Erste Schritte auf dem Weg zu globalgeschichtlichen Perspektiven im Geschichtsunterricht – Drei Interventionen
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Philipp Bernhard und Susanne Popp plädieren dafür, globalgeschichtliche Perspektiven verbindlich in den Lehrplänen des Geschichtsunterrichts festzuschreiben. Sie zeigen beispielhaft Möglichkeiten auf, globalgeschichtliche Perspektiven in den Geschichtsunterricht zu integrieren.
Von Philipp Bernhard und Susanne Popp
Dass globalgeschichtliche Perspektiven für einen Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert unverzichtbar sind, wird kaum jemand bestreiten wollen. Denn zentrale Probleme der gegenwärtigen und künftigen Weltgesellschaft, wie die wachsende sozioökonomische Ungleichheit und die Klimakrise, sind zwar lokal sichtbar, jedoch globaler Natur und können nur auf weltumspannender Ebene bearbeitet werden. Die lokalen Lebenswelten sind unauflöslich in globale Zusammenhänge eingebunden. Der nationalhistorische Denkrahmen, in dem sich der deutsche Geschichtsunterricht bewegt, vermag diese lebensweltlichen Gegebenheiten der heutigen postmigrantischen Gesellschaft nur unzureichend abzubilden. Damit die historische Bildung den Lernenden dennoch die erforderliche historische Orientierung bieten kann, muss sie systematisch globalgeschichtliche Perspektiven entfalten. Dies kann besonders gut anhand von instruktiven Fallbeispielen geschehen, die die Wechselwirkung zwischen der lokalen, (prä-)nationalen und globalen Ebene vergangenen Geschehens aufzeigen. Damit kann man die Lernenden zu einem ‚lokal-globalen‘ Perspektivenwechsel anregen und ihnen so die Begrenzungen der nationalhistorischen Betrachtungsweise verdeutlichen.
Gewiss, die deutschen Geschichtslehrpläne enthalten seit jeher Kapitel, die zentrale weltgeschichtliche Themen jenseits der Nationalgeschichte behandeln. Ohne den Kontext z.B. des ‚Alten Ägyptens‘, der Französischen Revolution oder des Kalten Krieges wäre die europäisch-deutsche Geschichte auch kaum erzählbar. Entscheidend ist jedoch, dass jene ‚trans-‘ oder ‚supra-nationalen‘ Gegenstände in einer nationalhistorischen Optik konstruiert werden. Damit werden wesentliche räumlich und sachlich übergreifende Kontexte ausgeblendet, was den historischen Blick auf globale Rahmenbedingungen und Zusammenhänge verstellt. Daraus können problematische Fehlvorstellungen, z.B. eurozentrische Stereotype und Vorurteile, im Geschichtsbild resultieren, das die Schule den Heranwachsenden vermittelt.
Daher will der Artikel drei gezielte Interventionen und zwei weitere Maßnahmen zur Förderung globalgeschichtlicher Perspektiven vorstellen, die Lehrkräfte niedrigschwellig in ihren Geschichtsunterricht integrieren können. Diese Vorschläge können flexibel und differenziert dem Alter, den Interessen und den Lernvoraussetzungen der Schüler*innen in den verschiedenen Schularten angepasst werden. Die Lernenden sollen erstens globale Überblicke über die ‚Welt‘ (Makroperspektive) erhalten, zweitens die Grenzen des nationalhistorischen Denkrahmens durch gezielte globalhistorische Perspektivenwechsel (lokal-globaler Perspektivenwechsel) überwinden und drittens euro- und andere ethnozentrische Konzepte und Fehlannahmen im curricularen Geschichtsbild erkennen und korrigieren (Eurozentrismuskritik).
Zum Begriff von Globalgeschichte
Der hier verwendete Begriff von Globalgeschichte kann als ‚weit‘ gelten. Denn er sieht globale Blickwinkel auch für die Zeit vor 1500 vor, als noch keine vollumfänglich weltumspannenden Systeme existierten. Zentral ist dabei die Frage nach den wechselseitigen Beziehungen zwischen den Ebenen des ‚Globalen‘ und ‚Lokalen‘ bzw. ‚Regionalen‘. Denn Globalgeschichte ist nicht die Geschichte ‚der Anderen‘ jenseits der Nationalgeschichte. Vielmehr geht es um Verflechtungsgeschichten und die Frage, wo sich das ‚Globale‘ im ‚Lokalen‘ niederschlägt und ‚unsere‘ lokalen Bezüge auf die globale Ebene einwirken (vgl. Popp/Schumann/Bernhard 2019: 8-10).
Intervention 1: Globalgeschichtlich orientierte Überblicke in der Makroperspektive
Die oft vernachlässigte Arbeit mit Weltkarten und dem Globus bildet die Grundlage für eine einfache Intervention mit dem Ziel, die Begrenzungen des nationalen Denkrahmens durch Kontextualisierung des eigenen Geschichtsraums in der Makroperspektive zu veranschaulichen. Vom Beginn des Geschichtsunterrichts an können die Lernenden einüben, sich, z.B. an markanten Stellen wie dem Jahr 1000 (vgl. z.B. Hansen 2020), – globalgeschichtliche Überblicke zu erarbeiten (vgl. z.B. die Weltkarten in Black 2010). Diese können sie dann sukzessive vergleichen und auf historischen Wandel hin untersuchen. Eine solche Makroperspektive kann eine grobe Übersicht über die globale Verteilung z.B. der größten zeitgenössischen Metropolen, der bedeutendsten Interaktionszonen, der wichtigsten Handelsrouten, der einflussreichsten Imperien und der zentralen Kulturräume (einschließlich Religionen) bieten. Auf diese Weise können auch eurozentrische Fehlvorstellungen, z.B. über angebliche ‚Völker ohne Geschichte‘, bewusstgemacht und kritisiert werden. Entscheidend ist dabei, dass die Lernenden ihre ‚eigenen‘ Geschichtsräume in der damaligen ‚Welt‘ verorten. Diese können neben dem Gebiet des heutigen Deutschland auch Regionen sein, die sie z.B. mit Migrationserfahrungen oder Familiengeschichten verbinden. Schließlich sollte man die eurozentrische Tendenz der ‚Mercator-Projektion‘ thematisieren, die Europa in den Mittelpunkt der ‚Welt‘ rückt und den afrikanischen Kontinent stark verkleinert darstellt. Dies kann durch einen Vergleich unterschiedlich zentrierter Weltkarten (z.B. ‚south-up‘-Weltkarten mit dem Globalen Süden oben) unterstützt werden, die im Internet leicht zugänglich sind.
Während solche Makroüberblicke den Lernenden Wissen über die ‚Welt‘ zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt vermitteln, besteht die zweite Intervention darin, globalgeschichtliche Perspektivenwechsel zu etablierten national- und/oder europazentrierten Lehrplanthemen vorzunehmen.
Intervention 2: Globalgeschichtliche Perspektivenwechsel
Dass man ein und denselben historischen Gegenstand aus verschiedenen räumlichen Blickwinkeln betrachten und die Unterschiede vergleichen kann, ist für Geschichtslehrer*innen nichts Neues. Wenn sie z.B. beim Thema ‚Endphase der Weimarer Republik‘ den Blick auf lokale NSDAP-Wahlergebnisse richten, so ergeben sich daraus oft markante Differenzen und Kontraste zur Nationalgeschichte. Auf dieselbe Weise kann ein globalgeschichtlicher Perspektivenwechsel teils unbewusste eurozentrische Fehlvorstellungen ans Licht bringen wie z.B. falsche Singularitätsvorstellungen (‚Das gab es nur in Europa‘) oder Verallgemeinerungen (‚So wie in Europa war es überall‘). Konkret könnte man dies am Beispiel der Haitianischen Revolution zeigen. In der französischen Kolonie Saint-Domingue befreiten sich versklavte Menschen durch erfolgreiches politisches Handeln selbst aus der Sklaverei, gründeten den zweiten unabhängigen Staat der ‚Neuen Welt‘ und entwickelten die Ideale der Französischen Revolution weiter (vgl. z.B. Hanke 2017, für überzeugende Unterrichtsmaterialien vgl. PEN PAPER PEACE e.V. 2017). Die Tatsache, dass Nicht-Europäer*innen – und zudem versklavte Schwarze Menschen – zu einer solchen Revolution fähig waren und dabei einen bedeutenden Beitrag zu deren politischer Ideengeschichte geleistet haben, widerlegt das häufig anzutreffende Vorurteil, zur Entwicklung und Durchsetzung des aufgeklärten Menschenbildes und der demokratischen Werte seien allein Europa und Europäer*innen fähig gewesen. Um den Kontrast zur eurozentrisch-westlichen Perspektive zu unterstreichen, könnte man die Amerikanische und Französische Revolution nicht nur mit der Haitianischen, sondern zusätzlich mit den Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika in ein Gesamttableau der ‚Atlantischen Revolutionen‘ einordnen.
Intervention 3: Dekonstruktion von Eurozentrismus
Bereits der Makroüberblick und der globalgeschichtliche Perspektivenwechsel zielen auf die Korrektur eurozentrischer Fehlannahmen. Hier sollen zwei weitere didaktische Maßnahmen vorgestellt werden, die speziell der Dekonstruktion von Eurozentrismus dienen.
Eine sehr grundlegende Intervention stellt die Reflexion eurozentrischer Basiskonzepte im Geschichtsunterricht dar. Dazu zählt z.B. die Epochentrias ‚Altertum-Mittelalter-Neuzeit‘. Diese spiegelt spezielle Gegebenheiten der europäischen Geschichte wider und hat in anderen Geschichtskulturen, z.B. in China, keine historisch sinnvollen Entsprechungen. Im fortgeschrittenen Geschichtsunterricht kann man auch relationale Raumkonzepte (z.B. ‚Osten‘ oder ‚Westen‘) und andere historische Grundbegriffe dekonstruieren, die ihre Bedeutung aus der europäisch westlichen Geschichte beziehen (z.B. ‚Nationalstaat‘ oder ‚Moderne‘).
Des Weiteren kann man an der Korrektur eurozentrischer Fehlkonzepte mit Fallbeispielen in Form von ‚Vignetten‘ arbeiten, die über eine kognitive Dissonanz zu den Vorannahmen der Schüler*innen kritische Reflexionen anregen. Solche ‚Vignetten‘ findet man z.B. in Ewald Fries „Die Geschichte der Welt. Neu erzählt“. Für die Dekonstruktion der verbreiteten Vorstellung von der ‚Geschichtslosigkeit Afrikas‘ im Mittelalter eignet sich z.B. jene ‚Vignette‘, die die historische Bedeutung afrikanischer Großreiche am Beispiel von Groß-Simbabwe herausstreicht (vgl. Frie 2018: S. 223-241, für eine englischsprachige Sequenz zu diesem Thema vgl. Mohamud/Whitburn).
Längsschnitte und Epochenjahre
Die drei genannten Interventionen können punktuell und in Form von Einzelstunden in den Geschichtsunterricht integriert werden. Daneben sind auch längere globalgeschichtliche Unterrichtssequenzen wünschenswert. Zum einen wären hierzu Längsschnitte denkbar, die unabhängig vom curricularen Nationalnarrativ typisch globalgeschichtliche Themen behandeln. So könnte man in epochenübergreifenden Stationen der Globalgeschichte, z.B. der Sklaverei oder des Ressourcenverbrauchs, historischen Wandel untersuchen. Zum anderen haben auch Querschnitte zu globalgeschichtlichen Epochenjahren wie 1492, 1789 oder 1989 ein großes didaktisches Potenzial. So steht das Jahr 1989 nicht nur nationalgeschichtlich für den Mauerfall und das Ende der deutschen Teilung sowie globalgeschichtlich für den Zerfall der bipolaren Weltordnung. Es markiert ebenso politische Erschütterungen in verschiedenen Weltregionen wie z.B. Südafrika, Lateinamerika und der Volksrepublik China, deren Folgen bis heute spürbar sind.
Ausblick: Globalgeschichtliche Perspektiven in die Lehrpläne!
Es ist längst überfällig, globalgeschichtliche Perspektiven verbindlich in den Lehrplänen des Geschichtsunterrichts festzuschreiben. Erst dann ist zu erwarten, dass die nötigen Anpassungen in der Lehrer*innen-Aus- und -Fortbildung und in der Lehrmittel-Produktion systematisch und nachhaltig vollzogen werden. Eine Zunahme der bereits jetzt zu Recht kritisierten Stofffülle kann dabei durchaus vermieden werden. Einen Weg bietet z.B. die curriculare Differenzierung zwischen obligatorischen und fakultativen Geschichtsthemen, wie sie bereits im Rahmenlehrplan Geschichte (Sek I) in den Bundesländern Berlin und Brandenburg praktiziert wird. Der entscheidende Schritt zur notwendigen Veränderung des nationalen Denkrahmens besteht nun darin, globalgeschichtliche Themen, Perspektiven und Zugriffe als integrale Bestandteile im obligatorischen Kernbereich festzuschreiben. Letztlich geht es darum: Die Schüler*innen sollen hinreichend mit globalgeschichtlichen Perspektiven vertraut werden, um ein zeitgemäßes Geschichtsbild zu entwickeln und vor allem die eurozentrischen Vorurteile zu erkennen, denen sie in ihrer Lebenswelt täglich begegnen.
Literatur
Jeremy Black: Atlas der Weltgeschichte. München, 2010.
Ewald Frie: Die Geschichte der Welt. Neu erzählt. 3. Aufl. München, 2018.
Philipp Hanke: Revolution in Haiti. Vom Sklavenaufstand zur Unabhängigkeit. Köln, 2017.
Valerie Hansen: Das Jahr 1000. Als die Globalisierung begann. München, 2020.
Abdul Mohamud/Robin Whitburn: Dark Continent Africa: How ‚dark‘ was the story of Africa before 1900? (https://justice2history.org/resources/, aufgerufen am 29.03.2021).
PEN PAPER PEACE e.V. (Hrsg.): Die Haitianische Revolution... im Kontext globalgesellschaftlichen Lernens. Berlin, 2017 (https://www.pen-paper-peace.org/globales-lernen/materialien.html, aufgerufen am 29.03.2021).
Susanne Popp/Jutta Schumann/Philipp Bernhard: Der Erste Weltkrieg – globalgeschichtlich betrachtet. Perspektiven für den Geschichtsunterricht. Eine Einführung. In: Philipp Bernhard/Susanne Popp/Jutta Schumann (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg – globalgeschichtlich betrachtet. Perspektiven für den Geschichtsunterricht. St. Ingbert, 2019, S. 1-16.
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- 29 Apr 2021 - 08:29