Arbeitsstelle Holocaustliteratur: Geschichte(n) bewahren, erforschen, vermitteln
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Charlotte Kitzinger
Erinnert und weitergegeben wird, was sowohl individuell als auch kollektiv bewahrt wird. Es bedarf der Geschichtsschreibung, um Fakten und historisches Wissen zu strukturieren, zu kontextualisieren und auch zu überprüfen. Sie dokumentiert und trägt die Daten, Orte, Personen und Ereignisse zusammen und bildet so gleichsam den Rahmen für jede Form der Erinnerungsarbeit in Gedenkstätten, Schulen, Universitäten und in der Öffentlichkeit. Es bedarf jedoch auch individueller und mehrstimmiger Erinnerungen, um der Masse der Fakten und des Wissens Bedeutung, Perspektive und Relevanz für den Einzelnen zu geben. Die Literatur – damit ist die ganze Bandbreite autobiografischer, berichtender und fiktionaler Erzeugnisse gemeint – kann einen entscheidenden und gänzlich anderen Beitrag als jener – ebenso wichtige – der Historiker leisten. Denn Literatur ist Erinnerungs- und Zukunftsarbeit auf individueller Ebene, sie kann dem*der Rezipient*in daher eindringlicher Geschichte(n) erzählen und ihn*sie dazu bringen, sich in gänzlich fremde, unverständliche Situationen sowie Zeiten hineinzudenken und einzufühlen. Sie kann so also dem Erstarren und Ritualisieren der Erinnerung entgegenwirken.[1]
Die Erinnerungen und Erzählungen der Holocaust- und Lagerliteratur dienen zudem nicht nur dem Überlebenden, Zeitzeugen oder auch unbeteiligten Autor dazu, dem (persönlichen) Trauma der systematischen Verfolgung und Ermordung auf erzählerischer Ebene zu begegnen und erzählerisch zu gestalten, sondern tragen auch dazu bei, das Wissen über den Holocaust generationen- und zeitübergreifend weiterzugeben.
Die Arbeitsstelle Holocaustliteratur
Die Literaturwissenschaft hat „als ‚Gedächtnisagentur‘ erheblich dazu beigetragen […], dass Texten der Holocaust- und Lagerliteratur eine seit nunmehr fast 30 Jahren wachsende Aufmerksamkeit zuteil wird“ (Feuchert 2009: 148). Sie hat daran mitgewirkt, dass das Wissen um den Holocaust breiter und eine empathische Identifikation mit den Opfern möglich und schließlich zur gängigen öffentlichen und kulturellen Praxis wurde.
Als bundesweit bislang einzige Einrichtung befasst sich die Arbeitsstelle Holocaustliteratur (AHL) an der Justus-Liebig-Universität Gießen seit 20 Jahren – komplementär zu den historischen Forschungen – eigens mit der literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Untersuchung und Aufbereitung von Texten der Holocaust- und Lagerliteratur. Über viele Jahre wurde die AHL überwiegend durch projektbezogene Drittmittel finanziert. Ganz wesentlich wird die Arbeit auch durch den Förderverein der Arbeitsstelle Holocaustliteratur unterstützt. Seit 2016 bis 2021 fördert das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst nun den Ausbau der AHL. Auch die seit dem 1. Juni 2017 neu eingerichtete „Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftungsprofessur für Neuere Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Holocaust- und Lagerliteratur sowie ihre Didaktik“, die von Sascha Feuchert bekleidet wird, trägt zu einer Verankerung und Verstetigung der Forschung und Lehre zur Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität bei.
Der Begriff Holocaust- und Lagerliteratur im Verständnis der AHL
Die Bezeichnung Holocaustliteratur ist spätestens seit den 1980er Jahren weit verbreitet. Ausgehend von den Vereinigten Staaten, dort unter anderen von der Literaturwissenschaftlerin und Holocaust-Überlebenden Susan Cernyak-Spatz angestoßen, hat sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Holocaustliteratur auch in Deutschland zu einem vielfältigen Diskurs- und Forschungsfeld entwickelt. Dabei war es immer wieder umstritten, was zu dieser Gruppe von Texten (oder auch Gattung) gehörte.
Die Gießener Definition basiert auf einem weiten Verständnis des Begriffs: Ausgehend von der Tatsache, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten gegen andersdenkende und vermeintlich andersartige Menschen bereits 1933 begannen und dass darüber auch sofort (im weiteren Sinne) literarisch geschrieben wurde, werden hier Texte über alle Aspekte der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik beginnend mit den ersten Maßnahmen der Ausgrenzung ab 1933 bis hin zu den Massenmorden während des Zweiten Weltkriegs zur Gattung gezählt. Dies schließt Texte zur Verfolgung von Juden*Jüdinnen, politischen Gegner*innen, Homosexuellen, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas und anderen ein.
Ganz wesentlich hat sich diese Gattung aus der frühen Lagerliteratur entwickelt, die ihrerseits mit der Tradition der Gefängnis- und Kriegsgefangenenliteratur vor 1933 in Verbindung stand. Zu dieser frühen Lagerliteratur gehören die Texte – Berichte, Tagebücher, Autobiografien, Romane und Gedichte – der Opfer und Überlebenden, die von den Geschehnissen in den nationalsozialistischen Lagern vor 1939 Zeugnis ablegen und erzählen. Um diese Entwicklung deutlich im Gattungsnamen abzubilden, ist es deshalb sinnvoll, von Holocaust- und Lagerliteratur zu sprechen.
Nach dem Gießener Verständnis fallen unter Holocaust- und Lagerliteratur folglich alle literarischen Werke, die das Schicksal der politischen, rassischen und anderen Opfergruppen der Nationalsozialisten zentral behandeln. Das bedeutet, dass hierzu die noch während des Geschehens entstanden Zeugnisse, Tagebücher und Chroniken ebenso zählen wie nachträglich verfasste Erinnerungen. Überdies umfasst der Begriff auch fiktionale Werke wie Romane, Gedichte und Dramen, die entweder bereits während der Ereignisse oder aber erst nach Kriegsende entstanden sind. Dies können Texte von unmittelbar betroffenen Opfern und Überlebenden, von Nachgeborenen der zweiten und dritten Generation oder aber von gänzlich Unbeteiligten sein.
Wesentliches und gemeinsames Merkmal dieser Texte ist, dass sie thematisch dominant auf die Verbrechen der Nationalsozialisten und ihre Folgen rekurrieren. Die Texte aus den ersten Jahren des Nationalsozialismus ab 1933 erzählen vor allem von der zunehmenden Verfolgung, den Gewaltexzessen und Erfahrungen in den Gefängnissen und frühen Lagern, die späteren (ab Kriegsbeginn) dann v.a. von den Deportationen und Vernichtungsmaßnahmen. Dennoch ist im Erzählen über die Ereignisse ab 1933 eine gewisse Kontinuität zu beobachten, aber auch eine zunehmende Ausdifferenzierung, die es plausibilisieren, diese Texte unter einer Bezeichnung zusammenzufassen.
Die Verbindung des*der Autor*in zum Geschehen ist dabei ein wichtiges Merkmal zur Einordnung (und Beurteilung) des einzelnen Textes, da sie die Rezeptionshaltung des*der Leser*in gegenüber dem Werk (maßgeblich) beeinflusst. Sie stellt jedoch kein Kriterium für die Zuordnung des Werks zur Holocaust- und Lagerliteratur dar. Darüber hinaus prägen Vermischungen und Grenzüberschreitungen, etwa zwischen verschiedenen Textsorten und zwischen nicht-fiktionalen und fiktionalen Darstellungen, viele Werke der Holocaust- und Lagerliteratur.
Zudem lässt sich – im Hinblick auf die Rezeptionshaltung vieler Leser*innen – feststellen, dass an diese Texte – vor allem an die der ‚unbeteiligten‘ Autoren – neben literarischen oftmals auch moralische Ansprüche gestellt werden, sodass diese also sowohl ethische wie ästhetische Fragen aufwerfen. Dies ließ sich zuletzt etwa an Takis Würgers Roman „Stella“ verfolgen. Er erzählt in fiktionaler Art und Weise, aber auch unter Einbeziehung von historischem Quellenmaterial, eine Liebesgeschichte um die zentrale Figur der Jüdin Stella, die – nach schwerer Folter und nach der Drohung durch die Berliner Gestapo, ihre Eltern zu deportieren – als ‚Greiferin‘ in Berlin untergetauchte Juden denunzierte. Um den Roman ist eine vor allem moralische und weniger ästhetische Kontroverse um die Frage nach künstlerischer Freiheit einerseits und Wahrung der Persönlichkeitsrechte der historischen Person Stella Goldschlag, auf deren Geschichte der Roman basiert, andererseits entbrannt. Mit dieser und ähnlichen Debatten einher geht auch ein gesellschaftlicher Diskurs um jeweils ‚angemessene‘ Erzählformen zum Holocaust, der dabei gleichzeitig das Sprechen über die Ereignisse selbst lebendig hält. Dieser Diskurs, den nicht zuletzt auch die Überlebenden selbst immer wieder sehr kontrovers geführt haben, setzte schon mit dem Beginn des Schreibens über die Ereignisse ein und ist bis heute aktuell.
„Geschichte[n] bewahren, erforschen, vermitteln“
Die Texte der Holocaust- und Lagerliteratur lebendig zu halten, ist ein zentrales Anliegen der AHL. „Geschichte[n] bewahren, erforschen, vermitteln“ lautet daher ihr Motto. Ein wesentliches Beschäftigungsfeld waren von Anfang an Editions- und Publikationsprojekte, wie die „Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt“, die 2007 im Wallstein-Verlag herausgegeben wurde. Weitere Editionsarbeiten folgten 2011 mit der Veröffentlichung des Tagebuchs von Friedrich Kellner „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne“, 2013 mit dem Bericht Konrad Heidens „Eine Nacht im November 1938“ über den Novemberpogrom bis hin zur aktuell laufenden Edition der „Enzyklopädie des Gettos Lodz/Litzmannstadt“. Ein weiteres laufendes Editionsprojekt ist die Erschließung der jiddischen Zeitschrift „Fun letstn churbn“ („Von der letzten Vernichtung“) in deutscher Übersetzung. Dieses Publikationsvorhaben, das von der Friede Springer Stiftung finanziert und an der AHL von Dr. Markus Roth betreut wird, wird in einem eigenen Artikel dieser Ausgabe des LaG-Magazins vorgestellt.
Aber auch die Sammlung und Aufbereitung früher Texte der Holocaust- und Lagerliteratur – im nachfolgenden Artikel ausführlicher beschrieben – ist seit 2012 eine Kernaufgabe der AHL. In einer gemeinsamen Schriftenreihe mit der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich, „Studien und Dokumente zur Holocaust- und Lagerliteratur“, werden darüber hinaus Zeugnisse zugänglich gemacht, die erstmals publiziert werden, in Vergessenheit geraten sind oder bisher nicht auf Deutsch vorlagen. Erschienen sind in dieser Reihe seit 2015 sieben Bände.
Eine weitere zentrale Tätigkeit der AHL ist die universitäre Lehre und die Kooperation mit schulischen und außerschulischen Bildungsträgern. So gehören neben regelmäßigen Gedenkstättenfahrten mit Studierenden, insbesondere des Lehramts, beispielweise auch Workshops mit Schulklassen zum Programm.
In der universitären Lehre aber auch darüber hinaus stellt natürlich die Ausbildung von Multiplikator*innen, der vor allem zukünftig noch größere Bedeutung zukommt, einen wichtigen Bestandteil der Tätigkeiten dar. Denn im Hinblick auf das ‚Zeitalter nach den Zeitzeugen‘ stellen sich ganz neue gesellschaftliche Herausforderungen, ganz wesentlich auch für den Bildungsbereich. Haben in der Vergangenheit immer wieder Überlebende und Zeitzeug*innen an Schulen, in Seminaren sowie im Rahmen von Lesungen von ihren Erlebnissen berichtet, werden diese Gespräche nun immer seltener möglich und müssen schon in naher Zukunft durch andere Formen ‚ersetzt’ werden. Dies kann etwa durch den zielgruppenorientierten Einsatz der literarisch überlieferten Narrative an Schulen und darüber hinaus z. B. im Rahmen von Gedenkstättenfahrten oder durch die öffentliche Auseinandersetzung mit den Textzeugnissen in Form von Lesungen und Dialogrunden geschehen. Wichtig für die AHL ist daher neben der Publikation von Lektüreschlüsseln zu Werken, die im schulischen Kontext (bereits) eine Rolle spielen, zunehmend auch die Erarbeitung (literatur-)didaktischer Konzepte zum Einsatz der Textzeugnisse in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit.
Gemeinsam mit Kristine Tromsdorf von der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich erarbeitet Anika Binsch von der AHL beispielsweise zurzeit eine Workshopeinheit inklusive einer Handreichung für Lehrkräfte zum Textzeugnis „Tagebuch 1942-1945. Aufzeichnungen eines Fünfzehnjährigen aus dem Holocaust“ von Michael Kraus, das 2015 als erster Band der bereits genannten Schriftenreihe erschien.
Als Fachberater steht die AHL aktuell zudem dem MDR/KiKA für die Serie „Der Krieg und ich“ zur Verfügung.[2] Die Sendungen wurden Ende August und Anfang September 2019 bei KiKA ausgestrahlt und sind ab Herbst 2019 auch im Ersten zu sehen. Im Umfeld der Ausstrahlung unterstützte die AHL die KiKA-Fernsehproduktion in Bezug auf inhaltliche, historische und fachdidaktische Fragen. Prof. Dr. Sascha Feuchert begleitete zudem die Dreharbeiten an den historischen Orten wie Auschwitz oder Lodz. Begleitend zu den einzelnen Sendungen wurde von KiKA ein Chat angeboten. Hier stand auch das Team der AHL für die Fragen der Kinder zur Verfügung – und konnte über 400 Fragen bereits beantworten.
Aus der didaktischen Arbeit in Universitäts-Seminaren heraus entstehen auch immer wieder Abschlussarbeiten, die einen originären Beitrag zur Forschung leisten. So hat beispielsweise Nicole Widera in ihrer Staatsexamensarbeit zum Thema „Holocaustliteratur: Definitionsproblematik, Potenzial und Verwendungsmöglichkeiten im Unterricht“ eine empirische Untersuchung zum Einsatz von Holocaustliteratur im Deutschunterricht in Hessen unternommen. Diese Studie, für die sie auch als Jahrgangsbeste (L3 – Lehramt an Gymnasien) von der Hessischen Lehrkräfteakademie (Prüfungsstelle Gießen) ausgezeichnet wurde, stellt sie in einem eigenen Artikel dieser Ausgabe vor.
Literatur
Cernyak-Spatz, Susan: German Holocaust-Literature. New York (u.a.): Lang, 1985.
Feuchert, Sascha: Der ethische Pakt und die Gedächtnisagentur Literaturwissenschaft. Überlegegungen zu ethischen Problemfeldern eines literaturwissenschaftlichen Umgangs mit Texten der Holocaustliteratur. In: Lubkoll, Christine/Wischmeyer, Oda (Hg.): Ethical Turn? Geisteswissenschaften in neuer Verantwortung. München: Fink, 2009, S. 137-156.
Weitere Informationen und Kontakt
Arbeitsstelle Holocaustliteratur am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität GießenOtto-Behaghel-Str. 10 B / 1
D-35394 Gießen
Deutschland
Telefon: (06 41) 99 290-93, -83
Telefax: (06 41) 99 29094
E-Mail: arbeitsstelle [dot] holocaustliteratur [at] germanistik [dot] uni-giessen [dot] de
Internet: https://www.holocaustliteratur.de
Historisches Institut – Osteuropäische Geschichte
Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg (Vorsitzender)
Otto-Behaghel-Straße 10/D
35394 Gießen Internet: www.holocaustliteratur.de/deutsch/Der_Verein/
E-Mail: hans-juergen [dot] boemelburg [at] geschichte [dot] uni-giessen [dot] de
[1] Im Dissertationsprojekt „Fiktionen über den Holocaust. Zu der Notwendigkeit und den Grenzen von Geschichten über Geschichte“ von Charlotte Kitzinger wird das Erzählen von Geschichten als Grundbedürfnis des Menschen verstanden, da es für seine Identitäts- und Sinnstiftung unerlässlich ist. Die Verfasserin widmet sich in ihrer Arbeit daher der Frage, wie fiktionale Texte der Holocaust- und Lagerliteratur von dem geschichtlichen Ereignis des Holocaust und oftmals von den individuellen und persönlichen Lebensgeschichten und Traumata der Autor*innen erzählen. Einige der nachfolgenden Überlegungen entstammen diesem Forschungsprojekt.
[2] Vgl. dazu auch: https://www.kindernetz.de/derkriegundich/sendezeiten/der__krieg__und__ich/-/id=481164/nid=481164/did=481320/uagja6/index.html (Stand: 29.08.2019).
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- 3 Nov 2019 - 11:05