Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik
Von Thomas Hirschlein
Das Feld der inklusiven Geschichtsdidaktik hat in den vergangenen Jahren an Dynamik aufgenommen. Diskussionen um Inklusion und Diversität prägen zunehmend auch die allgemeine Geschichtsdidaktik. Gleichzeitig wächst an Schulen der Bedarf nach inklusiven und diversitätssensiblen Angeboten. Die fachwissenschaftliche Diskussion über inklusives Geschichtslernen und die empirische Forschung zu inklusiven Zugängen und Methoden stehen jedoch noch an ihren Anfängen und hecheln der schulischen Praxis hinterher.
Um das zu ändern, haben die vier Professor*innen für Geschichtsdidaktik Sebastian Barsch, Bettina Degner, Christoph Kühberger und Martin Lücke im Jahr 2020 das Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht im Wochenschau Verlag herausgegeben. Die Beiträge des Handbuchs liefern eine erste systematische Zusammenstellung der verschiedenen theoretischen Positionen und pragmatischen Ansätze im Feld der inklusiven Geschichtsdidaktik. Angesichts der dynamischen Entwicklung des Felds handelt es sich bei dem Handbuch um ein „Zwischenergebnis“ (S. 22), das zum Austausch und zur Weiterentwicklung der vorgestellten Überlegungen und Methoden anregen soll. Mit den versammelten Beiträgen unterstreichen die Herausgeber*innen zugleich die Relevanz inklusiver und diversitätssensibler Zugänge für die Geschichtsdidaktik im Allgemeinen.
Die Perspektive der vier Herausgeber*innen – und des Handbuchs – zeichnet sich durch ein weites Verständnis von Inklusion aus (S. 9). Inklusive Geschichtsdidaktik bedeutet für sie nicht eine spezifisch sonderpädagogische Betrachtung des Geschichtsunterrichts. Sie verstehen darunter vielmehr eine Geschichtsdidaktik, die Diversität auf allen Ebenen des Geschichtslernens reflektiert und berücksichtigt. Zum einen auf der Subjektebene, das heißt auf der Ebene der lernenden Schüler*innen. Historisches Lernen findet in einem gesellschaftlichen Kontext statt, der aus Sicht der Herausgeber*innen durch Vielfalt und soziale Ungleichheiten geprägt ist (S. 9). Soziale Differenzkategorien wie Behinderung, Klasse, Race, Gender und Sexualität wirken sich demnach unterschiedlich auf Schüler*innen, ihre Bildungswege und Zugänge zur Geschichte aus. Eine inklusive diversitätssensible Geschichtsdidaktik im Sinne der Herausgeber*innen stellt deshalb das „lernende Subjekt mit all seinen individuellen Voraussetzungen, Erfahrungen, Potenzialen etc.“ (S. 9f.) ins Zentrum der eigenen Überlegungen. Sie nimmt die individuellen Geschichten und Geschichtsbilder der Schüler*innen wahr, knüpft an diese an und ermöglicht mithilfe differenzierter Lernangebote unterschiedliche Aneignungsweisen von Geschichte im Unterricht (S. 10).
Die Herausgeber*innen sind der Auffassung, dass Diversität zum anderen auf der inhaltlichen Ebene des Geschichtsunterrichts eine zentrale Rolle spielt. Eine diversitätssensible Geschichtsdidaktik stellt infrage, welche bzw. wessen Geschichte erzählt und gelernt oder ignoriert wird (S. 11). Sie nimmt dabei Impulse aus neueren Zugängen zur Geschichte wie der Queer History und der Disability History auf. Indem letztere Diagnosen von Behinderungen historisch kontextualisiert, wirft sie einen kritischen Blick auf das Verhältnis zwischen der Konstruktion von Behinderungen, scheinbarer Normalität und gesellschaftlicher Diskriminierung (S. 11). Aus Sicht der Herausgeber*innen kann und soll ein inklusives Geschichtslernen, das auf der Inhaltsebene Diversität miteinbezieht und Machtverhältnisse in der Geschichte entlarvt, „zur Anerkennung und Wertschätzung gesellschaftlicher Vielfalt und zu einem liberalen und demokratischen Miteinander beitragen“ (S. 11).
In der Auswahl der Beiträge und der Vielfalt an behandelten Themen, Fragestellungen und Praxisbeispielen im Handbuch spiegelt sich das weite Verständnis von Inklusion und einer diversitätssensiblen Geschichtsdidaktik wider. Auf die Einleitung der Herausgeber*innen folgen in drei Kapiteln 37 Beiträge, die jeweils auf zehn bis zwanzig Seiten einen Aspekt genauer untersuchen. Die Mehrheit der Autor*innen kommt aus der Geschichtsdidaktik. Wissenschaftler*innen aus den Nachbardisziplinen wie der Sonderpädagogik, den Erziehungswissenschaften und der Soziologie ergänzen sie und verleihen dem Handbuch mit ihren Beiträgen einen interdisziplinären Charakter.
Das erste Kapitel „Theorie“ umfasst 14 Beiträge. Eine erste Gruppe an Beiträgen erläutert die zentralen Elemente des in der Einleitung skizzierten weiten Verständnisses von Inklusion für die Geschichtsdidaktik wie Subjektorientierung, Diversitätserfahrung, Diversität und Machtkritik oder unterschiedliche Ansätze zur Differenzierung von Lerngegenständen. Eine zweite Gruppe diskutiert die Bedeutung von Differenzkategorien wie Klasse, Race, Gender, Sexualität und Behinderung im historischen Denken und Geschichtsunterricht. Viele der Beiträge verbinden dabei theoretische Reflexion mit konkreten Anregungen und Ideen für ein inklusives historisches Lernen. So beleuchtet der Beitrag von Saskia Handro über Sprache und Diversität nicht nur den Einfluss von Sprache auf historisches Lernen, sondern stellt den Ansatz eines sprachsensiblen Geschichtsunterrichts und Methoden wie die Vereinfachung von historischen (Quellen-) Texten vor (S. 104ff.).
Die sieben Beiträge des zweitens Kapitels thematisieren „Geschichtsdidaktische Grundlagenbegriffe“ wie Narrativität und Konstruktcharakter von Geschichte, historische Imagination, historische Identitäten, Zeitbewusstsein und Quelle. Sie arbeiten zum einen die Bedeutung dieser Begriffe für einen diversitätssensiblen Geschichtsunterricht heraus. Zum anderen versuchen sie, diese allgemeinen Grundlagenbegriffe auf theoretischer Ebene im Sinne einer inklusiven Geschichtsdidaktik weiterzudenken.
Die Herausgeber*innen weisen zu Recht darauf hin, dass der Geschichtsunterricht nur dann inklusiv ist, wenn alle teilhaben können, das heißt Schüler*innen mit unterschiedlichen Sprachkompetenzen oder auch nichtsprechende Schüler*innen, die keine sprachliche Narration bilden können (S. 12). Ein wesentliches Ziel der inklusiven Geschichtsdidaktik ist es deshalb, sprachliche Zugänge zur Geschichte zu differenzieren und um Zugänge zu erweitern, in deren Zentrum die körperlichen und ästhetischen Erfahrungen der Schüler*innen stehen (S. 12). Die 16 Beiträge im dritten Kapitel zur „Pragmatik historischen Lernens“ stellen einige dieser Zugänge sowie deren Potenziale und Grenzen für die Unterrichtspraxis vor: von „Leichte Sprache und Visualisierung“ über „Sprachbildende Lernaufgaben im Geschichtsunterricht“ zu „Barrierefreiheit bei Quellen und Darstellungen“. Weitere Beiträge behandeln Methoden zur Diagnostik und Leistungsfeststellung im inklusiven Geschichtsunterricht und Inklusion bei der Entwicklung von Lehrplänen.
Inklusion und Diversität fordern, so die vier Herausgeber*innen, „zum Umdenken auf, historisches Denken in seiner Vielfalt wahrzunehmen und verschiedene Zugangswege zur Vergangenheit als möglich und/oder gleichberechtigt anzuerkennen“ (S. 12). Mit dem Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht setzten sie einen richtungsweisenden Impuls. Es liefert sowohl theoretische Denkanstöße für die fachwissenschaftliche Diskussion über Inklusion und Diversität als auch konkrete Methoden für inklusives Geschichtslernen im schulischen Alltag. Die Herausgeber*innen wünschen sich viele kritische Rezipient*innen. Es ist zu hoffen, dass ihr Wunsch in Erfüllung geht und viele Wissenschaftler*innen und Lehrer*innen aktiv zu diesem Umdenken beitragen, indem sie Ideen aus dem Handbuch in ihrer Theorie und im Geschichtsunterricht aufgreifen und weiterentwickeln.
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- 28 Apr 2021 - 05:56