Bundesweite Vernetzung und Qualitätssicherung von Beratungsstellen für Opfer rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt
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Von Heike Kleffner
Täglich wurden in Deutschland im Jahr 2019 mindestens fünf Menschen Opfer von rassistisch, antisemitisch und rechts motivierten Gewalttaten. Unter den 1.982 direkt davon Betroffenen stieg der Anteil von Kindern und Jugendlichen um 14 Prozent. Im vergangenen Jahr verloren anhand von Zahlen aus acht Bundesländern in denen unabhängige Beratungen arbeiten, dreizehn Menschen bei rechtsterroristisch, antisemitisch und rassistisch motivierten Attentaten in Istha bei Kassel, Halle (Saale) und Hanau ihr Leben.
Wie sehr rechte Gewalt den Alltag und das Leben vieler Menschen in Deutschland beeinträchtigt und wie umfassend und langanhaltend die Konsequenzen für die Hinterbliebenen, Verletzten, Überlebenden und ihre Freund*innen und Communities sind, darauf machen die im Dachverband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. (VBRG) zusammengeschlossenen 15 fachspezifischen und unabhängigen Beratungsstellen seit Jahren aufmerksam. Jährlich beraten und begleiten die Mitgliedsorganisationen mit langjähriger Erfahrung und großer Expertise hunderte Betroffene rechter Gewalttaten. Der VBRG qualifiziert, vernetzt und stärkt die spezialisierten Opferberatungsstellen, ihre Mitarbeiter*innen und Multiplikator*innen bundesweit und international, damit Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt überall Zugang zu Informationen und professioneller und solidarischer Beratung zur Durchsetzung ihrer Rechte haben.
Im Mittelpunkt der Beratungsangebote aller Mitgliedsorganisationen des VBRG stehen die Perspektive der Betroffenen und ihre Wünsche, die materiellen und immateriellen Folgen einer rechts, rassistisch oder antisemitisch motivierten Gewalttat zu überwinden: Durch die Möglichkeit der Nebenklage im Strafverfahren gegen die Täter*innen, durch materielle Entschädigung, durch Begleitung zu Vernehmungen bei Polizei, Staatsanwaltschaft und vor Gericht oder zu Ausländerbehörden, Jobcentern und anderen staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen. Hinzu kommen oft auch Öffentlichkeits- und Medienarbeit sowie Lobbyarbeit bei politisch Verantwortlichen und Behörden. Alle Mitgliedsorganisationen des VBRG haben sich auf gemeinsame Qualitätsstandards (Vgl. VBRG 2018) geeinigt. Grundsätzlich sind die Beratungsangebote kostenlos, freiwillig, parteilich im Sinne der Betroffenen, vertraulich und auf Wunsch auch anonym sowie aufsuchend und proaktiv, da viele Betroffene rechter, rassistisch und antisemitisch motivierter Gewalttaten aufgrund ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung ansonsten keinen Zugang zu den Beratungsangeboten hätten. (Opferperspektive e.V. 2013)
Botschaftstaten gegen abgewertete Gruppen und politische Gegner*innen
Als so genannte Botschaftstaten unterschieden sich rechte, rassistisch oder antisemitisch motivierte Angriffe von anderen Gewaltstraftaten, denn die Betroffenen werden nicht als Individuen, sondern als Repräsentant*innen einer von den Täter*innen konstruierten, abgewerteten und häufig ohnehin gesellschaftlich marginalisierten Gruppe oder als politische Gegner*innen angegriffen (Opferperspektive 2013). Die Feindbilder und Tatmotive speisen sich aus den Ungleichwertigkeitsvorstellungen des Kolonialismus, des historischen Nationalsozialismus und aus den aktuellen Diskursen der extremen Rechten. Die Praxis der Beratungsstellen und des VBRG e.V. ist daher auch von dem Ziel geleitet, Solidarisierungsprozesse mit den Angegriffenen und Betroffenen von Antisemitismus, Rassismus und rechter Gewalt zu initiieren und zu begleiten: Sowohl vor Ort durch lokale Interventionen als auch überregional u.a. durch Öffentlichkeitsarbeit. (vgl. Köbberling 2018)
Das reale Ausmaß rechter Gewalt anerkennen
Die im VBRG zusammengeschlossenen Beratungsstellen in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen dokumentieren darüber hinaus seit über 15 Jahren rechte, rassistische und antisemitische Gewalt aus der Perspektive der Betroffenen. Dieses unabhängige Monitoring zum realen Ausmaß rechter Gewalt gehört zu den Kernaufgaben von Opferberatungsstellen. Damit können sich alle – Journalist*innen, Wissenschaftler*innen, politisch Verantwortliche, Strafverfolgungsbehörden sowie Initiativen vor Ort und die interessierte Öffentlichkeit – einen differenzierteren Überblick über die reale Dimension politisch rechts, rassistisch und antisemitisch motivierter Angriffe verschaffen. Die Langzeiterhebungen aus den fünf Ostbundesländern und Berlin ermöglichen zudem wichtige Erkenntnisse über Betroffenengruppen und das Vorgehen der Täter*innen. Seit 2016/2017 stellen auch die VBRG-Mitglieder in den westdeutschen Flächenstaaten Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein ein unabhängiges Monitoring zur Verfügung.
Die Erfassungskriterien zum Ausmaß rechter Gewalt sind Bestandteil der gemeinsamen Qualitätsstandards der Mitgliedsorganisationen des VBRG und orientieren sich am bundeseinheitlichen polizeilichen Definitionssystem »politisch motivierten Kriminalität« (PMK – Rechts, sog. “Themenfeld Hasskriminalität”), das zuletzt zum 1. Januar 2017 reformiert wurde. Seitdem gilt bundesweit einheitlich folgende Definition: „Der Politisch motivierten Kriminalität werden Straftaten zugeordnet, wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie
- den demokratischen Willensbildungsprozess beeinflussen sollen, der Erreichung oder Verhinderung politischer Ziele dienen oder sich gegen die Realisierung politischer Entscheidungen richten,
- sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung bzw. eines ihrer Wesensmerkmale, den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes zum Ziel haben,
- durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden,
- gegen eine Person wegen ihrer/ihres zugeschriebenen oder tatsächlichen politischen Haltung, Einstellung und/oder Engagements, Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, sozialen Status, physischen und/oder psychischen Behinderung oder Beeinträchtigung, sexuellen Orientierung und/oder sexuellen Identität oder äußeren Erscheinungsbildes, gerichtet sind und die Tathandlung damit im Kausalzusammenhang steht bzw. sich in diesem Zusammenhang gegen eine Institution/Sache oder ein Objekt richtet.*
Darüber hinaus werden Tatbestände gem. §§ 80-83, 84-86a, 87-91, 94-100a, 102-104a, 105-108e, 109-109h, 129a, 129b, 234a oder 241a StGB erfasst, weil sie Staatsschutzdelikte sind, selbst wenn im Einzelfall eine politische Motivation nicht festgestellt werden kann.“
Ferner sind die Strafverfolgungsbehörden nunmehr erstmals aufgefordert – wenn auch nur in einer Fußnote (*) zur obigen Definition – „bei der Würdigung der Umstände der Tat neben anderen Aspekten auch die Sicht der/des Betroffenen mit einzubeziehen“(BMI 2016: 5).
Doch obwohl das reformierte polizeiliche Definitionssystem zur Erfassung rechter Gewalt seit knapp drei Jahren bundesweit einheitlich in Kraft ist, bestehen nach wie vor erhebliche behördliche Erfassungs- und Wahrnehmungsdefizite. Deutlich wird dies nicht nur daran, dass die unabhängigen, spezialisierten Beratungsstellen auch für 2019 – wie schon seit vielen Jahren – rund ein Drittel mehr rechte Gewalttaten als die Strafverfolgungsbehörden und die Verfassungsschutzämter registriert haben: Während das Bundeskriminalamt für 2019 für alle 16 Bundesländer 986 so genannte PMK Rechts Gewalttaten meldete (BMI: 2020) haben die im VBRG e.V. zusammengeschlossenen Opferberatungsstellen alleine in acht Bundesländern (Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen) 1.347 rassistisch, antisemitisch und rechts motivierte Angriffe im Jahr 2019 registriert (VBRG 2020).
Von den Opferberatungsstellen werden ebenfalls ausschließlich Gewalttaten gezählt, mehr als zwei Drittel davon sind auch bei den Strafverfolgungsbehörden durch Anzeigen bekannt. Beim Gewaltbegriff orientieren sich die Opferberatungsstellen an den Straftatbeständen des Strafgesetzbuches, um Nachvollziehbarkeit und Vergleichbarkeit mit den behördlichen Zahlen zu gewährleisten. Ausnahmen von den Gewaltstraftaten-Katalogdelikten der Behörden bilden existenzbedrohende Sachbeschädigungen – wie Brandanschläge auf Imbisse und Gaststätten – sowie schwere, mehrfache Nötigungen und Bedrohungen, die jedoch lediglich einen kleinen Teil der von den Beratungsstellen erfassten Taten ausmachen. Der zentrale Unterschied: Bei der Betrachtung der „Umstände der Tat“ und der „Einstellung des Täters“ ist für die Beratungsstellen die Wahrnehmung der Betroffenen, also die Opferperspektive, ausschlaggebend.
Differenzen zwischen den Zahlen von Ermittlungsbehörden und den Beratungsstellen ergeben sich zum einen aus unterschiedlichen Bewertungen und Einschätzungen der Tathintergründe. Zum anderen dokumentieren die VBRG-Mitgliedsorganisationen nach sorgfältiger Recherche auch Gewalttaten, die nicht zur Anzeige gebracht wurden, sowie in Einzelfällen auch Bedrohungen, Nötigungen und Sachbeschädigungen, wenn diese mit schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen verbunden waren. Außerdem aktualisieren die Beratungsstellen – im Gegensatz zur polizeilichen Erfassung – auch die Statistiken aus den Vorjahren nach Bekanntwerden weiterer Angriffe oder nach Verifizierung der Tatmotivation.
Übereinstimmend stellten sowohl BKA als auch die Opferberatungsstellen fest, dass in 2019 – wie schon in den Vorjahren - knapp 2/3 aller registrierten Gewalttaten rassistisch motiviert waren und sich gegen Geflüchtete, Schwarze Deutsche, Migrant*innen und andere von Rassismus Betroffene richtete.
Durch Öffentlichkeitsarbeit, Veranstaltungen und Veröffentlichungen setzen sich der VBRG e.V. und die Mitgliedsorganisationen dafür ein, dass sowohl politisch Verantwortliche als auch Strafverfolgungsbehörden und Justiz das reale Ausmaß der Bedrohung durch rechte Gewalt und Rechtsterrorismus wahrnehmen und eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Perspektive und den Forderungen der Betroffenen stattfindet. Dazu gehört auch die Forderung nach einem bundesweit einheitlichen humanitären Aufenthaltsrecht für Opfer rassistischer Gewalttaten, die sich im aufenthaltsrechtlichen Status einer Duldung befinden und von Abschiebung bedroht sind.
Gesellschaftliche Solidarisierungsprozesse
Mehrere zehntausend rechte Gewalttaten, darunter mehr als 180 vollendete Tötungsdelikte sind seit der Wiedervereinigung dokumentiert worden (ZEIT Online). Rechte Gewalt ist kein Ausnahmezustand, sondern fester Bestandteil der bundesrepublikanischen Geschichte, der kollektiven Erinnerung und beeinflusst den aktuellen Alltag vieler Menschen in Ost- und Westdeutschland. Dieser Kontinuität steht andererseits eine ebenso lange Geschichte von Kämpfen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus gegenüber: Betroffene ebenso wie ihre Freund*innen und solidarische Unterstützer*innen haben sich als Einzelpersonen oder in Gruppen und Initiativen zusammengefunden und sich solidarisch auf die Seite der direkt und indirekt Betroffenen gestellt, um ihre Vorstellung einer offenen Gesellschaft zu verteidigen – etwa durch Spendenkampagnen nach existenzbedrohenden rassistischen Brandanschlägen auf Imbisse, Gaststätten oder Einzelhändler wie in Chemnitz, Dresden (Sachsen) oder Hagen (NRW) oder durch Begleitung zu Gerichtsprozessen gegen die Täter*innen – wie etwa beim Tag X Keupstraße im NSU-Prozess am OLG München, als Initiativen aus dem gesamten Bundesgebiet die vom NSU-Nagelbombenanschlag in Köln Betroffenen im Januar 2015 während ihrer Zeugenaussagen am OLG München begleiteten.
Dazu gehört auch, dass die Beratungsstellen ehrenamtlich in migrantischen Selbstorganisationen oder zivilgesellschaftlichen Initiativen Engagierte und Kommunalpolitiker*innen unterstützen und beraten, deren Adressen von organisierten Rassisten und Neonazis auf so genannten Todes- und Feindlisten gesammelt und veröffentlicht werden. Die Beratungsstellen und der VBRG e.V. unterstützen die Betroffenen – u.a. der rassistischen, antisemitischen und rechtsterroristischen Anschläge in Halle(Saale) und Hanau sowie der Anschlagsserie in Berlin-Neukölln und der Nordkreuz-Feindeslisten in Mecklenburg-Vorpommern, in ihren Forderungen nach umfassender Aufklärung und Strafverfolgung und bei der Durchsetzung ihrer Rechte als Geschädigte.
Literatur
Bundesministerium des Innern (BMI): Definitionssystem Politisch motivierte Kriminalität. Berlin 2016. Online: https://polizei.nrw/sites/default/files/2017-11/Definitionssystem%20PMK.pdf
Bundesministerium des Innern, Bau und Heimat (BMI): Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2019. Bundesweite Fallzahlen. 2020. Online: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/pmk-2019.pdf?__blob=publicationFile&v=8
Eggers, Maureen Maisha (2005): Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der kritischen Weißseinsforschung in Deutschland. In: Eggers u.a. (Hrsg.): Mythen, Masken und Subjekte. Münster (2005), S. 56–72.
Köbberling, Gesa: Beratung von Opfern rechter und rassistischer Gewalt: Herausforderungen Sozialer Arbeit zwischen individueller Hilfe und politischer Intervention. Bielefeld 2018.
Opferperspektive e.V. (Hrsg.): Rassistische Diskriminierung und rechte Gewalt – An der Seite der Betroffenen beraten, informieren, intervenieren. Münster 2013.
Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt: Zählweise und Datenbasis des Monitoring der Mitgliedsorganisationen des VBRG e.V. 2019. Online: https://www.verband-brg.de/wp-content/uploads/2019/04/Z%C3%A4hlweise-und-Datenbasis-des-VBRG-Monitorings-22.02.2018.pdf (z.a. 28.1.2020).
Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt: Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Deutschland: Qualitätsstandards für eine professionelle Unterstützung. 4. Auflage 2018 Online: https://www.verband-brg.de/wp-content/uploads/2019/01/VBRG_Qualistandards_Vers2018_Web.pdf
Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt: Jahresbilanzen der Opferberatungsstellen 2019. 12.05.2020. Online: https://www.verband-brg.de/rechte-rassistische-und-antisemitische-gewalt-in-deutschland-2019-jahresbilanzen-der-opferberatungsstellen#bundeslaender
ZEIT Online: Todesopfer rechter Gewalt seit 1990. www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-09/todesopfer-rechte-gewalt-karte-portraet
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- 24 Jun 2020 - 06:32