Von Lucas Frings
Die Web-Dokumentation „Eigensinn im Bruderland“, ein Projekt des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin und „out of focus medienprojekte“ beleuchtet das Leben von Migrant*innen in der DDR. Die Macherinnen der Seite wählen dabei zwei Zugänge. Einen ausdrucksstarken Teil von „Eigensinn im Bruderland“ machen die Videointerviews mit neun DDR-Migrant*innen aus Äthiopien, Chile, Mosambik, der Türkei und Vietnam aus. In zweiminütigen Videoausschnitten erzählen die Protagonist*innen jeweils von den Bedingungen in ihrem Herkunftsland und den Gründen für ihre Migration, ihrer Ankunft in der DDR, ihrer Arbeit, ihrem Alltag und den Erwartungen und Wünschen für ihr Leben in der DDR. Gerahmt und begleitet werden die Interviews von kurzen Hintergrundtexten und Dokumenten, die etwa die Regulierung des Lebens und der Arbeitsbedingungen der Migrant*innen aufzeigen. Daraus ergibt sich ein zentrales Thema der Dokumentation, der „Eigensinn“. Streiks an ihren Arbeitsstellen, Versuche über den vorgesehenen Zeitraum hinaus in der DDR zu bleiben oder das Brechen der auferlegten Kontaktverbote zu DDR-Bürger*innen oder untereinander, da sich etwa männliche und weibliche Vertragsarbeiter*innen nicht kennenlernen oder gar verlieben sollte. Aus Liebesbeziehungen entstehende Schwangerschaften waren nicht erwünscht und konnten den Aufenthalt in der DDR beenden, da die Frauen nicht mehr der Planerfüllung dienen konnten.
Insbesondere in den 1980er Jahren bestand ein Arbeitskräftemangel, der durch die Anwerbung von überwiegend vietnamesischen und mosambikanischen Männern und Frauen ausgeglichen werden sollte. Versprechen auf Ausbildungen und Qualifizierungen wurden oft nicht eingelöst, die Produktionsfelder waren andere als angekündigt. Ein Beispiel für „Eigensinn“ stellt hier der Interviewpartner Nguyen Do Thinh dar, der sich eine Weiterbildung als Betriebsschlosser erstreiten konnte.
Zwei weitere Gruppen der Migration in der DDR bildeten Studierende aus anderen Ländern und politische Emigrant*innen. So fand der Theaterschaffende Carlos Medina nach dem Putsch gegen die Regierung von Salvador Allende in Chile Zuflucht in der DDR. Ihm gelang es der Arbeit im Betrieb zu entgehen und stattdessen in Berliner Theatern zu arbeiten. Auch der Militärputsch in der Türkei 1980 führte zu Emigration, von der die Kommunistin Kadriye Karcı berichtet.
Studierende, die in der DDR eine Ausbildung erhalten sollten um nach Abschluss das Erlernte zum Fortschritt in ihrem Herkunftsland beizutragen, stellen die dritte Gruppe von Migrant*innen dar. Ziel war, sie „mit Fach- und Sprachkenntnissen und mit einem philosophisch-materialistischen Weltbild auszurüsten“, so die Bildunterschrift einer Fotoserie aus den 1970er Jahren. Internationale Studierende sollten der DDR zudem zu politischer Anerkennung verhelfen. „Eigensinn“ zeigt hier die vietnamesische Studentin der Archivwissenschaften Pham Thi Hoai. Sie zieht aus dem Studierendenwohnheim aus, bewegt sich in deutschen Intellektuellenzirkeln und Friedensgruppen und besetzt eine Wohnung im Prenzlauer Berg.
Die Erfahrungen, Gefühle und Darstellungen der Interviewpartner*innen unterscheiden sich stark. Zum Teil haben sie in der DDR eine Umgebung vorgefunden oder erstritten, mit dem sie zufrieden waren. Mehrere Interviewpartner*innen berichten allerdings auch vom Rassismus und der gesellschaftlichen Ausgrenzung in der DDR. Diskotheken und Kneipen waren für die Migrant*innen nicht zugänglich bzw. sie waren dort nicht erwünscht. So wurden sie in ihre Wohnungen und Unterkünfte und in die Vereinzelung gedrängt. Berichte über eine Auseinandersetzung mit Betriebskollegen über rassistisches Verhalten zeigen ein weiteres Beispiel des sich durch die Dokumentation ziehenden „Eigensinns“. Mit dem Ende der DDR stieg dieser Rassismus jedoch deutlich an bzw. zeigte sich offener und zunehmend in körperlichen Übergriffen.
Der Web-Dokumentation gelingt es äußerst gut, die Erzählungen der Protagonist*innen mit Archivmaterial und Medien zu kombinieren. So erzählt Pham Thi Hoai, dass sie die DDR nur durch ein vietnamesisches Kinderlied kannte. Das Lied, in dem sich ein Kind wünscht Obst in die DDR zu exportieren, findet sich unterhalb des Interviews.
Dem Bericht über den Streik von 23 mosambikanischen Vertragsarbeiter*innen, die im März 1982 gegen eine Lohneinbehaltung im Schlacht- und Verarbeitungsbetrieb VEB Cottbus protestierten, wird der entsprechende MfS-Bericht gegenübergestellt.
Die Webseite zeigt ihre Protagonist*innen als handelnde Subjekte, welche in staatlichen Darstellungen unsichtbar blieben. „Eigensinn im Bruderland“ deckt somit eine Vielzahl von Lebensbereichen ab, die individuellen Geschichten können in ihrer Exemplarität viele Erfahrungen von Migrant*innen in der DDR widerspiegeln, zumal nicht unerwähnt bleibt, dass ihr Widerstand zu den vorgegebenen Pfaden und ihr eigener Weg eher eine Ausnahme darstellt.
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- 23 Dez 2020 - 07:27