„Krieg und Menschenrechte. Perspektiven aus Völkerrecht, Erinnerungskultur und Bildung“
Von Lucas Frings
In ihrem Sammelband vereinen Gunter Geiger, Direktor der Katholischen Akademie Fulda und Daniela Schily, Generalsekretärin des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., 13 Beiträge, die sie in die Themengruppen „Zeitgeschichte und politische Praxis“, „Schutzverantwortung“ und „Bildung im Gespräch“ unterteilt haben. Die Publikation geht aus der gleichnamigen Veranstaltungsreihe des Volksbundes und der Katholischen Akademie Fulda hervor.
Zeitgeschichte und politische Praxis
Eine historische Grundlage bietet das Kapitel von Felix Boor zur Geschichte der internationalen Strafgerichtsbarkeit bei Menschenrechtsverstößen nach 1945. Die Entwicklung unterteilt Boor in drei Stufen. Die erste Stufe von Boors Kommentierung umfasst die Kriegsverbrecherprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere die Hauptverbrechertribunale in Nürnberg und Tokyo, die nach dem Londoner Abkommen vom August 1945 als interalliierte Militärtribunale abgehalten werden sollten, da sich die Taten auf das Gebiet mehrerer Staaten erstreckte. Neben der Frage, wie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu verstehen sind, widmet sich Boor dem 1948 definierten und 1951 in Kraft getretenen Straftatbestand „Völkermord“. Dieser erlangte in der zweiten Phase, die von den Strafgerichtshöfen für Jugoslawien und Ruanda und gemischt-internationalen Strafgerichten u.a. in Sierra Leone, Liberia und Kambodscha geprägt ist, Bedeutung. Die mit dem Rom-Statut von 2012 verbundene Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag bedeutete einen weiteren Meilenstein der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Felix Boor gibt einen guten historischen Überblick, der gleichzeitig deutlich macht, wie veränderbar die Strafgerichtsbarkeit bleibt. Boor greift auch Kritik am Strafgerichtshof auf, insbesondere Konflikte mit der Afrikanischen Union um einen Neokolonialismusvorwurf und die Weigerung bei Klagen gegen amtierende Staatsoberhäupter zu kooperieren.
Einem weiteren Institutionstyp widmet sich Anna Würth mit Nationalen Menschenrechtsinstitutionen und deren Handeln nach Gewaltkonflikten.
Nationale Menschenrechtsinstitutionen – wie das Deutsche Institut für Menschenrechte – haben den Auftrag „im eigenen Land die Umsetzung der Menschenrechte zu überwachen“ (S.31).
Die staatliche Finanzierung von Nationalen Menschenrechtsinstitutionen birgt jedoch das Problem, dass in der Wiederaufbauzeit unmittelbar nach Konflikten, wenn es also viele Aufgaben für Menschenrechtsinstitutionen gibt, ihre Mittel gekürzt werden könnten und ihre gesetzlich festgelegte Unabhängigkeit dadurch schwindet. Ihre Handlungsautonomie ist jedoch auch gefährdet, wenn sie etwa von anderen Staaten gefördert werden.
Methoden der Menschenrechtsförderung, die Würth vorstellt, sind unter anderem Trainings zur Etablierung einer „Kultur der Menschenrechte“ (S.35) für Berufsgruppen wie Polizist*innen und Mitarbeiter*innen aus dem Justizwesen und Multiplikator*innen aus dem Bildungsbereich oder Monitoring von alten und neuen Menschenrechtsverletzungen.
Mit anschaulichen Beispielen aus Georgien und Afghanistan gelingt es Würth den abstrakten Gegenstand der Menschenrechtsinitiativen greifbarer zu machen. So lässt sich anhand zahlreicher angezeigter Menschenrechtsverletzungen in Georgien vor 2012 aufzeigen, dass die Kompetenzen von Nationalen Menschenrechtsinstitutionen beschränkt sind, wenn Exekutive und Judikative nicht gewillt sind Untersuchungen weiterzuverfolgen.
Günter Saathoff bietet einen historischen Überblick über Entschädigungen und Opferperspektiven bei Kriegsverbrechen und „Verbrechen gegen die Menschheit“. Hatten die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse zwar neue völkerrechtliche Maßstäbe gesetzt, hielten sie in ihrer Strafprozesslogik die Täter im Blick und waren ohne Kompetenz über Entschädigungsfragen zu entscheiden. Detailliert zeigt Saathoff auf, wie sich die bundesrepublikanische Politik unter Berufung auf das Londoner Schuldenabkommes, das Bundesentschädigungsgesetz (beides 1953) gegen Schadensersatzforderungen wehrte. Ebenso sorgte die rechtliche Unklarheit, wie die geschaffenen Konventionen und Gerichte auf Forderungen von ehemaligen Zwangsarbeiter*innen gegen Unternehmen anzuwenden seien, für eine jahrzehntelange Nichtberücksichtigung dieser Opfergruppe. Die Perspektive auf Entschädigung, wonach nunmehr ein Beleg für erlittenes Unrecht, unabhängig von der konkreten Täterschaft, ausreichte wurde nach 1989 auch bei der Entschädigung von SED-Unrecht angewandt und fand seinen Weg auch ins internationale Recht. Der Internationale Strafgerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sehen sich jedoch auch in Entschädigungsfragen dem Grundsatzproblem ihrer Legitimation und Verbindlichkeit ausgesetzt: Für die Umsetzung muss der betreffende Staat das Urteil umsetzen wollen.
Eine biographische Form wählt Ulla Kux in ihrem Beitrag. In Form einer Erinnerung an den Juristen Raphael Lemkin beschreibt sie den Weg zur maßgeblich von Lemkin erarbeiteten Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes. Kux gibt in parallelen Strängen Kindheits- und Jugenderinnerungen Lemkins und die Entwicklung von Völkerrechtskonventionen wieder. Die Stränge treffen 1921 zusammen, als Lemkin unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges ein Jurastudium aufnimmt. Anhand von Zitaten lässt sich seine kontinuierliche Beschäftigung, beinahe Besessenheit mit dem Völkerstrafrecht erkennen, die Kux in ihrer tiefgehend recherchierten, sehr persönlichen Schilderung mit Alltagseindrücken paart.
Nach vier Beiträgen mit juristischem Bezug widmet sich Marco Bonacker mit der Beziehung von Gewalt und christlicher Religion einer anderen Perspektive. Die dicht belegte Darstellung alttestamentarischer Ambivalenz zur Bewertung von Gewalt und Krieg ist trotz einiger Sprünge auch für Laien gut verständlich. Der Autor kommt in seiner Analyse von Altem und Neuem Testament zu dem Schluss, dass „das Judentum und schließlich vor allem das Christentum die Spirale der menschlichen Gewalt freigelegt und erkannt [haben], dass nur der Verzicht auf Gewalt im Angesicht der Gewalt befreien kann“ (S.88). Spannend ist vor allem sein Blick auf den Weg der Kirche zur Anerkennung der Menschenrechte, etwa durch Papst Johannes XXIII. in der Enzyklika „Pacem in terris“(Frieden auf Erden) von 1963. So gebe es laut Bonacker, neben der Gewaltgeschichte auch eine Friedengeschichte des Christentums.
Günther Wolf befasst sich mit Menschenrechtsverstößen, die bewusst und gezielt als Kriegsinstrumente verwendet werden und somit als Kriegsverbrechen zu sehen sind. Zum Teil ruft Wolf bereits in den ersten Beiträgen des Bandes benannte Elemente des Kriegsvölkerrechts auf, die Betonung des Unterscheidungsprinzips zwischen Soldat*innen und Zivilist*innen sowie das Gebot der Verhältnismäßigkeit ist jedoch in seiner Dezidiertheit zentral für seine weiteres Vorhaben. Als Beispiele für Menschenrechtsverstöße als Kriegsverbrechen nennt Wolf unter anderem Massenexekutionen, Genozide, Vergewaltigungen, Zwangsumsiedlungen oder „Moral Bombing“, gezielte militärische Operationen gegen die Zivilbevölkerung. Seine Argumentation führt ihn an einer Kritik der fragwürdigen Verbindlichkeit des Völkerrechts entlang zu seinem Fazit, der Krieg sei eine originäre Menschenrechtsverletzung. Abkommen und Verträge seien „nichts anderes als Regeln, wie doch ein Krieg geführt werden kann“ (S.116) und begünstigten und akzeptierten seine Existenz.
Schutzverantwortung
Der zweite Hauptteil zur Schutzverantwortung beginnt mit Sven Bernhard Gareis’ Diskussion wie die Staatengemeinschaft, insbesondere der UN-Sicherheitsrat, mit ihrer Schutzverantwortung Menschenrechtsverletzungen verhindern kann. Dies sei jedoch durch das Gebot der Staatensouveränität herausgefordert, da militärische Interventionen diese verletzen würde. Gareis argumentiert daher, dass Souveränität als Verantwortung des Staates gegenüber den in ihm lebenden Menschen zu verstehen sei. Während sich die Implementierung dieses Grundsatzes vorerst wie eine Erfolgsgeschichte liest, stellt Gareis dieser den Anwendungsfall von Libyen 2011 gegenüber. Durch den UN-Sicherheitsrat zunächst aufgefordert seine Bevölkerung zu schützen, wurde Libyen kurz darauf von NATO-Verbänden angegriffen. Dabei sei zwar den gängigen Schritten des „Responsibility to Protect“-Vorgehens zur Erhalt der Staatensouveränität gefolgt worden, dennoch litt das Ansehen des Konzeptes, u.a. durch die Parteinahme für die libysche Opposition.
Welche ethische Orientierungskompetenz bei Soldat*innen im Einsatz besteht, diskutiert Anja Seiffert in ihrem Beitrag. Durch Feldforschung bei Bundeswehreinsätzen in Afghanistan 2010 erlangte Seiffert Einblicke in das Verständnis von Schutzverantwortung bei gleichzeitigen Kampfaufgaben. In diesem Spannungsfeld brauche es ethische Orientierungskompetenz bei den Soldat*innen. Diese sei aber auch nach dem Einsatz gefordert, da die Autorin in ihren Forschungen eine große Wahrnehmungsdifferenz und Sprachlosigkeit zwischen deutschen Soldat*innen nach ihrem Einsatz und der in Deutschland lebenden Bevölkerung feststellt. Tendenziell würden Soldat*innen als Opfer und nicht als aktive Kämpfer*innen wahrgenommen, was oftmals nicht ihrem Empfinden entspricht.
Aus der Perspektive katholischer Friedensethik schaut Marco Schrage auf ethische Probleme militärischer Intervention, bei denen Aggressions- und Unterdrückungssituationen zu Lasten Dritter gehen. Insbesondere aus dem Neuen Testament und christlicher Praxis folgert Schrage acht Kriterien für ethische Herausforderungen, die er jeweils auf die Intervention in Libyen 2011 anwendet.
Unter dem Ziel der Vermeidung bzw. Minimierung von Gewalt, könne es Situationen geben, in denen eine militärische Intervention zur Verhinderung von Gewalttaten nötig werde, die jedoch mit einer „Haltung der Demut [...] nicht (maximalistisch) auf ‚den großen Wurf’, sondern vielmehr (minimalistisch) auf ‚das Minimieren des Entsetzlichen’“ (S.180) abzielen müsse.
Bildung im Gespräch
Den dritten, bildungswissenschaftlich orientierten Teil leitet Thomas Koch mit seinen Überlegungen zum „Gerechten Frieden“ als pädagogisches Leitbild ein. Dieser umfasse den Zugang zu überlebensnotwendigen Gütern und Teilhabe an Bildung und Gesellschaft für jeden Menschen. Als Bedrohungen des Friedens sieht Koch jedoch nicht nur Krieg, sondern auch globale Ungerechtigkeit, Armut und Hunger sowie die Klima-Katastrophe. Dies setzt er in Bezug zur Frage nach einem möglichst ethischen Leben, mit der sich auch Jugendliche in der Optionsgesellschaft mit steten, teils schwer überschaubaren, Wahlmöglichkeiten gegenübersehen. Ziel ethischer Friedensbildung sei es „gegenwärtige und zukünftige friedenspolitische Probleme in ihrem Zusammenhang mit Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe sowie in ihrer globalen Abhängigkeit für Jugendliche erkennbar zu machen und ihnen Wege eines empathischen und politischen Handelns zu eröffnen“ (S. 193). Das erfordere von Pädagog*innen eine klare Grundhaltung, die Jugendlichen eine Erwartung nach Engagement kommuniziert.
Martin Lücke argumentiert in seinem Kapitel für eine Verknüpfung von historischem Lernen und Menschenrechtsbildung, beide würden bei Jugendlichen ein Bewusstsein für die Möglichkeit von Veränderungen hervorrufen. So könne historisches Lernen und das Wissen um stattgefundene Veränderung zu „herrschaftskritische[r] Aneignung von Vergangenheit“ (S.197) führen. Demgegenüber hat Menschenrechtsbildung einen normativen Bezugspunkt, nicht nur Verstehen sondern Veränderung im Sinne einer Menschenrechtsförderung sind ihr immanent. Lücke plädiert für ein historisches Lernen, das Inklusion als Menschenrecht anerkennt und eine Erinnerungslandschaft schafft, in der conflicting memories verhandelt werden. Als Themen für inklusives historisches Lernen schlägt der Autor neben Entrechtungsprozessen wie im Nationalsozialismus auch Erfolgsgeschichten von Emanzipation und dem Kampf für Rechte, wie Frauenbewegungen oder die „black power“-Bewegung vor.
Der Beitrag von Rolf Wernstedt lässt sich eher schwer einem der drei Hauptteile des Sammelbandes zuordnen. Deutlich als Rede und Apell erkennbar, zeichnet er ausführlich unter anderem den Westfälischen Frieden und die Haager Landkriegskonvention nach, bevor er die Bedeutung von Erinnerung betont.
Im letzten Beitrag veranschaulicht Nele Fahnenbruck wie sich Krieg und Menschenrechte in der Bildungsarbeit des Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge wiederfinden. Nach einem kurzen Überblick über die Geschichte und Arbeitsmaterialien des Volksbundes gibt Fahnenbruck ein anschauliches Beispiel von kritisch-reflexiver Bildungsarbeit anhand einer vom Volksbund errichteten Kriegsgräberstätte für deutsche Soldaten in Sologubowka in der Nähe von St. Petersburg. Die dort erwähnte heutige Versöhnung sei in Frage zu stellen, da auf dem Friedhof auch Beteiligte der Blockade von Leningrad liegen, über deren Gräbern eine Versöhnung schwierig sei. In der Bildungsarbeit sei es wichtig ebendiese Widersprüche und Konflikte anzusprechen und mit verschiedenen Generationen in Russland in einen Austausch und Dialog zu kommen.
Die Dreiteilung des Bandes mit seinen vorangestellten historischen und juristischen Überblicken, der sensiblen Debatte um eine Schutzverantwortung von Staaten, insbesondere in Kriegssituationen sowie Perspektiven für die Bildungsarbeit formt einen äußerst lesenswerten Band. Die Texte sind größtenteils gut lesbar und verständlich und bilden eine spannende Bandbreite zwischen abstrakt-theoretischen und konkret-fallbezogenen Blickwinkel.
Die fundierten Überblicke überzeugen für sich genommen, nebeneinander gestellt kommt es jedoch leider mehrfach zu Dopplungen.
Eher selten ist das Format, in dem sich theologische und sozial- und geschichtswissenschaftliche Perspektiven abwechseln. Bei der Lektüre erfordert dies eine kurze Verortung des Textes bzw. des*der Autor*in um sich auf den Bezug und juristische oder religiöse Argumentationen und Normen einzulassen. Das bietet den Blick in andere Disziplinen, was auf Tagungen oder in Sammelbänden sonst selten möglich ist.
Geiger, Gunter/ Schily, Daniela (Hg.): Krieg und Menschenrechte. Perspektiven aus Völkerrecht, Erinnerungskultur und Bildung, Opladen/Berlin/Toronto 2018. 28€ (Print) bzw. 22,90€ (PDF).
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- 26 Jun 2019 - 06:06