Inklusive Geschichte? Kulturelle Begegnung – Soziale Ungleichheit – Inklusion in Geschichte und Gegenwart
Bestellen
Von Tanja Kleeh
Der Sammelband „Inklusive Geschichte? Kulturelle Begegnung – Soziale Ungleichheit – Inklusion in Geschichte und Gegenwart“ aus dem Jahr 2021 erfasst die Ergebnisse der Ringvorlesung des Historischen Instituts der Universität Duisburg-Essen „zur Implementierung des Inklusionsgedankens in die Lehramtsstudiengänge im Fach Geschichte“ (S.5), wie Herausgeber Markus Bernhardt im einführenden Text schreibt. Der Bogen des Bandes sei in den 13 Beiträgen „von der Antike bis in die Gegenwart“ weit gespannt. Hauptsächlich gehe es den Autor*innen darum, „Anregungen für historische oder geschichtsdidaktische Fragestellungen zu gewinnen, um aus den curricular geprägten Zeitbereichen Orientierungswissen für die multikulturell und global geprägte Lebenswelt des 21. Jahrhunderts zu gewinnen“, so Bernhardt.
Markus Bernhardt selbst widmet sich dem „engen und weiten Begriff der Inklusion im Forschungs- und Bildungskontext der Gegenwart“ (S.53). Dabei gibt der Autor zu bedenken, dass es sich um ein emotional aufgeladenes Thema handelt, dass von allen Seiten kontrovers diskutiert wird. Daher gilt es laut Bernhardt immer genau nachzufragen, was Inklusion ist, welche Standpunkte erkennbar sind und was dahintersteckt (vgl. S.55)? Dementsprechend arbeitet Bernhardt verschiedene enge und weite Definitionen des Begriffes heraus. Auch zeichnet er die Debatte um Inklusion im pädagogischen Kontext nach und zeigt anhand nordrhein-westfälischer Schulen auf, wie diese (nicht) umgesetzt wird.
Weg von körperlichen Befindlichkeiten geht Christoph Marx in seinem Beitrag, der sich „Exklusion im Zeitalter der Globalisierung“ (S.17) widmet. Hierfür schaut der Autor beispielhaft auf Südafrika, anhand dessen sich Probleme der globalen Gegenwart exemplarisch und schon Jahrzehnte früher identifizieren und analysieren ließen. Es hätten sich dort Prozesse abgespielt und Brüche stattgefunden, „die wir in den letzten Jahrzehnten mit dem Phänomen der Globalisierung in Verbindung bringen“ (S.17). Dazu zählt für Marx etwa Kulturessentialismus, Kulturrelativismus, Interkulturalität und Transkulturalität. Aber auch Ethnozentrismus und Rassismus spielten sowohl in Südafrika als auch in der heutigen globalisierten Welt laut Marx eine zentrale Rolle. Marxs Überlegungen zufolge wird zwar von Kultur gesprochen, Rasse aber mitgemeint (S.29).
(Globale) Ungleichheiten macht auch Anja Weiß zu ihrem Thema. Sie untersucht, wie die Soziologie damit umgeht bzw. welche Lösungsansätze geboten werden. Neben dem Zugang von Karl Marx, der global dachte, wird auch Max Weber näher untersucht. In Weber sieht Anja Weiß den „Vorläufer soziologischer und mehrdimensionaler Theorien Sozialer Ungleichheit“ (S.36), auch wenn Weber selbst auf eine grenzüberschreitende Analyse verzichtete. Die Einschränkung der theoretischen Perspektive auf den Nationalstaat sei für eine Disziplin wie die Soziologie problematisch, schreibt Weiß weiter. Besser bewertet die Autorin in diesem Punkt die empirische Ungleichheitsforschung, die mehrere Faktoren miteinbezieht und mit der ländervergleichenden Mehrebenenanalyse den „State-of-the-Art“ bietet. Allgemein sieht Anja Weiß in globalen Ungleichheiten eine Herausforderung für das Fach Soziologie, da sie es zwingen, „mit einigen Gründungsmythen“ (S.48) zu brechen.
Den historischen Entwicklungen von Ungleichheiten und Inklusion sind mehrere Aufsätze gewidmet, unter anderem von Wolfgang Blösel, der einen Blick auf den Umgang mit Fremdem in der klassischen Antike wirft, Amalie Fößel schaut entsprechend auf das europäische Mittelalter. Wie Blösel argumentiert, seien die modernen europäischen Nationalstaaten in ihrer Bürger*innenstruktur deutlich homogener als antike Stadtstaaten: „Bürger und Fremde begegneten einander in den Gemeinweisen der Antike weit öfter als heutzutage.“ (S.77) Dies gilt sowohl für griechische als auch römische Konzepte eines (Stadt-) Staates.
Eine deutlich größere Abgrenzung von sogenannten „Randgruppen“ macht Amalie Flößel im Mittelalter aus. Hierfür untersucht sie den Umgang der Gesellschaft mit körperlich und geistig beeinträchtigten Menschen. Es gab verschiedene Möglichkeiten der Hilfestellungen, etwa Armenspeisungen und – wenn auch primitive – Hilfsmittel wie beispielsweise die ersten Brillen und Rollstühle. Jedoch spielte, wie Flößel feststellt, oft in die Unterstützung mit hinein, warum eine Person in diese Situation geraten war und welchen familiären Hintergrund sie mit sich brachte.
Ebenfalls dem Mittelalter, jedoch im religiösen Kontext, widmet sich Benjamin Scheller. Er betrachtet die Ausweisung der Jüdinnen*Juden. Der Autor vergleicht England, Frankreich, Spanien und das Königreich Neapel. Obwohl das Mittelalter an und für sich eine religiös plurale Epoche darstellt, schwand die Toleranz gegenüber dieser Vielfalt zunehmend. Vor allem die christliche Kirche grenzte sich immer mehr zum „nicht-christlichen“ ab. Dementsprechend folgten klare Grenzziehungen durch Praktiken wie „Segregation, Kennzeichnung und […] durch Vertreibung“ (S.144).
Ähnlich erging es den Sinti*zze und Romn*ja, deren Schicksal im Mittelalter Ralf-Peter Fuchs für den Rhein-Maas-Raum nachzeichnet. Fuchs fokussiert sich dabei auf Praktiken, „die auf die Exklusion der Menschen aus einer fremden Kultur hinauslaufen“ (S.180). Als Gegenpol hierzu steht der Begriff der Integration. Der Beitrag umfasst vor allem den rechtlichen Rahmen und die praktische Umsetzung.
Aus Sicht der Geschichtsvermittlung besonders interessant ist der Beitrag von Heinrich Theodor Grütter, „Das Eigene und das Fremde. Das Museum als Heterotop und Identitätsfabrik“. Entsprechend der Idee der New Museology, Museen auch und vor allem als politische Orte zu sehen, in denen verschiedene Gruppierungen konstruierte Bilder der Vergangenheit repräsentieren, geht Grütter davon aus, dass Museen entscheidend zur Bildung einer Identität beitragen. Demzufolge sind die einzelnen Museumstypen, die sich herausgebildet haben, ein Repräsentant der jeweiligen Identität. Grütter zählt etwa Migrationsmuseen, Vertriebenenmuseen und ethnologische Museen dazu.
Ute Schneider fragt in ihrem Aufsatz, ob sich nicht die Sozialgeschichte dem Thema Inklusion widmen müsste. Hierfür verknüpft die Autorin die Forderungen nach Entschädigungen und Unterstützungen der Geschädigten durch Contergan in den 1960er-Jahren und die Kämpfe um Unterstützung der Kriegsversehrten. Vor allem die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und der Gebrauch von Begrifflichkeiten liegen im Fokus der Autorin. Orientierung bietet ihr Stefan Zweig, der zwischen „Verkrüppelte[n], Kropfige[n] [und] Verstümmelte[n] unterschied“ (S.253f).
Fazit
Der Sammelband „Inklusive Geschichte?“ bietet ganz unterschiedliche Zugänge in das Feld Inklusion. Jede*r Autor*in definiert Inklusion auf eigene Weise, oft als Gegensatz zur Abgrenzung und Exklusion. Dies macht diesen Band wertvoll. Er kommt dadurch aber auch nicht über den Charakter der zugrundeliegenden Ringvorlesung hinaus. Für Didaktiker*innen finden sich etliche Anregungen, wie sowohl in der Lehre als auch der Vorbereitung dieser inklusiver gearbeitet bzw. die Vermittlung von Geschichte inklusiver gedacht werden kann.
- |
- Seite drucken
- |
- 28 Apr 2021 - 05:57