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Aus Politik und Zeitgeschichte: Ungarn

Von Lucas Frings

Zwanzig Jahre nach der Ausrufung der Republik Ungarn, (2009), veröffentlichte die Bundeszentrale für politische Bildung ein „Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ)“-Heft mit dem knappen Titel „Ungarn“. Darin sind sieben Artikel versammelt, die sich – oftmals mit einem historischen Blick – gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aspekten Ungarns widmen.

Im einleitenden Beitrag berichtet der Journalist Sebastian Garthoff von seinen ersten Tagen als Journalist in Ungarn im „Seuchenjahr 2006“ (S.4), in dem Menschen durch mehrere Naturkatastrophen sterben, der Kapitän des in den 1950er überaus erfolgreichen Männerfußballteams stirbt und die Wähler_innentäuschung durch den Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány bekannt wird. Dabei sieht Garthoff, „wie sehr die Ungarn der Vergangenheit verhaftet sind“ (S.4), etwa in der Trauer um den Kapitän Puskás, den viele nie spielen sahen und den Bezug der Proteste gegen Gyurcsány auf den Volksaufstand 1956.

An mehreren Punkten ist sein Artikel beinahe ein zeithistorisches Dokument. Mit Fidesz-Demonstrationen, wachsenden Antisemitismus und der Gründung der paramilitärischen „Ungarischen Garde“ der Jobbik-Partei beschreibt er die Anfänge heute normalisierter Zustände, sein Text wandelt sich vom lockeren Reisebericht zur düsteren Zukunftsvision.

Der Politikwissenschaftler Jürgen Dieringer teilt die ungarische Systemtransformation in vier Abschnitte. Die Form der Ablösung des alten Regimes (1988-1990), die aus Beratungen zwischen Teilen der alten Staatspartei und liberaler sowie nationalistischer Opposition hervorging, habe Stabilität statt Zusammenbruch bedeutet. Andererseits sei so eine gesellschaftliche sowie justizielle Aufarbeitung der alten Regierung ausgespart worden.

Die darauffolgende Phase der Systemetablierung und Konsolidierung (1990-1998), mit einer bürgerlichen und einer sozialliberalen Regierung, ist zunächst von der Bildung einer konsensorientierten politischen Landschaft geprägt, ab 1994 bestimmen Reformen und letztendlich eine Stabilisierung der Wirtschaft die politische Arbeit. Dieringer kommt zu dem Schluss, 1998 habe sich Ungarn in einer „Phase der Stabilität“ (S.7) befunden, die jedoch im Anschluss weder für Reformen des Parlaments, des Gesundheits- und Bildungswesen noch für eine Totalrevision der Verfassung genutzt worden – „Das System blockierte sich selbst, und die politische Kultur wurde zunehmend konfrontativer“ (S.7). Ausgerechnet mit der Wahl Viktor Orbáns zum Ministerpräsidenten beginnt nach Dieringer die Phase der forcierten Europäisierung (1998-2002). Um die Verhandlungen zum Beitritt in NATO und EU nicht zu gefährden setzte die ungarische Regierung auf Stabilität im politischen Prozess statt auf umfassende Veränderungen. Die fünf Jahre nach dem EU-Beitritt 2004, die „Nachbeitrittskrise“, bildet den Hauptteil des Artikels. In den zehn Jahren nach Erscheinen des Heftes hat sich jedoch viel getan, so dass die Ausführungen zum Parteiensystem, mit 2006 lediglich zwei bestimmenden Parteien, schon eine historische Analyse darstellen. Andererseits beschreibt der Autor Entwicklungen, wie die „Entparlamentisierung des politischen Systems“ (S.9) sowie die Dominierung des Politikprozess durch starke Ministerpräsidenten, die sich auch nach 2009 fortgesetzt haben. Eine mögliche Entwicklung Ungarns im Falle einer rechtsgerichteten Regierung beschreibt Dieringer abschließend sehr treffend: „[D]ie Nation als historisches und ethnisches Gebilde“ (S.11) im Mittelpunkt, einem und einem Abstammungsprinzip in der Bevölkerungspolitik.

Auch Attila Ágh beschäftigt sich mit der Nachbeitrittskrise und allgemein mit Ungarn in der EU. Ágh bezeichnet Ungarn, nach Politik- und Wirtschaftskrise, als einen der pessimistischsten EU-Mitgliedsstaaten. Zudem seien die Ungar_innen aber generell besonders anspruchsvoll – etwa puncto Sozialwesen und Verbesserung der persönlichen ökonomischen Situation – und deutlich anspruchsvoller als die Bewohner_innen anderer Länder. Andererseits erfuhr Ungarn während der Finanzkrise auch direkte und indirekte Unterstützung der EU.

Eine Unzufriedenheit bestehe zudem insbesondere über nationale Politik, diese werde jedoch auch auf die Unterstützung der Europäischen Union umgelegt. Doch selbst bei kontinuierlicher Ernüchterung über die EU, bewerten die Ungar__innen sie als deutlich vertrauenswürdiger als die nationalen Institutionen. In ihrer Zustimmung zur Entwicklung EU-weiter Strategien, etwa zu Forschung, Verteidigungs- oder Energiepolitik unterscheiden sie sich nicht von anderen EU-Bürger_innen (vgl. S.15). Allerdings werden solche Themen nur bedingt öffentlich verhandelt, die Europawahlkämpfe in den 2000er-Jahren waren überwiegend von innenpolitischen Fragen geprägt.

Die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 auf Ungarn sind Thema des Beitrags von András Inotai. Trotz des globalen Charakters der Krise, sieht er bestimmte Faktoren in politischen Entscheidungen der 1990er-Jahre, etwa die Vernachlässigung von strukturellen Reformen. Die einigermaßen stabile ungarische Wirtschaft kriselte schon 2006, als die Folgen von Investitionen in den Binnenmarkt und den Autobahnbau sowie gestiegene Sozialausgaben zu einem Haushaltsdefizit führten. Der Ursprung der Krise von 2008/2009 ist nicht in Ungarn zu suchen. Daher betrachtet Inotai vor allem die Folgen der Krise bzw. die Krisenanfälligkeit der ungarischen Gesellschaft auf vier Ebenen (Zeitfaktor, Finanzpolitische Krisenanfälligkeit, Wirtschaftspolitische Krisenanfälligkeit, Mentale Krisenanfälligkeit).

Für die eigene Konsolidierung benötigten die Mutterbanken Kapital, was zu einem Abfluss von Vermögen ins Ausland führte, da das ungarische Bankenwesen zu 80% aus ausländischen Banken bestand. Ein großer Teil der Kredite von Privatpersonen und Unternehmen war im Ausland aufgenommen worden, eine ungarische Kontrolle oder Verhandlung im Rahmen der Krise war somit nicht möglich.

Durch eine starke Konzentration auf technologieintensive und langlebige Produkte im Export, die während der Krise am ehesten verzichtbar waren, wurde die ungarische Wirtschaft stark getroffen. Inotai argumentiert jedoch, dass trotz dieser wenig diversifizierten Exportstruktur, Ungarn auf den richtigen und sonst erfolgreichen Sektor gesetzt habe. Skeptisch ist der Autor auch gegenüber einer künstlichen Belebung des Wirtschaftswachstum, da somit die Abhängigkeit von ausländischem Kapital weiter steigen würde, viel mehr könnte eine Abwertung des Forint die Exporte ankurbeln.

Mit der mentalen Krisenanfälligkeit spricht Inotai unter anderem ein mangelndes Krisenbewusstsein, eine geringe Reformwilligkeit und das Fehlen einer Zukunftsvision der Bevölkerung an. Weiter gebe es ein Missverhältnis zwischen erlangten demokratischen Freiheitsrechte und fehlender Übernahme individueller Verantwortung. Insgesamt sei selbst während Krisenzeiten ein Mangel an Solidarität in der Gesellschaft festzustellen, eine Polarisierung und Demagogisierung in der Politik seien mögliche Folgen. Inotais Beitrag verhandelt die ungarische Krise auf einem ökonomisch anspruchsvollen Niveau, weitere Erklärungen wären hilfreich gewesen um die speziellen ungarischen Aspekte nachzuvollziehen.

Nach mehreren Beiträgen im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise, widmet sich Kristián Ungváry der Erinnerungspolitik an das 20. Jahrhundert. Dabei nimmt er vor allem das „Terrorhaus“ und den Zentralfriedhof in Budapest sowie nationale Symbole in den Blick. Das „Terrorhaus“, ehemaliger Sitz der rechtsradikalen Pfeilkreuzler und von 1945 bis 1950 Hauptquartier der Staatssicherheit, besteht seit 2002 als Museum, das gleichermaßen die Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus und seiner ungarischen Unterstützer_innen als auch an Opfer kommunistischer Verbrechen verhandelt. Ungváry gibt neben einer Beschreibung von Ausstellungs- bzw. Gedenkelementen einen Überblick über die Debatten um das Haus. Zentral ist die Verankerung einer Totalitarismustheorie in der Ausstellung, die sich in einem „Wechseln der Uniform“ vom Pfeilkreuzler zum Kommunisten manifestiert. Somit liegt der Fokus auf der politischen Polizei statt auf nationaler Verantwortung und ist zudem falsch, da es diesen Wechsel nicht gab. Vielmehr seien viele Juden mit einem durchaus antifaschistischem Anspruch Mitglied der politischen Polizei nach 1945 geworden. Ungváry sieht in dieser Verdrehung klare Absicht: „Die Gründe dafür sind klar: Die Ausstellung will über die Kommunisten nur kompromittierendes Material darstellen. Antifaschismus hat deshalb kaum Platz“ (S.29). Der Antikommunismus wird jedoch ausschließlich heroisch dargestellt, eine Benennung rechtsradikaler Bewegungen bleibt aus.

Auch am Zentralfriedhof von Budapest überlagert sich die Erinnerung an verschiedene Opfergruppen, wenn auch allesamt aus der kommunistischen Zeit von 1945 bis 1962 stammen. Die hier begrabenen wurden u.a. als Kriegsverbrecher und Opfer von Schauprozessen hingerichtet. Zum Teil wurden sie in einer Parzelle beerdigt, in einer weiteren Parzelle liegen jedoch fast ausschließlich Opfer von Schauprozessen und Revolutionäre von 1956. Als das Gelände nach 1989 zugänglich wurde, begann der Kampf um die Deutungshoheit der Gräber und der nationalen Gedenkstätte in Gedenkformen aber auch als Orte des Protestes gegen die Regierung, bis 2007 eine Untersuchung eine Differenzierung zwischen beerdigten Kriegsverbrechern und Kriminellen und anderen Ermordeten herstellte.

Anhand der historischen Árpád-Fahne, die erst von den Pfeilkreuzlern und heute von Rechten übernommen wurden und des Symbols des Turul-Vogels, ebenfalls von den Pfeilkreuzlern vereinnahmt, zeigt Ungváry auf, wie die Rechtsnationalisten um Platz und Deutungshoheit im öffentlichen Raum kämpfen und ihnen dabei kaum Einhalt geboten wird. Insbesondere die beiden Symbole und das Terrorhaus dienen, so Ungváry, „als Kulissen für die selektive Wahrnehmung der nationalen Geschichte“ (S.33), die die eigene Nation zum Teil entlasten, aber keine mehrheitsfähige Geschichtsinterpretation anbieten.

 

Wie Ingolf Seidel in seinem Beitrag in dieser LaG-Ausgabe aufzeigt, erlebt die Bevölkerungsgruppe der Rom_nja in Ungarn starke Ausgrenzung und direkte Bedrohung. Melani Barlai und Florian Hartleb nehmen in ihrem APuZ-Artikel zuerst eine historische Verortung der Minderheit in der ungarischen Geschichte vor. Dabei lösen sie durch die Thematisierung verschiedener Zuwanderungswellen bis zum 20. Jahrhundert eine Betrachtung als homogene Gruppe auf, widmen sich der Frage nach Arbeitsintegration und Minderheitenpolitik bevor sie sich auf die Zeit nach 1990 konzentrieren. Mit der Anerkennung als ethnische Minderheit 1993 begann eine Zunahme der Selbstorganisation, die jedoch bei starker Stigmatisierung und fehlenden Zuwendungen instabil bleibt. Insbesondere durch eine Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt – nach 1990 waren sie die ersten, denen gekündigt wurde – bleibt die gesellschaftliche Spaltung bestehen. Einen spannenden Aspekt bringen die Autor_innen mit der politischen Partizipation ein. Aufgrund von Perspektivlosigkeit entwickelte ein Großteil der Roma eine Apathie gegenüber dem politischem System. Davon, dass Parteien bei Wahlen auch Rom_nja aufstellen, solle man sich nicht täuschen lassen, da dies oft lediglich der Versuch sei sich Stimmen von Rom_nja zu sichern. In ihrem perspektivischen Ausblick gehen Barlai und Hartleb auch auf die sich verschlechternden Bilder in der Mehrheitsbevölkerung und Attacken von Rechtsextremen ein. Die befürchteten bürgerkriegsähnlichen Zustände sind in Ungarn zwar noch nicht eingetreten, die Fälle von brutaler Gewalt sind jedoch keinesfalls geringer geworden.

 

Im letzten Beitrag des APuZ-Heftes schreibt der Historiker Zsolt K. Lengyel eine umfassende ungarisch-europäische Beziehungsgeschichte. Dabei geht er bis zur Christianisierung um 1000 u.Z. zurück und beschreibt wie Ungarn durch verschiedene Bündnisse etwa als „Brückenstellung zwischen dem lateinischen und dem griechischen Christentum“ (S.40) diente. Ein angesichts aktueller Entwicklungen und Debatten spannender Aspekt ist der wiederkehrende Fokus auf Gebietsveränderungen und Bevölkerungszusammensetzung, da schon immer Nichtungar_innen oder Nichtchrist_innen auf ungarischem Gebiet gelebt haben. Die politische Nationskonzeption, die Hungarus-Konzeption, nach der alle „Bevölkerungsgruppen Ungarns mit ihren ethnisch-kulturellen Sondermerkmalen der Natio hungarica“ (S.43) angehörten, stand im 19. Jahrhundert dann einem Nationalismus mit Ethnienbezug gegenüber, welcher sich Ende des Ersten Weltkrieges durchsetzte. Anschließend verstand sich Ungarn als Mutterstaat für die ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern, seit 1989 sind die Regierungen durch eine Verfassungsnovelle „verpflichtet, ‚das Schicksal der außerhalb der Grenzen’ der Republik Ungarn lebenden Magyaren Verantwortung zu tragen und ‚’zur Pflege von deren Beziehungen zu Ungarn’“ beizutragen. Auch die Beziehungen zu Deutschland, etwa zu einzelnen Landesregierungen werden von Lengyel aufgegriffen.

Besonders hervorzuheben ist die Einbindung von Forschungsfragen, die aus dem Artikel deutlich mehr als eine Chronologie machen, wenn es etwa um die rumänische und ungarische Auslegung der siebenbürgischen Eigenstaatlichkeit im 16. Jahrhundert geht.

 

Das vorliegende APuZ-Heft bietet einen umfassenden Einblick in die Geschichte Ungarns, in den sozio-ökonomischen Aufbau, in Mentalitäten und in weitgreifende Debatten und Herausforderungen des Landes. Wie von der Reihe gewohnt, sind die Texte ansprechend und zugänglich geschrieben und weitestgehend ohne Ungarn-Vorkenntnisse verständlich.

Viele der eröffneten Themen haben auch nach zehn Jahren eine hohe Relevanz, manches hat sich geändert und aufgestellte Prognosen lassen sich von heute aus bewerten.

Ein Jahr vor dem Fidesz-Wahlsieg 2010 erschienen, bietet dieses Heft auch Einblicke in ein Land vor dem Rechtsruck und stellt somit gewissermaßen ein zeithistorisches Dokument dar.

 

 

 

 

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