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Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Computerspiel. Das pädagogische Potential von "Through the Darkest of Times"

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Von Ingolf Seidel

Seriöse Geschichtsvermittlung oder instrumentalisierende Unterhaltung? An dieser zugespitzt formulierten Frage scheiden sich noch immer häufig die Geister derer, die Geschichte vermitteln. Universell beantworten lässt sie sich nicht.

Als Negativbeispiel für das Genre von Geschichtsspielen wird gerne Wolfenstein herangezogen, ein First-Person- oder Ego-Shooter, bei dem es in der aktuellen Version im Wesentlichen darum geht, dass die Spieler*innen in die Rolle eines US-Soldaten schlüpfen um deutsche Soldaten und Monster zu töten. Letztendliches Ziel ist es, einen Nazi-General auszuschalten. Wegen vorgeblicher Kriegsverherrlichung waren ältere Versionen des Spiels in Deutschland indiziert. Die populäre Kritik stößt sich in der Regel an den dort gezeigten NS-Symbolen. Die Problematik des Spiels liegt meines Erachtens jedoch eher darin, dass es keine historische Erzählstruktur bietet. Die Story wird daher austauschbar, es fehlt ein historisches Narrativ. Nicht zufällig erinnert Wolfenstein in seiner Machart an einen anderen Klassiker desselben Genres, das dystopische Science Fiction-Spiel Doom.

Das 2020 erschienene Computerspiel Through the Darkest of Times beschreitet einen gänzlich anderen Weg. Es wurde von der Berliner Firma Paintbucket Games als Independent-Spiel entwickelt. Über die Plattform Steam wird es betriebssystemübergreifend angeboten. Der niedrige Anschaffungspreis von 14,99€ betont den Independent-Charakter und zielt zugleich auf eine jugendliche Zielgruppe. Zum Erscheinen wurde das Spiel für den internationalen Markt in sieben Sprachen veröffentlicht. Das rundenbasierte Strategiespiel hat eine fiktive Widerstandsgruppe gegen den NS-Staat zum Thema. Die Spieler*innen nehmen die Rolle der Hauptfigur der Gruppe ein. Die Handlung beginnt mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und endet mit der militärischen Zerschlagung von Nazi-Deutschland. Untergliedert ist die Geschichte in vier Kapitel, die im Jahr 1933, im zeitlichen Umfeld der Olympiade 1936, dem Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion 1941 und vom Ende des Jahres 1944 bis zur militärischen Niederlage, angesiedelt sind. Die Handlung spielt weitestgehend in Berlin. Als Ausgangs- und Navigationspunkt für die diversen Aktionen dient eine Karte der Stadt.

Die Hauptfigur kann zu Spielbeginn verschiedene Charaktere annehmen. Das Spektrum reicht von Anarchist*innen, Sozialdemokrat*innen, Kommunist*innen, moderaten Liberalen bis zu Christlich-Liberalen, katholisch Konservativen und Monarchist*innen. Hinzu kommt, dass die Spielfiguren verschiedenen Berufsgruppen angehören. Auch die Widerstandsgruppe kann ähnlich heterogen zusammengesetzt sein. Die Charaktere und die Besetzung der Gruppe haben Einfluss auf den Spielverlauf. So wird beispielsweise eine kommunistische Protagonistin nach dem Reichstagsbrand kurzfristig verhaftet, Kontakte zu potentiellen Unterstützer*innen können nicht von allen Mitgliedern der Gruppe gleich erfolgreich geknüpft werden. Der Verlauf der Geschichte selbst kann durch die Spieler*innen allerdings nicht verändert werden. So bleibt die grundsätzliche Narration erhalten. Die Widerstandsgruppe versucht größere und kleinere Aktionen gegen den NS-Staat zu organisieren, Gelder zu sammeln, Parolen an Wände zu malen, Flugblätter zu verteilen, Juden und Jüdinnen und andere Verfolgte zu verstecken, Spionage zu betreiben, aber auch Anschläge und in der letzten Phase Entwaffnungen von Volkssturmeinheiten durchzuführen. Manches davon ist an historische Vorbilder wie der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe, auch heute noch besser bekannt unter der von der Gestapo stammenden Bezeichnung „Rote Kapelle“, angelehnt. Auch der weitgehend gescheiterte Brandanschlag der jüdisch-kommunistischen „Gruppe Baum“ auf die antikommunistische Ausstellung „Das Sowjetparadies“ im Berliner Lustgarten am 18. Mai 1942 dient einer Spielaufgabe als Referenz.

Die Spieler*innen haben in jeder Runde per Klick aufgrund textbasierter Szenen Entscheidungen unterschiedlicher Art zu treffen. Solche Szenen haben unterschiedliche, sich ergänzende, Funktionen. Sie bilden einmal den inhaltlichen Kern des Spiels. Die Spieler*innen erhalten an diesen Stellen vertiefende Sachinformationen zum Nationalsozialismus und seinen Verbrechen. Im zweiten Kapitel wird das Berliner „Zigeunerlager“ und die pseudomedizinischen Vermessungen an Sinti*zze und Rom*nja aufgegriffen. Ohne namentlich genannt zu werden, tauchen Robert Ritter, Leiter der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ und berüchtigt für seine Gutachten über „Zigeuner“, sowie seine Assistentin Eva Justin in einer Szene auf. Auch die Funktion der Olympiade 1936 als ideologische Veranstaltung für das Ausland mit dem das NS-Regime, durchaus erfolgreich, um internationale Anerkennung warb ist ein Thema des Kapitels. Darüber hinaus können die Szenen strategischer Natur für die Widerstandszelle sein, indem etwa beraten werden muss, ob ein Mitglied Medikamente für die Gruppe beiseiteschafft. Auch politische Entscheidungen wie die, ob die Gruppe der Sowjetunion, den britischen oder US-amerikanischen Alliierten Informationen liefert, stehen zur Auswahl. Viele der möglichen Optionen haben grundsätzlich moralischen Charakter. So, wenn die Sicherheit der Zelle gegenüber der Hilfe für andere abgewogen werden muss. Derartige Dilemmasituationen gehören zu den besonderen Stärken des Spiels. Sie bieten Anlässe zur Selbstreflexion, mit der eine mögliche ungebrochene Heroisierung von Widerstandshandlungen unterlaufen wird. Die Beschäftigung mit den unterschiedlichen Formen von Widerstand zeigt gleichzeitig auf, dass er eben auch unter den Bedingungen des NS-Staates möglich war.

Eine weitere Besonderheit von Through the Darkest of Times ist die expressionistisch anmutende Grafik. Auch Assoziationen an die geradezu klassisch gewordene Graphic Novel Maus von Art Spiegelman sind naheliegend. Der Stil des Spiels wirkt dem entgegen, was in der (historisch-)politischen Bildung Überwältigung genannt wird. Anders als bei Spielen, die eine visuell möglichst hohe Authentizität anstreben um die Spieler*innen möglichst intensiv in die Handlung hineinzuziehen, erlaubt der Grafikstil hier Distanz zu den Figuren und zur Geschichte zu behalten. Darüber hinaus wird eine stereotypisierende Darstellung insbesondere bei der Darstellung von Angehörigen verfolgter Minderheiten vermieden. 

Ich hatte im Oktober 2019 die Gelegenheit das erste Kapitel von Through the Darkest of Times zu spielen und seine Möglichkeiten in zwei Workshops für den in Frankfurt ansässigen Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945 mit Lehramtsstudent*innen des Fachs Geschichte sowie mit Schüler*innen einer Sekundarstufe II auszuloten. Im Seminarraum stand für jede Person ein Laptop zur Verfügung, sodass jede Person individuell spielen konnte. Beide Gruppen fanden einen schnellen Einstieg. Ein Unterschied war vor allem im Kommunikationsverhalten während der Spielphase festzustellen. Während die Teilnehmer*innen der Studierendengruppe weitgehend für sich agierten, gingen die Schüler*innen nach einer Weile in eine wechselseitige Kommunikation, anfangs vor allem mit den Nachbar*innen, mit der Zeit zunehmend auch in der Gruppe. Der Austausch drehte sich tendenziell eher um spieltaktische Fragen, doch wurden auch inhaltliche Punkte angesprochen. In der nachfolgenden Diskussion um das Spiel herrschte in beiden Gruppen jeweils Einigkeit darüber, dass es zwar keinen Ersatz für klassische Vermittlungsformen darstellt, aber einen interessanten Einstieg und eine Ergänzung zum Schulunterricht sein kann. Ein Jugendlicher erzählte von sich aus, er hätte auf möglichst schnelles Gewinnen „durchgeklickt“. Trotzdem wäre er an den Inhalten nicht vorbeigekommen und hätte sie nicht wie bei anderen Spielen übergehen können. Diese Aussage deutet daraufhin, dass die erzählerische Komplexität von Through the Darkest of Times der dem analogen Mediums Buch sehr nahe kommt. Die Textpassagen der Szenen können zwar theoretisch schnell gelesen, ja überlesen werden. Sie bilden allerdings die Grundlage um voranzukommen und sich für eine der jeweils angebotenen Optionen zu entscheiden. Eine flüchtig zu Kenntnis genommene oder überblätterte Buchseite hinterlässt vergleichbare Wissenslücken. Zudem ist die Entscheidung in einem Dilemma für das Weiterspielen zwingend. Die moralische Entscheidung müssen die Spieler*innen folglich auf jeden Fall treffen.

Ein interessanter Aspekt des Spieles liegt darin, dass ihm sichtlich eine pädagogisch-geschichtsvermittelnde Haltung zugrunde liegt. An der Entwicklung waren direkt weder Historiker*innen noch Pädagog*innen beteiligt. Es wurden allerdings Fachkräfte beratend gefragt, so Jörg Friedrich von Paintbucket Games in einem Vorgespräch. Das hat im Ergebnis den positiv zu beurteilenden Effekt, dass Through the Darkest of Times in seinem Genre bleibt. Es erzählt realistisch Geschichte, ohne auf Authentizität zu pochen – eine im historischen Kontext ohnehin kritisch zu betrachtende Kategorie – und erlaubt durch die unterschiedlichen Spielcharaktere Perspektivwechsel. Nebenher wird so der Konstruktcharakter jeder historischen Erzählung erfahrbar. 

Dieser Text ist unter dem Titel „Realistisch erzählen“ als Erstveröffentlichung bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienen und wurde für LaG leicht bearbeitet. 

 

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