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Die Gedenkstätte Theresienkapelle in Singen: Lokale Erinnerungsschichten, europäische Verflechtungen, Mahnmal für Frieden und Versöhnung

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Carmen Scheide ist Vorsitzende des Fördervereins Theresienkapelle Singen e.V. und Historikerin.

Von Carmen Scheide

Im Industriegebiet der südbadischen Stadt Singen am Hohentwiel, nahe an der Schweizer Grenze gelegen, steht eine kleine Kapelle. Ihr Fundament ist ein Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Erbaut wurde sie am Rande eines Kriegsgefangenenlagers für bis zu 1.000 deutsche Soldaten unter französischer Besatzung. Der damalige humane französische Lagerkommandant, Jean de Ligny (1908-1976), wollte 1946/47 ein frühes Zeichen der Versöhnung zwischen ehemaligen Feinden setzen, was ihm mit dem Symbol einer Lagerkapelle auch gelang. Sie wurde 1947 katholisch eingeweiht, ist seit 2016 eine Gedenkstätte bei der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen Baden-Württemberg und steht unter Denkmalschutz. 

NS-Zwangsarbeit

Folgt man dem Motto der »Barfusshistoriker« aus den 1980er Jahren, das lautete: Grabe, wo Du stehst!, dann entdeckt man verflochtene Erinnerungsschichten und Lebensschicksale ehemaliger Zwangsarbeiter*innen aus Osteuropa, die mit diesem Ort verbunden sind. In der Zeit des Nationalsozialismus gab es drei grosse Betriebe in Singen, die Produkte für die Rüstung herstellten. Das waren der Nahrungsmittelhersteller Maggi, der sogar ein Werk im besetzten Kiew unterhielt, die Aluminiumwalzwerke und die Georg Fischer Eisen AG. Weil mit Beginn des Krieges ab 1. September 1939 die Männer für die Armee mobilisiert wurden, fehlten bald wichtige Arbeitskräfte. Zunächst rückten vermehrt Frauen auf die leeren Stellen nach. Die 1935 scharf geführte Debatte über das angeblich unmoralische »Doppelverdienertum« spielte keine Rolle mehr. Im Gegenteil, die Frauen sollten nun pflichtbewusst ihren Dienst am Volk leisten und die Heimat, analog zu den kämpfenden Männern, tatkräftig unterstützen. Mit dem ideologischen Überbau einer »Volksgemeinschaft«, zu der man durch »Tugenden« wie Fleiß, Loyalität, Disziplin und Gehorsam dazugehören konnte, wurde die Bevölkerung für die Kriegsindustrie mobilisiert. Dennoch fehlten weiterhin Arbeitskräfte, weshalb in den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten Menschen als Zwangsarbeiter*innen festgenommen und mit Zügen in das Deutsche Reich deportiert wurden. Auch hier gab es gemäß der damaligen rassistischen Propaganda eine klare Hierarchie: am unteren Rand und ohne Rechte standen die sogenannten »Ostarbeiter«, Menschen aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion. Sie mussten ein weiss-blaues Abzeichen mit der Abkürzung »OST« gut sichtbar auf der Kleidung tragen. Die Archive sind voll mit akribischen Anweisungen für ihre Behandlung. Sie gehörten ebenso wie die anderen Zwangsarbeiter*innen nicht zur Volksgemeinschaft, waren »fremd« und konnten ohne jegliche Konsequenzen misshandelt oder auch getötet werden. Männer und Frauen, die ab 1942 nach Singen verfrachtet wurden, berichteten später, sie seien in Stuttgart oder Ulm wie Vieh auf einen grossen Platz gestellt worden, um nachfolgend dann auf die Industriebetriebe, Haushalte oder in die Landwirtschaft weitervermittelt zu werden. Alle wurden mit Bild und Registrationsnummer erfasst, was in einer sogenannten Arbeitskarte festgehalten wurde. Diese galt als Ausweis, der mitgeführt werden musste. 

Die »Arbeitssklaven Hitlers«, so eine spätere Bezeichnung, lebten bei Industriebetrieben oder großen Fabriken in extra dafür errichteten Lagern. Das Leben spielte sich hinter Stacheldrahtzaun in engen, einfachsten Holzbaracken ab, die im Winter kalt und im Sommer überhitzt waren. Privatsphäre gab es keine in den engen Behausungen, die hygienischen Bedingungen dürften sehr primitiv gewesen sein. Durch Massenunterkünfte und schlechte Nahrung erfolgte somit eine weitere klare Herabsetzung. Die Entrechtlichung wurde im Alltag manifest, ebenso die Abgrenzung von den »Wir«-Deutschen und der Volksgemeinschaft. Solche Lager gab es an verschiedenen Stellen in Singen, wo während des Krieges über 3.000 Zwangsarbeiter*innen interniert waren. Der formal vorgesehene Arbeitslohn war niedrig angesetzt, wurde mit den Unterhaltskosten verrechnet, konnte ohne Angabe von Gründen gekürzt werden und floss aus »Fürsorge« auf betriebliche «Sparkonten». De facto arbeiteten diese Menschen umsonst, wovon die jeweiligen Arbeitgeber profitierten. Bis heute gibt es Firmen, die dieses Unrecht nicht aufgearbeitet haben, geschweige denn eine Wiedergutmachung leisten.

Die Nachkriegssituation und Displaced Persons

Die Namen der Zwangsarbeiter*innen, ihre Schicksale, Spuren, Erfahrungen und ihr Leiden waren über Jahrzehnte in Ost und West ein Tabu. Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 wurden die Displaced Personsso schnell wie möglich wieder in ihre Heimat zurückgeführt. In Singen und Umgebung beklagten die Menschen die neue »Fremdherrschaft« durch das französische Militär und die damit verbundenen Einschränkungen. In den Ortsarchiven gibt es viele Polizeiberichte über Diebstahl von Lebensmitteln oder versuchte sexuelle Übergriffe, begangen entweder durch die nun befreiten Zwangsarbeiter*innen oder die neuen »Fremden«. Somit entstand unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus ein neues Opfernarrativ, das von der eigenen Schuld ablenkte. In der Sowjetunion erfuhren die zurückgeführten »Ostarbeiter« großes Misstrauen, da man ihnen eine Kooperation mit dem Feind und ein Drückebergertum während der brutalen Kriegsjahre unterstellte. Sie mussten vor ihrer Rückkehr ein strenges Filtrationsverfahren beim sowjetischen Geheimdienst NKWD durchlaufen. Junge Männer wurden gleich für die Rote Armee gezogen, viele Frauen schlugen sich über weite Strecken zu Fuß in ihre Heimatdörfer durch, einige landeten im berüchtigten Gulag, dem sowjetischen Lagersystem. Die deutschen Besatzungsstellen im Osten hatten 1942/43 unter Anwendung von brutaler Gewalt auch Kinder, Jugendliche und Frauen zur Zwangsarbeit zusammengetrieben, da Quoten erfüllt werden sollten. Somit waren viele Heimkehrer*innen aus ukrainischen, weißrussischen oder litauischen Dörfern noch jung. In den dortigen schlimmen Hungerjahren nach dem Krieg brauchte man Arbeitskräfte. In der sowjetischen Landwirtschaft wurde weniger nach dem Verbleib in den Kriegsjahren gefragt. Aus späteren Erinnerungen wissen wir, dass eine Frau, die als Verkäuferin in Poltawa arbeiten wollte, ihre Biographie beschönigen und über ihre Zeit als »Ostarbeiterin« schweigen musste. Viele Betroffene handelten so, gerade auch Frauen, die in der Zwangsarbeit Kinder geboren hatten. 

Erst in den 1980er Jahren begann eine langsame Thematisierung der massenhaften Zwangsarbeit in vielen deutschen Firmen und Betrieben. Seit der Jahrtausendwende gibt es die Stiftung «Erinnerung, Verantwortung und Zukunft», die Entschädigungen auszahlte. Heute leben kaum noch Zeitzeug*innen, aber die Nachfahren der ehemaligen »Sklaven Hitlers« fragen nach den Lebensgeschichten ihrer Großeltern, über die sogar in den Familien geschwiegen wurde. Ein wichtiger Grund, die Namen der Opfer und ihre Lebensgeschichten im kulturellen Gedächtnis zu bewahren.

Erinnerungsarbeit und Kampf um Entschädigungen

Die Theresienkapelle in Singen erinnert an die Diktatur des Nationalsozialismus und das Leid der Zwangsarbeiter*innen. Maßgeblich dazu beigetragen hat ein Bürger, der als Kind das sogenannte große »Ostarbeiterlager« gesehen hatte, das nach 1945 aufgrund der vorhandenen Infrastruktur dann für deutsche Kriegsgefangene genutzt wurde. Wilhelm Josef Waibel (Jahrgang 1934) erlebte die Einweihung der Kapelle als Messdiener und setzte sich dann später, als das Lager geschlossen war und niemand die Kapelle haben wollte, für ihren Erhalt ein. Noch wichtiger war jedoch seine Geschichtsarbeit. Seit den 1960er Jahren, in Zeiten des Kalten Krieges, versuchte er die jüngste lokale Geschichte aufzuarbeiten. Durch Zufall entdeckte er in dem Singener Betrieb »Georg Fischer« die im Keller aufbewahrten Karteikarten der »Ostarbeiter«. Er schrieb über den Eisernen Vorhang hinweg Briefe in die Sowjetunion, um nach dem Verbleib der Menschen zu fragen. Antworten erhielt er nie, nur eine Einladung zu einem Russisch-Kurs von Radio Moskau. Erst, als die Reformen unter Michael Gorbatschow seit Mitte der 1980er Jahre einen »Wind of Change« zwischen Ost und West ermöglichten, kam Bewegung in die Suche. Ein ukrainischer Journalist in der Stadt Poltawa, Vasyl Koteljar, nahm Kontakt mit Willi Waibel auf. Es erfolgte im August 1989 ein Aufruf in der lokalen Zeitung von Poltawa mit dem Appel: Ehemalige Zwangsarbeiter aus Singen, meldet Euch. Daraufhin erhielt Vasyl Koteljar zahlreiche Zuschriften mit Erinnerungen. Viele befinden sich in Übersetzung im Privatarchiv von Willi Waibel. Mittlerweile sind die beeindruckenden Texte, die Erinnerungen und Tagebücher, übersetzt und digitalisiert. Diese historischen Selbstzeugnisse werden in der Vermittlungsarbeit eingesetzt, da die Opfer somit einen Namen und eine Stimme erhalten. Ebenso enthalten sie Schilderungen über das Leben vor der Deportation in der Sowjetunion, den Weg in die Sklaverei, Arbeits- und Lebensbedingungen in Lagern oder bei Bauern. Wir erfahren etwas über brutale Gewalt von deutschen Faschist*innen, ebenso über hilfsbereite deutsche Mitmenschen. Die Erinnerungen sind eine Verarbeitung der Zwangserfahrung oder zeigen Überlebensstrategien auf. Da Singen nahe an der Schweizer Grenze liegt, konnten einige Zwangsarbeiter*innen flüchten. Ab 1943 wurden sie nicht mehr von den Schweizer Grenzbehörden abgewiesen, sondern ins Land gelassen und dort erneut interniert. Alle Dokumente sollen online für die Geschichtsvermittlung zur Verfügung gestellt werden.

Willi Waibel beließ es jedoch nicht bei dem Briefwechsel mit dem ukrainischen Journalisten, sondern reiste 1991 selbst in das Gebiet Poltawa. Er bat um ein Treffen mit den ehemaligen »Ostarbeitern«, das auch stattfand. Willi Waibel erlebte es mit sehr weichen Knien. Und er entschuldigte sich vor den etwa 200 Versammelten für das erfolgte Unrecht und Leid. Nach seinem Besuch im Gebiet Kobeljaki regte er nicht nur eine Städtepartnerschaft an, die bis heute zwischen Singen und Kobeljaki besteht. Er setzte sich auch unermüdlich für die Aufarbeitung des Themas Zwangsarbeit ein und forderte massgeblich eine Entschädigung ein. Zahlreichen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion verhalf er dabei, Dokumente über ihre Zwangsarbeit zu erhalten. Denn nur so konnten sie eine minimale, allenfalls symbolische Entschädigungszahlung erhalten. In dem Buch »Schatten am Hohentwiel« arbeitete er die schwierige lokale Geschichte auf, die heute durch die Gedenkstätte vermittelt wird. 2019 erschien ein Dokumentarfilm über Willi Waibel und die gemeinsame gewaltsame Vergangenheit von Singen und Osteuropa (Titel: Der Chronist). So konnten die wichtigen Stimmen von Zeitzeug*innen festgehalten werden. Das Privatarchiv von Willi Waibel wird in das Stadtarchiv Singen übergeben, wichtige Dokumente werden digitalisiert. Der Zeitzeuge Willi Waibel regte 2006 die Gründung eines Fördervereins Theresienkapelle an, der die Geschichts- und Erinnerungsarbeit fortsetzt. Er selbst führt als Zeitzeuge bislang trotz seines hohen Alters interessierte Besucher*innen durch die Theresienkapelle. Zeitlebens hat er sich als engagierter Bürger für Frieden und Versöhnung eingesetzt, das treibt ihn noch immer an.   

Material zur Geschichte der Theresienkapelle Singen

70 Jahre Theresienkapelle – Zwangsarbeit, Gefangenschaft und Gottesdienst. Begleitband zur Ausstellung des Stadtarchivs Singen in Zusammenarbeit mit dem Förderverein Theresienkapelle e. V.. Hegau-Bibliothek Band 178. Hrsg.: Stadtarchiv Singen, Britta Panzer M.A., Dr. Carmen Scheide. Singen (Hohentwiel) 2017.

Ludmilla Owdijenko: Wir sind keine Feinde mehr. Erinnerungen ukrainischer Zwangsarbeiter und ihrer Tochter, 1930er Jahre bis 2009. Hrsg.: Stadt Singen, Dr. Carmen Scheide. Singen (Hohentwiel) 2014.

Zugleich als PDF im open access:

https://theresienkapellesingen.files.wordpress.com/2017/08/2014-wir-sind-keine-feinde-mehr-red.pdf

Carmen Scheide: Staatsverfall, Zivilgesellschaft und Zwangsarbeiterentschädigung in der Sowjetukraine. In: Collmer, Peter; Koller, Ekaterina Emeliantseva; Perović, Jeronim (Hg.) Zerfall und Neuordnung. Die »Wende« in Osteuropa von 1989/91. Osteuropa in Geschichte und Gegenwart: Vol. 6 (S. 229-250). Wien Köln Weimar: Böhlau Verlag.

Wilhelm Josef Waibel: Schatten am Hohentwiel. Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in Singen. Konstanz 1997, 2. Auflage. Zugleich als PDF im open access: https://theresienkapellesingen.files.wordpress.com/2017/08/1997-waibel-schatten-am-htwl-klein-2.pdf

Dokumentarfilm 90 Min.: Der Chronist. Ein Film von Marcus Welsch. Deutschland 2019. https://www.derchronistfilm.de/

Kontakt

Website Förderverein Theresienkapelle Singen e.V.
https://theresienkapellesingen.wordpress.com/ 

 

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