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Diversität im Geschichtsunterricht – Der Anspruch eines Konzeptes und sein Bezug auf historisches Lernen

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Univ.-Prof. Dr. Martin Lücke hat eine Professur am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte der Freien Universität Berlin.

Von Martin Lücke

Das Schlagwort der Diversität hat sich in den vergangenen Jahren zu einem prominenten Impulsgeber in erziehungswissenschaftlichen Debatten entwickelt und ist auch in den Debatten der Geschichtsdidaktik angekommen. Erst im vergangenen Jahr erschien zum Beispiel ein eigenes Handbuch „Diversität im Geschichtsunterricht“, das Ansätze von Diversität mit dem Anspruch auf Inklusion verzahnt (vgl. Barsch u.a: 2020). Was aber bedeutet Diversität – und was bedeutet sie für Geschichtsunterricht?

„Diversität“ (engl. „Diversity“) bedeutet Verschiedenheit und Vielfältigkeit. Im Unterschied zum Begriff der Heterogenität, der in bildungswissenschaftlichen Zusammenhängen eher Phänomene der Leistungsheterogenität bezeichnet, richtet sich der Blick von Diversität breiter und machtkritischer auf die Unterschiedlichkeit gesellschaftlich relevanter Zugehörigkeiten und betrachtet soziale Differenzlinien, entlang derer solche Zugehörigkeiten hergestellt werden. Ein Diversitätsansatz ist also immer ein machtkritischer. Beschrieben und analysiert wird demnach, wie in Gesellschaften machtvolle Ressourcen verteilt und verwehrt werden. Solche Differenzlinien sind v.a. soziale Herkunft („class“), Ethnizität, Religion, sexuelle Identität, „Behinderung“, Alter oder Geschlecht. Diversität umfasst auf diese Weise sowohl individuelle wie auch kollektive Identitäten. Betrachtet werden Zugehörigkeiten, von denen wir annehmen, sie seien angeboren oder „natürlich“ (lange zählte Geschlecht zu dieser Gruppe), sie könnten individuell erworben werden (z.B. ein privilegierter sozio-ökonomischer Status durch Fleiß und Talent im Menschenbild des Kapitalismus) oder sie seien das Ergebnis konkreter politischer Umstände und gesellschaftlicher Verhältnisse (etwa durch Grenzziehungen zwischen Staaten oder Gesetzgebung).

Die Diversitätsforschung (engl. „Diversity Studies“) sieht ihre Aufgabe nicht ausschließlich darin, das Zustandekommen von Unterschiedlichkeit in der Gesellschaft nur deskriptiv als ein doing difference zu beschreiben, sondern die Machtmechanismen offen zu legen, die zu einem solchen doing difference führen. Maßgeblich waren hier vor allem die Arbeiten der Rechtstheoretikerin und antirassistischen Aktivistin Kimberlé Crenshaw, die bereits in den 1980er Jahren mit ihrem Konzept der intersektionellen Wirkungen mehrdimensionaler Diskriminierungen herausgearbeitet hat, wie sich soziale Differenzlinien überlagern und es z.B. bei schwarzen Frauen zu Mehrfachdiskriminierungen im Zuge von Rassismus, Sexismus und Klassismus kommt (z.B. Crenshaw 1991: 1241ff, dazu auch Lücke/Messerschmidt, 2021, 57ff). Aus einer US-amerikanischen Forschungstradition, die eng verwoben war mit den Emanzipationsbewegungen von Frauen, Arbeiter*innen sowie Afroamerikaner*innen, hat sich eine fast schon kanonische Trias der drei sozialen Differenzlinien race, class und gender als wirkungsmächtigen „Achsen der Ungleichheit“ (Klinger u.a. 2007) bei der Analyse sozialer Ungleichheiten etabliert. Gegenwärtig wird u.a. in der Migrationspädagogik mit Ansätzen von Diversität gearbeitet. Hier werden Differenzlinien, die unter dem Konglomerat von race/Ethnizität gebündelt werden könnten, unter dem Konzept der „natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit“ zusammengefasst.

Für Geschichtsunterricht kann das Konzept der Diversität auf unterschiedlichen Ebenen nutzbar gemacht werden. Auf der Ebene der Inhalte historischen Lernens kann die Frage nach der Entstehung sozialer Ungleichheiten von historisch Lernenden als die Frage nach ihrer historischen Genese gestellt werden. Doing difference kann zu einem Phänomen mit Geschichte werden, indem Prozesse der Herstellung von Differenz in der Vergangenheit analysiert werden. Dabei muss stets mitbedacht werden, dass zu anderen Zeiten andere Differenzlinien als heute für soziale Ungleichheit gesorgt haben, und genauso, dass soziale Kategorien, die auch heute noch relevant sind, in früheren Zeiten auf andere Weise wirksam wurden. Damit kann sich eine Perspektivverschiebung für Geschichtsunterricht generell ergeben: Inhalte werden nicht mehr entlang einer nationalstaatlichen Chronologie ausgewählt, sondern deshalb, weil sie Auskunft darüber geben können, wie Macht- und Ungleichheitsmechanismen in der Vergangenheit gewirkt haben.

Auf einer methodischen Ebene kann es im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht, der sich der Förderung von Narrativität verschreibt, darum gehen, Schüler*innen zu befähigen, doing difference als einen vielschichtigen Prozess der Genese sozialer Ungleichheiten historisch erzählend darzustellen. Denn genau darum geht es, wenn wir von narrativer Kompetenz sprechen: Schüler*innen sollen selbst in die Lage versetzt werden, Geschichten zu erzählen. Bei einer bloßen Analyse sozialer Ungleichheiten der Vergangenheit kann Geschichtsunterricht deshalb nicht stehen bleiben – eine solche Analyseleistung fiele wohl eher in das Ressort des Politik- und Sozialkundeunterrichts. Erst im Modus historischen Erzählens können sich Schüler*innen das doing difference vergangener Ungleichheiten als selbst erzählte Geschichte produktiv aneignen – durch diese Erzählleistung also ein solches doing difference erfahren.

Als Folie nutzbar gemacht werden kann der Forschungsansatz der Diversität drittens bei einer konsequenten Umsetzung des Prinzips der Multiperspektivität im Geschichtsunterricht. Im multiperspektivischen Geschichtsunterricht wird das Ziel verfolgt, nicht nur irgendwelche beliebigen Perspektiven auf Vergangenheit zu richten, sondern gerade solche Perspektiven auszuwählen, die von unterschiedlichen Macht- und Herrschaftspositionen aus auf einen historischen Zusammenhang blicken. Der machtkritische Anspruch des Diversitätskonzeptes hilft dabei, solche Perspektiven in der Vergangenheit überhaupt erst einmal zu finden. Diese Perspektiven hängen handelnden und leidenden Menschen der Vergangenheit aber nicht urwüchsig an. Welche Perspektive wir heute einer Person der Vergangenheit zuweisen, hängt vielmehr stets davon ab, welche Perspektiven wir heute als relevant für die Analyse von Vergangenheit ansehen, ganz plakativ also, welche Perspektivbezeichnungen wir Menschen der Vergangenheit heute zuweisen, um unsere gegenwärtigen Orientierungsbedürfnisse zu befriedigen. Gleichzeitig haben soziale Differenzlinien in der Vergangenheit auf andere Weise soziale Ungleichheiten hergestellt als heute: In einer Feudalgesellschaft z.B. war materielle Ungleichheit (heute würden wir class sagen) völlig anders organisiert als heute, im vorreformatorischen Europa spielte Religion und Religiosität eine gänzlich andere Rolle als in unserer Gegenwart und Geschlechterkonzepte haben sich erst im 19. Jahrhundert zu einer Dichotomie männlich/weiblich verfestigt, die wir heute sogar als natürlich zu bezeichnen gewohnt sind. Diversität auf der Ebene von Multiperspektivität bedeutet also, sowohl die historische Alterität (also die grundsätzliche Andersheit der Vergangenheit) sozialer Differenzierung insgesamt als auch diejenige einzelner sozialer Kategorien zu beachten. Dem Anspruch von Diversität im multiperspektivischen Geschichtsunterricht kann demnach Rechnung getragen werden, wenn Schüler*innen die Alteritätserfahrung machen, dass soziale Differenzlinien in der Vergangenheit auf andere Weise relevant waren als in unserer Gegenwart, und wenn Alteritätserfahrung dann in ein produktives Spannungsverhältnis zur Wirkweise von gegenwärtigen sozialen Ungleichheiten gebracht wird. 

Literatur

Crenshaw, K.: Mapping the margins. Intersectionality, Identity Politics and Violence Against Women of Color, in: Stanford Law Review 43, 1991, S. 1241–1299. 

Klinger, C./Knapp, G. A./Sauer, B. (Hg.): Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Frankfurt/M.: Campus 2007. 

Lücke, M./Messerschmidt, A.: Diversität als Machtkritik, in: Barsch, S./Degner, B./ Kühberger, C./Lücke, M. (Hg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik, Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2020, S. 54–70. 

Yildirim, L./Lücke, M.: Race als Kategorie historischen Denkens, in: Barsch, S./Degner, B./Kühberger, C./Lücke, M. (Hg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik, Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2020, S. 146–158.

 

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