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„Ich war ein seltener Fall“ Die deutsch-jüdisch-polnische Geschichte der Leni Zytnicka

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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„Ich war ein seltener Fall“ Die deutsch-jüdisch-polnische Geschichte der Leni Zytnicka. Klartext Verlag Essen 2018. 19,95€.

Von Ingolf Seidel

Helene Zytnicka, geborene Mantwill, wurde am 28. Oktober 1938 im Rahmen der sogenannten Polenaktion mit ihrem jüdischen Mann und ihren Kindern deportiert und später ins Warschauer Ghetto verschleppt. Bereits der Beginn des Projekts der Aufzeichnung ihrer Erinnerungen war ungewöhnlich, so ungewöhnlich wie ihre Lebens- und Verfolgungsgeschichte. Suchen in den meisten Fällen Interviewer*innen Menschen auf, mit denen sie ein Zeitzeug*innengespräch führen wollen, so kam hier der Neffe von Frau Zytnicka auf die späteren Interviewer*innen, Autor*innen und Herausgeber*innen Heidi Behrens und Norbert Reichling zu. Und, Frau Zytnicka stellte einige ungewöhnliche Bedingungen. Darunter die, dass die Interviewenden politisch »eher links-liberal«(S.7) eingestellt sein sollten, »keinesfalls aber Angehörige des konservativ-bürgerlichen Lagers«. Eine andere Hoffnung von Frau Zytnicka, die nach einer zeitnahen Veröffentlichung ihrer Erinnerungen, ging nicht in Erfüllung. Die Publikation des Buches im vergangenen Jahr hat sie nicht mehr erlebt. Die 1904 in Altenessen Geborene starb 2007 im Alter von 103 Jahren. 

Die Lebens- und Verfolgungsgeschichte von Helene „Leni“ Zytnicka ist außergewöhnlich. Sie stammt aus einer evangelischen Familie die sie als »christlich-weltlich bezeichnet«(S.17) – ein Hinweis auf eine liberale Atmosphäre. Die Familie kommt aus Ostpreußen und ist erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Ruhrgebiet zugezogen. Der Vater arbeitet als Bergmann in einer Zeche. Nach einem Arbeitsunfall mit anschließender langer Genesung findet er eine Anstellung als Polier. Ob er seine spätere Ehefrau, Karoline Dibbel im Ruhrgebiet kennengelernt hat, oder sich Helenes Eltern bereits früher begegnet sind, bleibt im Unklaren. Beide heiraten 1901 auf dem Altenessener Standesamt und bekommen insgesamt acht Kinder. „Leni“ besucht die Schule bis zum siebten Schuljahr; der Besuch einer weiterführenden Schule kommt anscheinend nicht in Betracht. Im Anschluss an eine mehrmonatige Reise nach Ostpreußen besuchte die junge Frau ein Jahr lang eine Handelsschule. In einem Essener Möbelgeschäft findet sie »eine Stelle als Kassiererin, Kontoristin und Buchhalterin«(S.23). An ihrem Arbeitsplatz lernt sie ihren späteren Mann kennen. 

Der 1903 in Warschau geborene Kaufmann David Zytnicki migrierte 1919 nach Deutschland. Er wird »als den jüdischen Traditionen verbunden, ohne sonderlich religiös zu sein«(S. 27) geschildert und arbeitete als Kleinhändler für eine Wäschefirma. Mit der Heirat, die von polnischer Seite nur als religiös geschlossene akzeptiert wurde und die daher „Lenis“ Übertritt zum Judentum erforderlich machte, verlor Helena Mantwill/Zytnicka ihre deutsche Staatsangehörigkeit. Das Arbeitsleben von David Zytnicki ist nach 1933 gekennzeichnet von etlichen Stellenwechseln, die wahrscheinlich auf die antisemitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten zurückgingen, die sich auch gegen jüdische Kleinhändler*innen richtete. In seiner Freizeit war David Zytnicki im „Verband der Ostjuden“ engagiert. Die Gesamtzahlen über die Wanderbewegungen von Juden*Jüdinnen aus „Russisch-Polen“ (S.30) und nach dem Ersten Weltkrieg aus dem polnischen Staat sind unbekannt. Während Deutschland im Ersten Weltkrieg ebenso wie später in der Weimarer Republik Arbeitskräfte anwarb, versuchten in Osteuropa viele Juden*Jüdinnen den Pogromen und staatlicher Willkür zu entkommen. Das Ruhrgebiet bildete einen Schwerpunkt der Ansiedlung osteuropäischer Juden*Jüdinnen: »1918 schätzte man ihre Zahl auf 16.000, darunter etwa 4.000 im Bergbau.«(S.31). Die polnisch-jüdischen Zuwanderer*innen waren nicht nur mit dem Antisemitismus der Dominanzgesellschaft konfrontiert, zugleich war ihr rechtlicher Status prekär und auch Diskriminierungen vonseiten der eingesessenen jüdischen Bevölkerung waren nicht selten. Man schämte sich der als ärmlich angesehenen polnischen Juden*Jüdinnen. Zugleich bestand die Befürchtung die mühsam durch Assimilation gewonnene Integration, die durchaus brüchig blieb, würde durch die Migrant*innen gefährdet. Für die Zugewanderten gab es Gründe genug sich in Vereinigungen und sogar Parteien zusammenzuschließen. Kulturelle und soziale Selbsthilfe spielten eine wichtige Rolle im Leben der jüdischen Migrant*innen. 

Die Jahre zwischen 1933 und 1938 werden durch die Zeitzeugin verhältnismäßig knapp behandelt. Ab 1932 besuchte die Tochter Sonja Judith die reformpädagogisch orientierte Israelitische Volksschule. Und, so Helene Zytnicka,»1932, da fing das ja schon langsam an«(S.49). Bis 1938 wurde in Essen, wie anderswo, ein Großteil jüdischen Eigentums „arisiert“. Ausreiseüberlegungen wie sie in vielen jüdischen Familien eine Rolle spielten schildert Helene Zytnicka den Interviewer*innen nicht, wie sie insgesamt die Zeit bis zum 28. Oktober 1938 als relativ ungetrübt darstellt. 

An diesem Tag öffnete Frau Zytnicka erstaunt zwei Zivilbeamten die Tür. Es war der Tag der Deportation der Familie, die wie ca. 17.000 polnische Juden*Jüdinnen mit den notdürftigsten Habseligkeiten abgeholt und zu Sammelstellen gebracht wurde, von denen aus sie in Zügen zur polnischen Grenze geschickt wurde. Während die Mehrheit der Bevölkerung den Deportationen eher gleichgültig gegenüberstand, wurde den zurückgebliebenen assimilierten jüdischen Gemeindemitgliedern klar, dass dies erst ein Auftakt war. Die Familie Zytnicka/Zytnicki gelangte so in die Kleinstadt Zbąszyń, in der vor der Ankunft der Abgeschobenen 4.000 Einwohner*innen lebten. Zbąszyn ist rund 100 km östlich von Frankfurt an der Oder gelegen, direkt an der zentralen Eisenbahnstrecke Berlin – Posen – Warschau – Moskau. Die Ankunft von 6.000 Menschen, die es unterzubringen und zu versorgen galt, musste die Verantwortlichen vor Ort überfordern. Die Zustände waren chaotisch. Noch am 5. November mussten 2.000 Menschen auf der Straße leben. David Zydnicki wurde auch hier bei Selbsthilfeaktionen aktiv. Das polnische Judentum unterstützte die deportierten Menschen rasch. Ein in Warschau ansässiges Hilfskomitee sammelte Spenden. Auch der Historiker Emanuel Ringelblum arbeitete in einem von jüdischen und christlichen Gruppen initiierten Komitee mit und auch das Joint Distribution Committee aus den Vereinigten Staaten organisierte Hilfe. Helene Zytnicka berichtet erstaunt von freundlicher und hilfsbereiter Aufnahme durch die polnische Bevölkerung. Damit ist sie keine Ausnahme und sie mutmaßt: »Möglicherweise zertrümmerte das Zusammentreffen mit wirklichen Juden, leidenden und verfolgten Menschen, die ideologischen Mythen?« (S.74) 

Die Familie Zytnicka/Zytnicki blieb bis August 1938 in Zbąszyń, bevor sie in Warschau bei einem Bruder von David Zytnicki unterkam. Dies war möglich, weil die polnische Regierung angesichts der zunehmenden deutschen Aggressionen im Grenzgebiet festsitzende Menschen einreisen ließ. Vorher konnte Helena Zytnicka noch mit offizieller Genehmigung nach Essen reisen. Es war eine von drei Fahrten, die sie von Polen nach Deutschland unternahm. Neben ihren Angelegenheiten kümmerte sie sich dort auch um Vermögensdinge ebenfalls ausgewiesener Freund*innen. Auch Bargeld brachte sie so legal und illegal nach Warschau. Dort lebte die Familie bei David Zytnickis Bruder Jacub in einer Etagenwohnung, die auch der Geburtsort Davids war. Nach dem Überfall auf Polen rückte die deutsche Wehrmacht schnell vor. Militärische Hilfe, das mussten die Pol*innen sehr schnell lernen, war von den verbündeten Staaten Großbritannien und Frankreich nicht zu erhoffen. Bereits am 25. September wurde Warschau bombardiert und am 1. Oktober marschierten die Deutschen in der Stadt ein. Von den in Warschau lebenden 350.000 Jüdinnen*Juden konnte sich nur ein kleiner Teil vorerst in Sicherheit bringen. Mit dem deutschen Einmarsch in die polnische Hauptstadt wirkten sich nicht nur die Folgen der durch Bombardements zerstörten Infrastruktur und der damit einhergehende Versorgungsmangel an Wasser und Elektrizität auf jüdische wie nichtjüdische Pol*innen aus. Bereits im November 1939 wurde im „Generalgouvernement“ die Kennzeichnungspflicht für Jüdinnen*Juden sowie für jüdische Geschäfte eingeführt. Antijüdische Übergriffe und Gewalttaten gab es in dieser frühen Phase der Besatzung auch von polnischer Seite aus. Neben Gewaltakten war die zwangsweise Einrichtung eines „Judenrats“ ein eklatanter Einschnitt; der „Judenrat“ sollte die antisemitischen Anordnungen der Besatzer*innen umzusetzen. In der sogenannten jüdischen Selbstverwaltung war auch David Zytnicki seit der Einrichtung des Ghettos im Oktober/November 1940 in unbekannter Funktion aktiv. Die Tätigkeit verschaffte ihm einen besseren Zugang zu Informationen, die durchschnittlichen Ghettobewohner*innen verborgen blieben. Später wird David Zytnicki dem Ghetto-Arbeitsamt zugewiesen. Trotz der Abtrennung des jüdischen Ghettos von der Stadt gelang es dessen Bewohner*innen immer wieder die Grenzen unter Lebensgefahr zu überwinden. Die ökonomischen und sozialen Beziehungen zur „arischen“ Seite boten zeitweise Möglichkeiten des Überlebens. Helena Zytnicka nutzte für den Seitenwechsel den Pass ihrer Schwester und gab sich als Deutsche aus. Bei den immer wieder stattfindenden Kontrollen reagiert sie mit einer Mischung aus Wagemut, Geistesgegenwart, geschickter Kommunikation und wahrscheinlich auch mit Bestechung von Wachposten. 

Die ab dem 22. Juli stattfindende „Große Aktion“ mit der die Teilliquidierung des Ghettos und seiner Bewohner*innen begann, überlebte David Zytnicki. Während vom sogenannten Umschlagplatz aus Hunderttausende in die Vernichtungslager, vor allem nach Treblinka, deportiert werden, warnte ihn sein deutscher Vorgesetzter, der Leiter der Arbeitsamtsnebenstelle, Dr. Friedrich Ziegler. Ob das aus Berechnung, Altruismus oder beidem geschah, bleibt offen. Seine Arbeit als Schreibtischtäter versuchte Ziegler später im Entnazifizierungsverfahren zu verschleiern. Wann genau David Zytnicki die Flucht zu seiner Frau und den Kindern, die bereits außerhalb des Ghettos lebten, mithilfe seines Vorgesetzen gelang ist unklar. Den Aufstand im Warschauer Ghetto überstand David Zytnicki auf der nicht-jüdischen Seite. Die ältere Tochter Judith Sonja wurde im Juli 1944 bei einer Razzia festgenommen und in ein Zwangsarbeitslager nach Berlin-Weißensee verschleppt. Judith Sonja überlebte die Zwangsarbeit und heiratete kurz nach dem Krieg. Sie wird im Oktober 1945 die erste aus der Familie sein, die nach Essen zurückkehrt. Mit dem Näherrücken der Roten Armee, die Ende Juli 1944 bereits an der Weichsel stand und im Zuge des Warschauer Aufstandes den die polnische Armia Krajowa führte, begannen hektische Absetzbewegungen der Deutschen. Auf Befehl der Besatzer mussten auch Helena Zytnicka und ihre Tochter Henny ihre Wohnung und die Stadt verlassen. David Zytnicki musste, versteckt, zurückbleiben. Der letzte Kontakt bestand aus einer Postkarte vom 15. November 1944, die er an die Eltern seiner Frau schrieb. Vermutlich mittels eines Flüchtlingsausweises und eines falschen Passes gelangten Mutter und Tochter ins sächsische Mühlberg. Judith Sonja bereitete mit Ämtergängen die Heimkehr von Helena und Henni Zytnicka vor. Schließlich, Anfang Januar 1948 kommen beide nach Essen. Wie viele andere NS-Verfolgte musste auch Helena Zytnicka um die Anerkennung ihrer Verfolgung, um Entschädigung, aber auch um die Rückgabe der ihr aberkannten deutschen Staatsbürgerschaft kämpfen. Vermutlich damit verbunden ist ihre eingangs geschilderte Skepsis gegenüber dem konservativen Milieu. 

Der eigentlichen Lebensgeschichte von Helene Zytnicka vorangestellt ist eine Einführung von Behrens und Reichling. Hier geben die Herausgeber*innen, bzw. Autor*innen einen Einblick in die wissenschaftlichen Anforderungen an Oral History und in die Schwierigkeiten und Herausforderungen der Erzählung von Frau Zytnicka. Dazu gehören eine sprunghafte Erzählweise mit Vor- und Rückgriffen, retraumatisierende Erinnerungen sowie Ereignisse, die sich seitens der Interviewer*innen nicht durch spätere eigene Recherchen verifizieren ließen. Sinn dieser Reflexionen, die am Ende des Buches im Kapitel „Nachbemerkungen“ noch einmal aufgenommen und in dem auch die Interviewer*innen ihre Rollen selbstkritisch beleuchten, ist nicht, die Glaubwürdigkeit der Zeitzeugin zu erschüttern. Vielmehr können mit eigenständigen Recherchen und historischen Kontextualisierungen Zeitzeug*innenberichte quellenkritisch eingeordnet werden. „Versteinerungen“ der Erinnerung, Lücken und Widersprüchlichkeiten in den Aussagen sind nahezu zwangsläufig beim Erzählen traumatisierender Erlebnisse. Gleichzeitig befinden sich die Chronist*innen der Erzählung in einer komplizierten Situation zwischen der Erwartung die »subjektive Wahrheit“(S.13) der Verfolgungsgeschichte zu erzählen ‚wie sie wirklich wahr‘ und den „wissenschaftsgeleiteten Rekonstruktionen«(S.202). Die Anlage des Buches ist auf das historische Lernen ausgerichtet. Helena Zytnickas»Erzählungen eröffnen einen alltagsnahen Zugang zum Themenkomplex der NS-Verbrechen«(S. 204). Darüber hinaus bietet die Geschichte der Familie Zytnicka/Zytnicki die Möglichkeit der biographischen Verknüpfung »mit heutigen Migrationsdebatten – und erfahrungen«. (Ebda.) Durch den quellenkritischen Umgang mit den Aussagen der Zeitzeugin, ergänzt durch wissenschaftliche Recherchen und historische Einordnungen ist Heidi Behrens und Norbert Reichling eine Publikation gelungen, die das Potential von Oral History beispielhaft ausschöpft. Das Resultat ist ein empfehlenswertes biografisches Geschichtsbuch, das sich für das historische Lernen auch in Auszügen nutzen lässt.

 

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