Empfehlung Lebensbericht

Janina Hescheles: Mit den Augen eines zwölfjährigen Mädchens

Von Lucas Frings

Die Erinnerungen von Janina Hescheles, von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur im März diesen Jahres veröffentlicht, bilden eine besondere Form des Zeugnisses ab. Sie schreibt sie nur Wochen nach ihrer Flucht aus dem Lager Lemberg-Janowska im Oktober 1943 „‚brühwarm‘“(S.23), wie es eine von Hescheles‘ Retter*innen, Maria Hochberg-Mariańska, im Vorwort ausdrückt. Sie hatte Janina Hescheles auch darum gebeten, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Hescheles führte ihr Heft nicht fort, stattdessen wurde es ­– um es zu sichern – mehrfach an andere Orte verbracht und hat so die Shoah überdauert.

Auf den ersten Seiten beschreibt Janina Hescheles den Pogrom gegen die Lemberger Juden am 30. Juni 1941 durch ukrainische Nationalisten, von den zuvor einmarschierten deutschen Truppen toleriert. Zuerst noch auf der „arischen Seite“ Lembergs lebend, kommt sie ins Ghetto, dass im Januar 1943 in ein „Julag“, ein „Judenlager“ bzw. „Jüdisches Arbeitslager“ umgewandelt wird. Anschließend noch im Arbeitslager der Deutschen Ausrüstungswerke untergebracht, verschlechtern sich die Lebensbedingungen Hescheles‘ dramatisch, nachdem sie in das neu aufgebaute Lager Janowska gebracht wird.

1931 geboren, spielt für die junge Janina Hescheles das familiäre Umfeld, insbesondere ihre Eltern eine bedeutende Rolle. Ihr Vater wird bereits in den ersten Tagen der deutschen Besatzung ermordet. Nur durch vielfache Unterstützung von Ärzt*innen oder Gefängniswärtern gelingt es Janina Hescheles und ihrer Mutter lange vor Abtransporten oder Erschießungen bewahrt zu bleiben. Eine weitere Bedrohung entsteht jedoch aus den hygienischen Bedingungen, Typhus war im Ghetto und im Lager eine andauernde Bedrohung.

Von der Mutter wird Hescheles getrennt. Diese muss sie regelrecht zwingen sie zu verlassen, um zu überleben; sie selbst wird ermordet. Dieses einschneidende Erlebnis, die Sehnsucht nach elterlicher Zuneigung und dem damit verbundenen Schutz versucht sie in Gedichten zu verarbeiten. Diese und auch das Singen mit anderen Häftlingen machen ihr das Leben für kurze Zeit erträglicher. Nachdem im Lager die Lebensgefahr weiter steigt, täglich Menschen erschossen wurden, entschließt sich Hescheles zur Flucht, gelangt zu Bekannten in Lemberg, die ihr jedoch nur bedingt helfen können und kehrt ins Lager zurück.

Sie, die kurz zuvor nicht verstehen konnte, warum andere Gefangene teilnahmslos ihrem Tod entgegenblickten, hat nun auch die Lust am Gesang verloren und sie zeigt Verständnis für ebenjene: „Mir war die Lust am Leben vergangen, und ich fühlte eine Abscheu dem Leben gegenüber.“ (S.78) 1943 wird ihr durch Mithäftlinge und deren Helfer*innen, die ihre literarische Begabung schätzen, die Flucht nach Krakau ermöglicht. Sie überlebt im Versteck.

Der bedachte, behutsame Umgang in der polnischen Neuauflage von 2015 und durch die Arbeitsstelle Holocaustliteratur hat dazu geführt, dass die ursprüngliche Form der Aufzeichnungen wieder sichtbar wird. Bei der polnischen Erstveröffentlichung 1946 war – aus Angst vor Zensur – die Beschreibung der Zeit nach der sowjetischen Besatzung gestrichen worden, diese Änderungen sind im vorliegenden Buch in den Fußnoten kenntlich gemacht. In selber Fassung ist Hescheles Text auch Teil von „Im Feuer vergangen. Tagebücher aus dem Ghetto“, das 1958 in Ostberlin erschien.

Um die dichten, unmittelbaren Aufzeichnungen - denen zu folgen stellenweise schwer fällt - besser nachvollziehen zu können, versuchen zahlreiche Fußnoten Geschehnisse zu datieren und Namen einzuordnen. Den Erinnerungen Hescheles sind Passagen hinten angestellt, die nicht in der Erstveröffentlichung 1946 enthalten waren, die den Leser*innen zwar insbesondere die Lebensbedingungen näher bringen, zeitlich jedoch nur bedingt einordbar sind. Die beeindruckenden Gedichte sind jedoch mit dem Entstehungszeitraum versehen. So schreibt sie von der „arischen Seite“ in Lemberg an ihre Mutter im Ghetto

„Ich sehne mich nach dem vergang’nen Glück

Als die Eltern mir das Tor zum Leben öffeneten

Nach einer Liebkosung, einem warmen Wort

Ach, was bleibt mir dann noch? –

Die Sehnsucht“ (S.93)

Die Verbindung der Erinnerungen von Janina Hescheles mit dem Verlauf der Judenverfolgung und des Massenmordes an den Orten ihres Textes nimmt Markus Roth von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur im letzten Part des Buches vor. Der Überblick ermöglicht es die persönlichen Schilderungen sowie die beschriebenen Orte und Daten zu sortieren und besser nachvollziehbar zu machen. Es bietet sich an, im Anschluss den Bericht Hescheles‘ erneut zu lesen. Dabei geht Roth auf die Bedeutung von Literatur im Lager Janowska ein, die die Häftlinge „mitunter gar neue Kraft und Zuversicht schöpfen“ (S.116) ließ. Roth widmet sich auch der Rezeption der Veröffentlichung von 1946. Von der Jüdischen Historischen Kommission herausgegeben, traf sie auf positive Reaktionen.

Eine weitere Besonderheit der Publikation, da in Zeitzeug*innenberichten der Shoah in dieser Deutlichkeit unüblich, findet sich im Vorwort. Dort fasst Janina Hescheles nicht nur ihr Leben zusammen, sie zieht auch eine Parallele in die jüngste Vergangenheit, zur Vertreibung der arabischen Bevölkerung Haifas 1948 und die Besetzung (1967-2004, Anm. LF) bzw. die Kontrolle bestimmter Lebensbereiche im Gazastreifen. Eine Parallele, keine Gleichsetzung. Sie schreibt: „Ich spüre mein Lemberg auch in Haifa, in den zugemauerten Fenstern und Türen der verlassenen Häuser von Wadi Salib (…)“ (S.18) und „Die Bombardierungen von Gaza im Juli 2014 riefen mir das Lemberger und das Warschauer Ghetto und meine Vergangenheit in Erinnerung“ (S.19). Janina Hescheles engagiert sich seit der „Ersten Intifada“ 1987 bei den „Women in Black“, einer in Israel gegründeten Anti-Kriegs-Bewegung von Frauen.

Hescheles Werk zeichnen sich durch detaillierte Beschreibungen von Lebensumständen und Begegnungen aus, zudem weisen ihre Gedanken hohe Selbstreflexion auf, etwa zum Glauben: „War dies nicht alles Selbstbetrug? Wozu das Fasten? Gibt es überhaupt einen Gott? Und wieder hörte ich auf zu glauben.“ (S.84)

Das vorliegende Buch ist komplex, es verlangt seinen Leser*innen eine hohe Konzentration bei der Lektüre der Erinnerungen ab. Können diese durchdrungen und kontextualisiert werden, eröffnet sich jedoch ein bemerkenswertes, berührendes frühes Zeugnis. Dem einerseits aus einer naiv-kindlichen Perspektive geschilderten, andererseits nachdenklich und wohlformulierten Text Hescheles ist zu wünschen, dass die überarbeitete und kommentierte Neuauflage von Hescheles‘ Texten erneute Aufmerksamkeit findet.

Hescheles, Janina (2019): Mit den Augen eines zwölfjährigen Mädchens. Ghetto – Lager – Versteck, Berlin, 16€.

 

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