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Den Opfern einen Namen geben. Bildungsmaterial zur Erinnerung an Todesopfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt seit 1990

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Zissi Sauermann ist Sozialarbeiterin und leitet die Mobilen Opferberatung. Die Fachberatungsstelle in Trägerschaft von Miteinander e.V. unterstützt seit 2001 Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Sachsen-Anhalt.

Von Zissi Sauermann 

Als wir, die Mobile Opferberatung in Trägerschaft von Miteinander e.v. in Sachsen-Anhalt, im Sommer 2019 das Bildungsmaterial zu den Todesopfern rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt seit 1990 veröffentlichten, waren allein seit 1990 bundesweit mehr als 180 Menschen durch politisch rechts, rassistisch oder antisemitisch motivierten Gewalt getötet worden, darunter auch 13 Menschen in Sachsen-Anhalt. Heute, ein Jahr später, haben die rechtsterroristischen Attentate in Halle (Saale) am 9. Oktober 2019 zwei und in Hanau am 19. Februar 2020 zehn weitere Menschenleben  gefordert.

Die Anschläge in Halle (Saale) und Hanau haben erneut auf erschreckende Weise die Aktualität und Notwendigkeit verdeutlicht, sich mit der mörderischen Zuspitzung antisemitischer, rassistischer oder antifeministischer Diskurse und extrem rechter Konzepte auseinander zu setzen. Gleichzeitig ist durch das vielfältige und solidarische Gedenken an die Ermordeten deutlich geworden, welche Bedeutung und welchen Platz im Herzen vieler unterschiedlicher Menschen die bei den Attentaten Getöteten hatten und wie wichtig es Angehörigen und Freund*innen der Getöteten und den betroffenen Communities ist, dass ihre Namen und Schicksale nicht vergessen und die politischen Motive und Hintergründe benannt und aufgedeckt werden.

Hintergrund 

Als wir 2013 die Kampagne „Wir erinnern an Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt“ ins Leben riefen, waren viele der Todesopfer und die dahinterstehenden Taten längst aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Die Opfer waren junge Punks, Arbeitsmigranten, Wohnungslose, „politische Gegner“ und Menschen, die dafür gehalten wurden, sowie Menschen mit psychischen und physischen Beeinträchtigungen. Doch lediglich sieben der Getöteten wurden in den offiziellen Statistiken des Landes Sachsen-Anhalt als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Und an vielen Tatorten und in vielen Städten erinnerte nichts mehr an die begangenen Verbrechen.

Zudem beschränkte sich das öffentliche Gedenken auf vier von dreizehn Todesopfern rechter Gewalt. Lediglich in Dessau-Roßlau und in Magdeburg hatten Initiativen und Bündnisse seit vielen Jahren immer wieder berührende Gedenkveranstaltungen anlässlich der jeweiligen Todestage für Alberto Adriano, Torsten Lamprecht, Frank Böttcher und Rick Langenstein organisiert. Seitdem wir die Erinnerungswebsite veröffentlicht und darauf neben Hintergründen zu den Tötungsverbrechen auch die Tat- bzw. Gedenkorte mit Fotos und Karteneintragungen sicht- und auffindbar gemacht, erste lokale Erinnerungspat*innen gefunden und einige der bestehenden Gedenkaktivitäten dokumentiert hatten, sind weitere Initiativen entstanden. Sie sind – teilweise bis heute – an den Angriffs- bzw. Todestagen öffentlich und erinnern vor Ort an weitere Todesopfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt.

Mit dem Bildungsmaterial „Den Opfern einen Namen geben“, das in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt entstand, setzen wir diese Bemühungen fort. Die Idee dahinter: Unser über fast zwei Jahrzehnte erworbenes Wissen und zusammengetragenes Material aus der Unterstützung von Hinterbliebenen und Betroffenen bestmöglich für eine intensive und eigenständige Befassung vor allem interessierten junger Menschen mit der tödlichen Dimension rechter Gewalt, ihren Ursachen und Hintergründen zu ermöglichen. Damit werden bestenfalls auch Ideen für ein Engagement gegen rechte, rassistische und antisemitische Aktivitäten vor Ort angeregt. Das Bildungsmaterial ist so konzipiert, dass es selbstorganisierten Gruppen eine eigenständige, interessengeleitete Beschäftigung ohne professionelle Anleitung ermöglichen soll, aber ebenso für Multiplikator*innen im schulischen und außerschulischen Bereich nutzbar ist. Dementsprechend richtet sich das Material an antifaschistische und antirassistische Initiativen, Lobby- und Selbstorganisationen (potenziell) Betroffener, Schüler*innen, Auszubildende sowie Jugendliche und junge Erwachsene in gewerkschaftlichen und kirchlichen Zusammenhängen ab 16 Jahren sowie an Multiplikator*innen.

Da das Material sowohl für bislang noch nicht mit dem Thema befasste als auch fortgeschrittenen Nutzer*innen verständlich sein und zugleich vielfältige Anregungen und Möglichkeiten der Vertiefung bieten soll, sind alle Texte so aufgebaut, dass sich jeweils in den rechten Seitenspalten weiterführende Hinweise finden – kurze Worterklärungen oder ergänzende Informationen einerseits und weiterführende Verweise innerhalb des Materials oder Weblinks andererseits. Letztere sind insbesondere für Interessierte gedacht, die – unabhängig von den Workshops – eher einzelne Texte lesen und sich das Material – je nach Interessen, Vorwissen und zeitlichen Möglichkeiten – weiter erschließen möchten.

Aufbau 

Das insgesamt 170-seitige Bildungsmaterial ist nach einem Vorwort, der Einleitung und einem Einführungstext zur Arbeit mit dem Material und zu anhaltenden behördlichen Wahrnehmungsdefiziten in drei Hauptteile gegliedert: Herzstück und Ausgangspunkt für eine intensive und weiterführende Befassung mit den Schicksalen der Getöteten, ideologischen Grundlagen, Reaktionen und weiteren Kontexten bilden die Fallgeschichten zu dreizehn Todesopfern rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt seit 1990 im A-Teil.

Hier stehen – manchmal leider sehr rare – Informationen über die Menschen, die an ihnen verübten Taten und deren strafrechtliche Aufarbeitung sowie das öffentliche Gedenken im Mittelpunkt. Die Fallgeschichten basieren auf Gesprächen mit Hinterbliebenen und dem sozialen Umfeld der Getöteten, Anwält*innen oder mit Kooperationspartner*innen vor Ort, eigenen Prozessbeobachtungen, einer Auswertung der Gerichtsurteile, der Presseberichterstattung und weiteren Quellen.

Die daran anschließenden Ideen zur Weiterarbeit ermöglichen Gruppen gemeinsame Reflexionen zu hinter den Taten stehenden Ideologien, den Lebensrealitäten potenziell Betroffener, öffentlichen Reaktionen, den juristischen Folgen oder der behördlichen Anerkennungspraxis. Der letzte Aufgabenkomplex schließlich will eine Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Gedenken und Möglichkeiten eigenen Engagements anregen.

Will sich eine Gruppe mit allen zusammengestellten Aspekten zu einem Todesopfer rechter Gewalt befassen, bietet das jeweilige Material inklusive Vorstellungs- und Abschlussrunde Stoff für einen etwa 5- bis 5 ½- stündigen Tagesworkshop. Durch die Unterteilung in Themenkomplexe ist es aber auch möglich, sich aus allen Ideen für die Weiterarbeit einzelne bedarfsgerecht zur Bearbeitung herauszugreifen. Dabei sollte allerdings darauf geachtet werden, dass einige der Aufgaben aufeinander aufbauen.

Teil B nimmt die Hintergründe der Taten in den Blick. Neben einer grundlegenden Beschäftigung mit dem Begriff rechte Gewalt sind hier jeweils kurze theoretische Einführungstexte zu wesentlichen ideologischen Grundlagen zu finden, auf die auch viele der Aufgaben aus dem A-Teil verweisen. Hierin stellen die Autor*innen die jeweiligen Begriffsgeschichten und historischen Zusammenhänge, Bezüge zum Nationalsozialismus sowie aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und Verbreitungen dar. Am Ende finden sich zudem Empfehlungen für eine weitergehende Beschäftigung. In einem Glossar werden schließlich zentrale Begriffe erläutert und kontextualisiert, die im Material selbst, in der Berichterstattung zu den Fällen oder weiteren verlinkten Texten immer wieder genutzt werden.

Teil C widmet sich schließlich dem Erinnern und Gedenken: Der Einführungstext versucht Antworten auf die Frage zu geben, warum ein Erinnern an Todesopfer rechter Gewalt wichtig ist. In einem weiteren Text reflektiert der Autor die schwierigen Rahmenbedingungen und eigene Ansprüche nicht-staatlicher Gedenkinitiativen an rechte Mord- und Gewalttaten. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie vielfältig ein Gedenken an Todesopfer rechter Gewalt im bundesweiten Kontext realisiert wird, werden zudem einige beispielhafte Erinnerungsinitiativen vorgestellt. In zwei weiteren Texten wurden Beispiele zum Aktivwerden so aufgearbeitet, dass sie nicht nur anregen, sondern auch eine konkrete Umsetzung erleichtern sollen. Ein Text zu wesentlichen rechtlichen Grundlagen bietet schließlich Orientierung für die Planung und Durchführung von Versammlungen.

Im Anhang ist neben dem Literaturverzeichnis auch ein Evaluationsbogen zu finden, den Nutzer*innen des Materials zum Feedback ausfüllen und uns zur Überarbeitung und Verbesserung des Materials zukommen lassen können.

Das Bildungsmaterial wurde in niedriger Auflage als Ringordner gedruckt, sodass es sich gut als Kopiervorlage eignet. Es kann kostenfrei bei der Mobilen Opferberatung bestellt oder heruntergeladen werden. Eine Aktualisierung des Materials zu Jana L. und Kevin S., die bei dem antisemitischen und rassistischen Anschlag im Oktober 2019 in Halle (Saale) ermordet wurden, u.a. auch zu Spezifika des Rechtsterrorismus, ist nach Abschluss des Gerichtsverfahrens gegen den Angeschuldigten geplant.

 

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