Empfehlung Fachbuch

Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen. Die „zweite Geschichte“ der südwestdeutschen Außenlager des KZ Natzweiler seit 1945.

Marco Brenneisen: Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen. Die ,zweite Geschichte‘ der südwestdeutschen Außenlager des KZ Natzweiler seit 1945, Stuttgart 2020, 6,50€.

Von Tanja Kleeh

Mit „Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen. Die ,zweite Geschichte‘ der südwestdeutschen Außenlager des KZ Natzweiler seit 1945“ legt Marco Brenneisen eine umfangreiche Analyse der Aufarbeitung und des damit verbundenen Gedenkens an die südwestdeutschen Außenlager des Konzentrationslagers Natzweiler vor. Erst 2020 erschienen, ist das Buch äußerst aktuell und umfasst den aktuellen Forschungsstand und die neuesten Forschungsperspektiven.[1]

Wie Marco Brenneisen zu Beginn darlegt, folgt er mit seiner Interpretation des Umgangs mit den Außenlagern von 1945 bis zur Gegenwart als „zweite Geschichte“ den Ansätzen von Peter Reichel, Harald Schmid und Peter Steinbach: Diese haben den Begriff in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht, „um zu verdeutlichen, dass ,dessen [des Nationalsozialismus] Nachgeschichte zugleich Loslösung von Vergangenheit, aber auch Integration der Geschichte in das Nachkriegsbewusstsein bedeutete‘“ (S.29).

Brenneisens Beobachtungen zu den einzelnen Lagern endet überwiegend 2010, in Einzelfällen auch 2015. Den Schlusspunkt setzt er spätestens bei der Errichtung einer Gedenkstätte. Neben bestehenden Publikationen zu einzelnen Außenlagern greift Brenneisen vor allem auf Quellen zurück. „Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen“ ist daher in vielerlei Hinsicht eine Pionierarbeit.

Die Außenlager im Südwesten

Im ersten Kapitel des Buches widmet sich Brenneisen der Geschichte des KZ-Komplexes Natzweiler, beginnend mit dem Eintreffen der ersten 300 Häftlinge im Mai 1941. Dabei gibt der Autor Einblicke in die sich verändernde Häftlingsstruktur: Waren anfangs hauptsächlich „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ dorthin verschleppt worden, kamen mit der Zeit immer mehr sogenannte politische Häftlinge in das Konzentrationslager. Alle mussten Zwangsarbeit für die SS verrichten, beispielsweise im nahegelegenen Steinbruch. In Kooperation mit der Rüstungs- und Luftfahrtindustrie entstanden auf dem Lagergelände Werkstätten. Zudem wurden „ab Ende 1942 pseudowissenschaftliche Experimente an Häftlingen durchgeführt“ (S.53). Hierfür kooperierte die SS mit der medizinischen Fakultät der Universität Straßburg, zu diesem Zeitpunkt „Reichsuniversität“.

Dem Schwerpunkt der Monographie geschuldet, wirft Brenneisen einen genaueren Blick auf das System der Außenlager. Über die genaue Anzahl dieser herrscht laut Brenneisen in der Forschung Uneinigkeit. Unterschiedliche Zählweisen und die uneinheitliche Verwendung von Begrifflichkeiten führten zu Diskrepanzen, was jedoch Brenneisen zufolge nicht nur den Lagerkomplex Natzweiler betrifft. Brenneisen geht nach Abwägung sämtlicher Kriterien von insgesamt 54 Außenlagern aus. 13 davon sind in Lothringen und dem Elsass errichtet worden, 41 ehemalige Außenlager im Südwesten Deutschlands zu finden. Eine entsprechende Auflistung, die auch den Schwerpunkt der Arbeitseinsätze zuordnet, ist am Ende der Monographie zu finden.

Die Geschichte dieser einzelnen Lagerstandorte werden in „Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen“ kurz nachgezeichnet, so dass es zu jedem Lager einen kurzen Abriss gibt. Dabei unterscheidet Brenneisen grob zwischen Konzentrations(außen)lagern für SS-eigene Zwecke und denen für die Rüstungsproduktion, Verlagerungs-, Bau- und Sonderprojekte. Einen kurzen Blick wirft der Autor zudem auf das zivile Umfeld der Außenlager. Ab Frühjahr 1944 existierte das Konzentrationslager als abgeriegelter, „geheimer Ort des Terrors“ immer weniger: Die Außenlager waren fester Bestandteil des (Kriegs-)Alltags der Zivilbevölkerung. Wie Brenneisen festhält, befand sich die Mehrzahl der Außenlager „in unmittelbarer Nähe von Städten und Gemeinden, viele an den Ortsrändern, vereinzelt sogar inmitten von Wohngebieten“ (S.124). Berührungspunkte habe es vor allem an den Arbeitsstätten gegeben. Jedoch auch darüber hinaus waren die Häftlinge nicht zu übersehen, etwa wenn sie in Kolonnen durch die Ortschaften zu ihren Arbeitsorten und zurück zum Lager marschierten. Brenneisen resümiert: „Es bestanden administrative, wirtschaftliche und private Verflechtungen zwischen den Orten und den Konzentrationslagern bzw. deren Verwaltung und Wachmannschaften“ (S.132). Der vielfach bezeugte Mythos, die Zivilbevölkerung habe von nichts gewusst, wird hier widerlegt.

Vergangenheitsaufarbeitung

Marco Brenneisen teilt im Hauptteil seiner Studie die „zweite Geschichte“ der Außenlager des Konzentrationslagers Natzweiler im deutschen Südwesten in fünf Phasen auf. Die erste beginnt direkt nach Kriegsende und dauert bis 1949. Bereits in dieser Phase wurden Gedenktafeln und Mahnmale errichtet, meist von ehemaligen Häftlingen, die zurückkehrten, um vor den Alliierten Zeugnis abzulegen „oder um sich für ein Zeichen der Erinnerung an die verstorbenen Mithäftlinge einzusetzen“ (S.139). Die deutsche Bevölkerung beschäftigte sich kaum mit den Lagern und errichtete Denkmäler meist nur auf Befehl der Alliierten. Dies sei auch bei den Orten der Außenlager nicht anders gewesen, so Brenneisen. Beispielhaft verweist er auf das ehemalige Lager in Vaihingen an der Enz, dessen Lagerfriedhof bereits 1946 erst nach Mahnungen von Seiten der alliierten Behörden gepflegt wurde. Brenneisen widmet sich ausführlich den einzelnen Friedhöfen, verfolgt ihre Entstehung und die (Nicht-)Annahme durch die Bevölkerung.

In Phase zwei, die Brenneisen als geprägt von französischem Gedenken und deutschem Verwaltungspragmatismus definiert und in der Dekade von 1949 bis 1959 ansetzt, wies an den ehemaligen Lagerstandorten nichts mehr auf diese hin. „Barackenlager wurden abgerissen, überbaut oder zu unterschiedlichen Zwecken von den Kommunen oder lokalen Firmen weiter genutzt.“ (S.189) Die französischen Behörden bemühten sich nichtsdestotrotz, die Ruhestätten französischer KZ-Häftlinge zu erfassen und die sterblichen Überreste bei erfolgreicher Identifizierung nach Frankreich zu überführen. Daran änderte sich auch mit Gründung der Bundesrepublik 1949 nichts. Brenneisen zeichnet auch diese Bemühungen haarklein für unterschiedliche Standorte nach, arbeitet dabei Besonderheiten wie etwa die Inschriften der errichteten (Gedenk-) Tafeln heraus und interpretiert die Bedeutungen dieser hinsichtlich der genutzten Sprache – französisch – und den Inhalten. Im Zentrum dieser zweiten Phase steht das deutsch-französische Abkommen vom Oktober 1954, indem die zukünftige Gestaltung von Denkmälern und Mahnmälern geregelt wurde. Die individuelle Umsetzung dauerte jedoch oftmals noch an.

Wie sehr das Gedenken und die Aufarbeitung der Geschichte an den Standorten der Außenlagern vom persönlichen Einsatz einzelner Personen abhängig war, zeigt Brenneisen in dem als Phase drei betitelten Abschnitt seiner Arbeit. Darin porträtiert der Autor den Pfarrer Fritz Majer-Leonhard, der sich gegen die Mentalität des Schlussstrichs stellte und „damit vielerorts den Grundstein für spätere erinnerungskulturelle Entwicklungen legte“ (S.227). Majer-Leonhard leistete diese Arbeit unter anderem in seiner Funktion als Leiter der Hilfsstelle für Rasseverfolgte bei der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart, in deren Rahmen er selbst Nachforschungen zu Verfolgten des NS-Regimes betrieb und sich für ein würdevolles Gedenken einsetzte.

Brenneisen findet in dieser Phase auch die ersten Anzeichen für eine Wende in der Auseinandersetzung mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus die schließlich in der vierten Phasen ab 1978 bis 1995 besonders deutlich wird: Die gesellschaftliche Auseinandersetzung vor Ort beginnt, überwiegend jüngere Menschen befassen sich mit der Geschichte der Konzentrationslager vor Ort und stoßen eine Diskussion darüber an. Die „Gedenkstättenbewegung“ erfasst in den 1980er Jahren auch den Südwesten der Bundesrepublik: „Es bildeten sich Geschichtswerkstätten und lokale Arbeitskreise“ (S.313) – die Grundlage für die bis heute bestehenden oder sich gründenden Initiativen. Als Impulsgeber hierfür sieht Brenneisen den 1978 erschienenen Band „Nationalsozialistische Konzentrationslager im Dienst der totalen Kriegsführung. Sieben württembergische Außenkommandos des Konzentrationslagers Natzweiler/Elsaß“, der grundlegende Forschungsarbeiten zu sieben Außenlagern enthielt. Es folgten zahlreiche Debatten an den einzelnen Orten, die nicht nur das Gedenken an sich, sondern auch die „korrekte“ Form beinhalteten und sich von Ort zu Ort unterschieden. Immer wieder mussten die Ehrenamtlichen in Kooperation mit Historiker*innen gegen die Schlussstrichmentalität vor Ort argumentieren.

Erst seit Mitte der 1990er sieht Brenneisen die KZ-Gedenkstätten als festen Bestandteil der politischen Kultur etabliert – auch im Südwesten Deutschlands. Daher gilt ihm diese als Phase fünf der lokalen Erinnerungskultur. Es wurden nach und nach Gedenkstätten mit Ausstellungen und pädagogischen Konzepten errichtet, die über die Geschichte der ehemaligen Lagerstandorte bis heute informieren. Viele gingen aus den Initiativen der vierten Phasen hervor und „blicken somit auf eine lange und konfliktreiche Entstehungsgeschichte zurück“ (S.488). Zu dieser Geschichte gehört seit 1994 auch die Etablierung eines Gedenkstättenreferats.

Fazit

„Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen“ ist eine detaillierte Aufarbeitung der „zweiten Geschichte“ der Außenlager des Konzentrationslager Natzweiler seit 1945. Marco Brenneisen legt mit seiner Studie eine umfassende Betrachtung der einzelnen Standorte vor, ordnet sie jedoch stets in den Gesamtdiskurs der Erinnerungskultur ein. Anhand der Geschichte einzelner Außenlager ist es möglich, den erinnerungskulturellen Diskurs der Bundesrepublik seit 1945 nachzuverfolgen. Daher eignet sich „Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen“ nicht nur für den Einsatz der Vor- und Nachbereitung des Unterrichts oder der Gedenkstättenbesuche im Südwesten, sondern in der gesamten Bundesrepublik.

Marco Brenneisen: Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen. Die ,zweite Geschichte‘ der südwestdeutschen Außenlager des KZ Natzweiler seit 1945, Stuttgart 2020, 6,50€.  


[1] Es handelt sich um eine leicht bearbeitete Version der Doktorarbeit des Autors (2019).

 

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