Neu eingetroffen

Mit der Kraft der Phantasie gegen die Sprachlosigkeit von Gewalt

Beitrags-Autor Profil / Kontakt

Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen
und um den Autor kontaktieren zu können.

Hier können Sie sich registrieren.

Daniel K. W. Trepsdorf (Text und Idee), Kirsten J. Lassig (Illustrationen): AUFSTAND DER UMLAUTE und weshalb das Eszett [ɛsˈt͜sɛt] sich diesem anschloss!, Eine Geschichte vom Anderssein, über Freundschaft und das Entdecken von Gemeinsamkeiten, Schwerin, Hamburg 2019, ISBN Hardcover: 978-3-9820840-0-8, ISBN E-Book: 978-3-9820840-1-5.

Von Constanze Jaiser

In diesem Lesebuch können Kinder in vielfältiger Weise lernen, was Mobbing bedeutet. Anhand des Alphabets und der Buchstaben, die so anders scheinen, wie das Eszett und die Umlaute, erzählt das Buch von Anderssein und Ausgrenzung.

Es handelt sich um ein beeindruckendes Multimediaprojekt, mit dem einerseits die Erzähl- und Lesekompetenz insbesondere von Kindern der Grundschule gestärkt werden kann.

Andererseits kann durch den Einsatz eines Kamishibai-Erzähltheaters auf unterhaltsame interaktive Weise die Sprach- und Ausdruckskompetenz gefördert werden. Und vor allem kann mit allen Sinnen verstanden werden: Ob frech und liebevoll, spaßig und ernsthaft, reimend und singend – alle Stimmen werden gebraucht. 

Ein Lese- und Lernbilderbuch für Kinder von 7 bis 12 Jahren 

Hier hat sich aber mal einer eine verrückte Geschichte ausgedacht! Eine, die im turbulenten „Haus der Sprache“ spielt, aha? Alle Buchstaben – von A bis Z, wohnen dort. Soso. Doch nicht alle haben es gleich schön. Frech nahmen sich die Vokale die schönsten Zimmer. Das Ypsilon und andere kantige Konsonanten-Kumpels machen es sich im Dachgeschoss gemütlich. Manche, wie die NNs und SSs bevorzugen Doppelzimmer, denn sie treten ja doch häufig zusammen in den Wörtern auf. Doch Ä, Ö, Ü und das Eszett {ß} wurden in den modrigen Keller verbannt. Sie haben ja nicht einmal einen offiziellen Platz in unserem Alphabet.

 „Was für eine Gemeinheit! Die Umlaute und das Eszett [ɛsˈt͜sɛt] werden von den anderen Buchstaben des Alphabets ganz fies ausgegrenzt. Niemand nimmt sie ernst, und kaum einer möchte mit ihnen befreundet sein. Ihr fragt euch, warum? ― Nun, weil sie keinen Platz im ‚Abc‘ gefunden haben!“ (aus dem Klappentext)

Aufstand im Haus der Sprache, der Klappentext kündigt es an und auch das Buchcover spielt ikonographisch auf die Französischen Revolution an. Doch ob es eine gute Idee ist, das ganze Alphabet verschwinden zu lassen?

Da gibt es das Phantasieland, in das die Buchstaben auch immer wieder Ausflüge machen. Dort erhalten sie Inspiration, dort wohnen die Ideen, Träume und Gedanken der Menschen, aus denen neue Erfindungen, Melodien oder Geschichten entstehen – mit Hilfe der Buchstaben. Und es gibt aber auch die düstere Höhle der Sprachlosigkeit. „In der Höhle ist alles ganz still und schwarz wie Lakritz“ (S. 34), heißt es. Von dort nehmen Schweigen, Ignoranz und üble Rede ihren Ausgang, denn niemand ist mehr da, die Stimme zu erheben für die Opfer von Ausgrenzung (S. 34).

Das „i“ ist als einer der wenigen Buchstaben noch ein wenig solidarisch mit den Umlauten, hat es doch selbst einen Punkt: 

„Hey, bleibt fair mit den Umlauten! Anders sein ist voll okay! Mein Lieblingsurlaubsort sind übrigens die Hawaii/inseln. Rate mal, weshalb?“ 

Doch es dauert, ehe die Entführer merken, dass ihnen ohne die anderen Buchstaben etwas fehlt.

Längst werden im Land der Phantasie die Buchstaben knapp. Die Löwen verlieren ihre Mähne und werden zu Möwen, die Giraffen vermissen ebenfalls schon Buchstaben und werden zu ***affen, das Gänseblümchen zur Gans*********. 

Es wird Zeit Brücken zu bauen und die häusliche Buchstabengemeinschaft offenherzig zusammenzubringen. Und das geht viel besser mit der tatkräftigen Mithilfe der jungen Zuhörerschaft und eines Raben. 

Der Autor, Daniel Trepsdorf, fabuliert mit großer Lust und überzeugendem Sprachwitz – mal poetisch, mal philosophisch, mal kalauernd und dann wieder ernsthaft. Ganz nebenbei lernt man die Buchstaben und zu ihnen passende Wörter; Buchstaben, die bunt sind, große Individualist*innen, alle in ihrer Art einzigartig. 

In dem Lesebuch, das auch als E-Book erhältlich ist, laden viele großformatige Illustrationen und die liebevoll gestalteten Buchstaben-Persönlichkeiten von Kirsten J. Lassig dazu ein, weiter zu fabulieren und zu phantasieren. Immer wieder erscheint die Rabenfrau Cora-Krah, die in Sprechblasen das Ganze kommentiert.

Wie man in einem Beitrag des NDR-Nordmagazins sehen kann, gibt es sie auch als Handpuppe, mit der der Demokratieverstärker und Bürgerrechtler Daniel Trepsdorf Alternativen aufzuzeigen und wortgewitzten Unterricht zu bestreiten vermag. 

Die Thematisierung des höchst philosophischen und seit Jahrhunderten diskutierten Zusammenhangs von Gedanken, Worten und Taten wird spielerisch aufgezeigt. Sind zuerst die Gedanken da, die dann die Worte formen, oder umgekehrt? Und wachsen Diskriminierung und Gewalt letztlich aus den Wörtern, der Sprache?

Sogar der französische Philosoph Voltaire wird bemüht, der über den Unterschied zwischen Mensch und Tier nachgedacht hat und resümiert:

„Die Liebe ist ein Stoff, den die Natur gewebt und die Phantasie bestickt hat.“

Die negative Seite von Ausgrenzung ist das eine. Der Wunsch nach Teilhabe, nach Respekt und Anerkennung für die Einzigartigkeit das andere. In überschäumender Art präsentieren sich die einzelnen Buchstaben auf den Seiten in diesem Wunsch über das, was sie wild assoziierend von sich geben. 

Die Methode des Kamishibai-Erzähltheaters ist mehr als Förderung der Lesekompetenz

Die Geschichte der Buchstaben ist als Erzähl-Theaterstück (Kamishibai) konzipiert und wurde gemeinsam mit Schulen erarbeitet. Die Illustrationen von Kirsten J. Lassig können als großformatige Grafikblätter auch für den Einsatz als Kamishibai-Erzähltheater in Kitas und Schulen beim Autor angefragt werden. 

Kamishibai (japanisch 紙芝居 ‚Papiertheater‘) ist, laut Wikipedia, ein japanisches Papiertheater bzw. ein „Märchenbilderschaukasten auf der Straße“. Es handelt sich dabei, kurz gesagt, um eine aus dem Schaustellergewerbe weiterentwickelte Form des Erzählvortrags, bei dem in der Regel ein Set von 10 bis 20 Bildern, meist in den Standardformaten B4 oder A3, von einem Vorführer in einen Holzrahmen gesteckt und dazu eine Geschichte vorgetragen wird.

Mit dieser Methode des bildgestützten Erzählens wird Teilhabe am Gestalten einer Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes möglich. Nicht nur, dass die Person, die vorne die Bilder zeigt, die Geschichte kreativ erzählt und z.B. jeder Buchstabe eine eigene Klangfärbung oder einen eigenen Dialekt bekommen kann oder ein bestimmtes Tier imitieren könnte, das mit dem Buchstaben anfängt (das „a“ wäre dann schnell ein wenig Affe, das „M“ fiept wie ein Mäuschen, das „i“ spricht mit französischen Akzent, usw.). 

Ein Buch wie ein japanisches Kamishibai zu behandeln heißt für den Erzählenden auch, die eigene Vorherrschaftsposition als alleiniger Kenner und Bestimmer der Geschichte aufzugeben. Denn die in diesem Fall meist jungen Zuhörenden werden dazu eingeladen, das, was sie hören und sehen, gemeinsam pantomimisch, lautmalerisch oder mit Menschenworten zu übersetzen und/oder zu kommentieren, die eigenen Assoziationen zu verbinden mit dem, was sie bereits wissen, wofür das Bild steht. Die erzählende Person flicht, wenn möglich, all das in die Geschichte ein und daneben auch noch das, was sie (pädagogisch) vermitteln will.

Schon bei der Entstehung der Geschichte, so Daniel Trepsdorf, sei Vieles mit Kindern zusammen entstanden. Wie könnte die Geschichte jeweils weitergehen, wäre so eine Frage, die auch noch beim Erzählen des fertigen Buchs gestellt werden könne. Es dürfe aber auch laut werden, meint Trepsdorf: „Wie klingt das, wenn die Buchstaben von der Hängebrücke purzeln?“ Oder Bewegung ins Klassenzimmer kommt: „Wer könnte jetzt mit was helfen, damit der Abstand zur Hängebrücke überbrückt wird?“ Schals verknoten zum Beispiel. Oder: „Wie macht denn der Sturm?“ Denkbar wäre auch eine Übersetzung von Buchstaben in Gebärdensprache – im Anhang des Buches ist das Gebärdensprachenalphabet ­sogar gleich mit abgebildet – oder in Körperbewegungen, die, je nach Talent und Erfahrung, Anleihen beispielsweise aus anthroposophischer Eurythmie oder aus dem Ausdruckstanz nehmen könnten. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. 

Und noch was? Ja, ein Kurzfilm gegen Cybermobbing und Hate-Speech 

Kinder und Jugendliche sowie Grundschulpädagog*innen haben ehrenamtlich das Konzept wie auch die Medien miterarbeitet: Kinderbuch, E-Book, Kamishibai-Theaterstück und ganz neu: ein Kurzfilm zur Mobbingprävention und zur Zurückdrängung von Schulgewalt. Sie entstanden in Zusammenarbeit mit der Sophie Medienwerkstatt in Hagenow.

Für die Umsetzung des Filmes haben sich die Kinder und Jugendlichen ausgiebig mit dem Thema Cybermobbing und Hate-Speech ― insbesondere in sozialen Medien ihres eigenen sozialen Interesses ― auseinandergesetzt (z.B. Instagram, YouTube und Facebook-Kommentare). Es galt dabei zwischen konstruktiver Kritik, bloßer Meinungsäußerung und Beleidigung zu unterscheiden und mögliche Gefahren und Konsequenzen zu erkennen und dies in eine Kurzfilm-Idee zu packen. Als Grundlage diente dabei das Buch „Aufstand der Umlaute“. Es entstand aber eine eigenständige neue Filmidee, passend zum Thema.

Die Kinder und Jugendlichen haben beim Kurzfilm selbst die Regie übernommen, das Drehbuch geschrieben und vor der Kamera als Schauspieler agiert. 

Auch medienkompetentes Handeln wurde erlernt, z.B. neue Geräte bedienen, eine Stopp-Motion-Filmtechnik oder eine planerische Zielorientierung („Wie gestalte ich mein eigenes Kamishibai-Theater?“; „Wie erstelle ich ein Drehbuch zum Kurzfilm?“).

Schließlich bieten die Demokratiepädagog*innen zu all diesen Angeboten didaktische Materialien „zur konstruktiven Auseinandersetzung mit Beteiligung und der Förderung einer demokratischen Atmosphäre in der Klasse“ sowie Beratungen und Fortbildungen für Lehrer*innen, Schulsozialarbeiter*innen, Schüler*innen und Eltern, aber auch Supervision und Mediation der Fachkräfte.

Insbesondere ein Peer-Education-Format zum Thema soll zukünftig noch verstärkt werden, um es älteren Jugendlichen zu ermöglichen, an Schulen im ländlichen Raum ihren jüngeren Altersgenoss*innen in Fragen Mobbingprävention zu unterstützen.

Fazit

Mit der im November 2019 verabschiedeten Novelle des Schulgesetzes für Mecklenburg-Vorpommern hat erstmals ein Bundesland den „Schutz gegen sexualisierte Gewalt und Mobbing“ im Gesetz fest verankert. Zusammen mit dem Schutz der Würde von Kindern und Jugendlichen sowie dem Schutz vor Benachteiligungen wird damit proaktiv die Präventionsarbeit in puncto Mobbing/Bullying und Schulgewalt in den Blick genommen. 

„Der Aufstand der Umlaute“ bietet einen innovativen Ansatz für die Praxis. Es wird hier jedem Verlag empfohlen, das Kinder- und Lernbuch in sein Programm aufzunehmen, denn die erste Auflage ist schon fast vergriffen.

Das wunderbare Buch inklusive Begleitpaket bringt mit einem ganzheitlichen Ansatz sowohl ehrenamtliche als auch hauptberufliche Aktive in der Präventionsarbeit zusammen und ist ein erfreulicher, kompetenter und Spaß machender Beitrag für eine gute, gemeinschaftsorientierte und sozialkompetente Schulkultur, für partizipative Demokratieerziehung.

Mögen in allen Schulen des Landes Raben Respektsterne ins Klassenzimmer hängen und Schüler*innen Hängebrücken bauen oder Reime tanzen für die eigensinnigen Buchstaben unserer Sprache. 

Weiterführende Hinweise

Mitmachchancen bei Geschichten, vgl. z.B. Norbert Kober, Erzählen mit dem Kamishibai, https://youtu.be/x6PTmaeaPpY (zuletzt eingesehen: 8.4.2020). 

Einen kurzen Einblick in Art visuellen Erzählens vom Aufstand der Wörter vor, gibt der Autor hier in einer Grundschulklasse:

https://www.ardmediathek.de/ndr/player/Y3JpZDovL25kci5kZS81MmNjZWE1My1lYTY0LTRkNmItOTAwYS0zNDkyYWFiMmM1MTg/aufstand-der-umlaute-praeventiv-gegen-mobbing (zuletzt eingesehen: 8.4.2020). 

Wie Grundschule hilft, die Sprachlosigkeit zu überwinden, Deutschlandfunk, 2.7.2019, https://youtu.be/n-G1oiFdVzM (zuletzt eingesehen: 8.4.2020). 

Stephan Köhn: Japan als Bild(er)kultur. Erzähltraditionen zwischen visueller Narrativität narrativer Visualität, online unter: http://www.comicforschung.de/tagungen/08nov/08nov_koehn.html (zuletzt eingesehen: 8.4.2020). 

Bei Interesse am gesamten Multimedia-Paket erhalten sie Kontakt und Informationen auch unter https://www.raa-mv.de/de/content/multimediaprojekt-„aufstand-der-umlaute“-kamishibai-erzähltheater-lese-und-lernbilderbuch-fi (zuletzt eingesehen: 8.4.2020).

 

Kommentar hinzufügen

CAPTCHA
Diese Frage dient der Spam-Vermeidung.
Image CAPTCHA
Enter the characters shown in the image.