänzt werden die Bilder durch unterschiedliche persönliche Objekte von Menschen auf der Flucht. Ein Beispiel dafür ist das Liederbuch von Anneliese Bähr, die 1945 mit ihrer Familie aus Ostpreußen geflohen ist und anschließend in einem Lager in Dänemark gelebt hat. Das Liederbuch beinhaltet Texte über die traurigen Erfahrungen des Mädchens. Hier zeigt sich erneut, wie eine stark empathiegeleitete und subjektive Erzählweise die Auseinandersetzung mit den Themen Flucht und Zwangsmigration dominiert. Im Sinne einer kritischen Geschichtsvermittlung wären weiterführende Informationen zu Anneliese Bähr und ihrer Familie notwendig, die auch deren Geschichten vor und nach der Flucht aus Ostpreußen wie auch ihre Rollen in Bezug auf das nationalsozialistische System erzählen. Und damit nicht auf einer reinen Darstellung als Opfer verharren.
Nebeneinander der Geschichten statt historische Kontextualisierung
Die zweite Ebene der Ausstellung legt den Fokus auf die „Flucht und Vertreibung der Deutschen“. Der Rundgang führt zunächst durch einen Raum, in dem die Elemente der nationalsozialistischen Ideologie dargestellt werden. Daran schließen sich Vitrinen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten an, die einen Fokus auf einzelne Aspekte der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik und speziell den Holocaust im östlichen Europas legen. Die Morde der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD in der Ukraine werden ebenso behandelt wie der sogenannte „Hungerplan“ als Strategie der Kriegsführung gegen die Sowjetunion. Eine Videoinstallation thematisiert zudem die Pläne der Alliierten zur Neuordnung Europas zum Ende des Zweiten Weltkriegs.
Die Geschichte der NS-Verbrechen und speziell des Holocaust werden als Vorgeschichte und Voraussetzung der darauffolgenden Zwangsmigrationen eingeführt. Diesem historischen Kontext folgen zahlreiche Einzelgeschichten und Objekte, die das Schicksal der Betroffenen der Zwangsmigration der Deutschen in den Jahren 1944/1945 erzählen. Doch die vorangegangenen Verbrechen spielen bei der Narration der Einzelschicksale überwiegend keine Rolle mehr. Die Ausstellung legt hier einen besonderen Fokus auf die Geschichten von Frauen und Kindern, die als besonders unschuldige Opfer erscheinen. Dabei wird die Abwesenheit der Männer, die zu dieser Zeit in großer Zahl als Teil der deutschen Wehrmacht an der Front im Einsatz waren, nicht thematisiert. Beispielsweise wird eine unfertige Stickerei von Magdalena Ferger ausgestellt, die mit ihrer Familie im Oktober 1944 aus der Vojvodina im heutigen Serbien in Richtung Österreich geflohen ist. Die begonnene Stickerei wurde durch die Flucht unterbrochen, direkt im Schriftzug beim Wort Herz, was den Bruch im Leben der Familie eindrucksvoll bebilden soll. Diese subjektive Erzählweise der Ausstellung, die bereits im ersten Teil angelegt ist, erinnert an das biografische Lernen als Methode der Geschichtsvermittlung. Das biografische Lernen stellt die Geschichten einzelner Menschen mit ihren konkreten Erfahrungen und Handlungsspielräumen in den Mittelpunkt und verfolgt dabei das Ziel, einen komplexen historischen Zusammenhang besser erfahrbarer zu machen. Doch statt zu einem weiterführenden Verständnis beizutragen steht diese subjektivierende Erzählweise einem umfassenden Verständnis der historischen Prozesse eher entgegen. Die konkreten Vorgeschichten, Entscheidungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume der historischen Personen werden ausgespart. Insbesondere mit Blick auf die breite Unterstützung des NS-Systems durch die deutschen Minderheiten in Osteuropa ist diese Leerstelle jedoch problematisch. Die Frage der (Mit-)Täter*innenschaft wird auf einigen Ausstellungstafeln zwar angedeutet, doch die Täter*innen bleiben dabei meist nebulös. Trotz der vorangestellten Abbildung des nationalsozialistischen Verbrechenskomplexes entsteht hier der Eindruck eines Nebeneinanders, das es nicht schafft, die Verwobenheit der Geschichte sowie die Fragen von Ursachen und Wirkungen aufzuzeigen. Eine Fotowand, die die unterschiedlichen Prozesse der Zwangsmigration und Flucht in den Jahren rund um das Kriegsende illustrieren soll, stellt Bilder der Zwangsmigration der Deutschen neben das Foto des ersten Mahnmals für die jüdischen Opfer des Holocaust aus der Gedenkstätte Bergen-Belsen aus dem Jahr 1946. In dieser bildlichen Darstellung stehen die deutschen Opfer auf einer Stufe mit den jüdischen Opfern des Holocaust.
Kollektive Erinnerungen sind politisch
Die Ausstellung verfolgt den Anspruch, die Phänomene Flucht, Vertreibung, Zwangsmigration und ethnische Säuberung in ihrer Unterschiedlichkeit darzustellen. Auch diese Begrifflichkeiten sind für ein umfassendes Verständnis der historischen Geschehnisse und der daran gebundenen erinnerungspolitischen Fragen bedeutsam. Am Ende des ersten Teils der Ausstellung wird eine genauere Differenzierung der Begriffe vorgenommen, wobei jedoch insbesondere die politische Einordnung des Begriffs Vertreibung recht oberflächlich bleibt. Denn die Begriffe Vertreibung und Vertriebene sind keine neutralen Bezeichnungen, sie umfassen mit Blick auf die deutschen Bevölkerungsgruppen sehr unterschiedliche historische Prozesse – die (Zwangs-)Evakuierung durch die NS-Behörden, die Flucht vor der heranrückenden Roten Armee wie auch die durch die Potsdamer Konferenz geregelten Bevölkerungsverschiebungen (Hahn/Hahn 2006: 173). Dem Begriff Vertreibung kam in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik eine starke identitätspolitische Funktion, die auch gebunden war an politische und revanchistische Forderungen mit Blick auf die Gebiete in Polen und Tschechien. Die Vertriebenenverbände waren insbesondere in den frühen Jahren der Bundesrepublik eine einflussreiche politische Kraft und auch der Fokus der bundesdeutschen Erinnerungskultur lag lange auf der Erinnerung an die deutschen Opfer des Krieges und der Vertreibung.
Das Dokumentationszentrum verweist an einigen Stellen der Ausstellung auf diese Kontroversen um das Thema Vertreibung, doch eine klare politische Einordnung der Erinnerungskultur und auch der vorangegangen Debatten um den Ort an sich fehlen. Dies zeigt sich u.a. auch in der unkritischen Abbildung der Charta der Heimatvertriebenen aus dem Jahr 1950, die das „Recht auf Heimat“ als politische Forderung enthält und damit revanchistische Forderungen stützt.
Am Ende der Ausstellung ist eine ehemaligen „Heimatstube“ aus Gärtringen in Baden-Württemberg zu sehen, in der unzählige Alltagsobjekte ausgestellt sind, die als Erinnerung an die „verlorene Heimat“ von Betroffenen gesammelt wurden. Weder der Begriff der „Heimat“ und dessen politische Implikationen, noch die politische Rolle der Vertriebenenverbände als Interessenvertretung in der frühen Bundesrepublik werden an dieser Stelle kritisch aufgegriffen. An dieser Heimatstube lässt sich ein grundlegendes Problem des Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung aufzeigen: Ein zu einseitiger Fokus auf das Schicksal der deutschen Opfer der Zwangsmigrationen steht einer kritischen Vermittlung des zeithistorischen Geschehens wie auch dessen erinnerungspolitischer Einordnung entgegen.
Literatur
Deutscher Bundestag (2008): Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deutsches Historisches Museum“, Bundestagsdrucksache 16/10571, https://dserver.bundestag.de/btd/16/105/1610571.pdf, Stand 20.09.2021.
Hahn, Hans-Henning/Hahn, Eva (2006): Mythos „Vertreibung“. In: Hein-Kircher, Heidi/ Hahn, Hans-Henning (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. München: Beck, S. 335-351.
Hahn, Hans-Henning/Hahn, Eva (2008): Die „Holocaustisierung des Vertreibungsdiskurses“.
Historischer Revisionismus oder alter Wein in neuen Schläuchen? In: Deutsch-Tschechische-Nachrichten (DNT). Dossier Nr. 8, S. 1-28.
Levy, Daniel/Sznaider, Nathan (2005): Memories of Universal Victimhood. The Case of Ethnic German Expellees. In: German Politics and Society, Jg. 23, Heft 2, S. 1-27.
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- 8 Okt 2021 - 11:01