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Von Dieter Segert
Problemstellung
Viktor Orbán, Chef der Partei Fidesz und Premierminister Ungarns, wird bei in Deutschland für seine antiliberale Politik immer wieder kritisiert. Trotzdem siegte seine Partei bei allen Wahlen seit 2010. Bei den Parlamentswahlen bekam Fidesz 52,7 Prozent, vier Jahre später 45 Prozent und 2018 mit 50 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag höher als in anderen osteuropäischen Wahlen, stets über 60 Prozent. Auf Grundlage von Veränderungen des Wahlrechts reichte die Stimmenzahl in jedem Fall für eine knappe Zweidrittelmehrheit der Parlamentssitze. Wie lassen sich die innenpolitische Erfolge von Fidesz erklären?
Meine These ist, dass diese Stabilität der Unterstützung Orbáns durch die ungarische Bevölkerung im Verlauf und den Ergebnissen der Transformation Ungarns vom Sozialismus zum Kapitalismus wurzelt. Und eine zweite These: Da während dieser Transformation linke politische Parteien regierten, führte das zu einer anhaltenden Schwäche der politischen Linken.
Die dreifache Transformation Ungarns als Ausgangspunkt
Die Transformation war eine dreifache. Zunächst vollzog sich relativ schnell der Übergang von einer gemäßigten politischen Diktatur hin zu einem demokratischen politischen System westlicher Prägung. Dieser Übergang setzte bereits vor 1989 ein. Reformorientierte Teile der ungarischen Staatspartei waren seine wichtigsten treibenden Kräfte. 1988 wurde János Kádár als Generalsekretär abgelöst. Am Runden Tisch zwischen Kommunisten und Opposition wurde im Frühjahr 1989 über weitere Reformen beraten. Ein Mehrparteiensystem und freie Wahlen wurden vorbereitet. Im Oktober 1989 löste sich die Staatspartei auf und das Land gab sich mit einer grundsätzlich veränderten Verfassung auch einen neuen Namen. Die Wahlen 1990 führten zu einer Ablösung der als Ungarische Sozialistische Partei neugegründeten, reformierten Staatspartei. 1994 kam diese dann erneut gemeinsam mit Liberalen an die Regierung. Die Phase 1994-1998 war gleichzeitig eine Periode intensiver wirtschaftlicher Transformationen. Ihre zweite Amtszeit, nach 2002 bis 2006, waren die Jahre des Beitritts zur EU. Die ungarischen Sozialist_innen werden also zu Recht als die Partei angesehen, die für die Ergebnisse des Wandels verantwortlich sind.
Eine zweite Transformation war die von einer unvollständigen sozialistischen Marktwirtschaft hin zu einer peripheren kapitalistischen Wirtschaftsweise. In Ungarns war bereits in den 1960er Jahren wirtschaftlich experimentiert worden. Die Planwirtschaft wurde dezentralisiert. Die staatlichen Preiskontrollen wurden reduziert. Die Betriebe bekamen eine größere Eigenständigkeit. Joint Ventures mit westlichen Unternehmen wurden zugelassen. In den späten 1980er Jahren gingen die Wirtschaftsreformen weiter. Kleine private Unternehmen wurden erlaubt. Ungarn trat der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds bei. Dadurch entstanden Elemente einer „sozialistischen Marktwirtschaft“. Dieses Konzept wurde dann aber nach 1990 aufgegeben. Wie in allen anderen ehemaligen post-sozialistischen Gesellschaften ging es jetzt um Wandel durch Liberalisierung, Stabilisierung und Privatisierung, um den sogenannten „Washington Konsens“. Im Ergebnis wurde die Produktionsstruktur des Landes vollständig umgestellt. Betriebe wurden aufgelöst. Andere wurden Teil von internationalen Konzernen. Westeuropäische Banken und Versicherungen teilten den ungarischen Markt unter sich auf. Die Politikwissenschaftler_innen Dorothee Bohle und Béla Greskovits bezeichneten den entstehenden Typ kapitalistischer Produktion als peripheren, „eingebettet neoliberalen Kapitalismus“ (Bohle/Greskovits 2012).
Mit den innerwirtschaftlichen Veränderungen war die dritte Transformation von der Mitgliedschaft im regionalen sowjetisch-dominierten Block hin zur Integration in das globalisierte, westlich dominierte Weltsystem, vollzogen. Stationen auf diesem Weg waren der Beitritt Ungarns zur EU 2004 und der NATO-Beitritt 1999.
Spätestens 2004 war die dreifache Transformation des Landes abgeschlossen. Um die danach folgende politische Entwicklung besser verstehen zu können, müssen die Erwartungen der Bevölkerung berücksichtigt werden: 1989 erwarteten die Menschen in Osteuropa vom Wandel nicht nur Demokratie sondern auch ein ähnliches Lebensniveau wie in Westeuropa. Diese Erwartungen wurden im Transformationsjahrzehnt grundlegend enttäuscht. Wie lässt sich die Kluft zwischen Erwartungen und eingetretener Realität bewerten? Der ungarische Ökonom János Kornai spricht von berechtigten Hoffnungen, die aber mit falschen Erwartungen und Illusionen vermischt gewesen waren (Kornai 2006: 235). Der ungarische Soziologe Ivan Berend verwies auf die Wirkung historischer Prägungen, die in die vorsozialistische Zeit reichten (Berend 2007). Andererseits lag es nahe, die Härten und negativen Erfahrungen der dreifachen Transformation als eine wesentliche Ursache der Frustrationen anzusehen (Segert 2013). Um diese Härten für die ungarische Bevölkerung und deren Reaktionen darauf wird es abschließend in diesem Beitrag gehen.
Reale Härten des Transformationsprozesses
Die Härten waren Ergebnis der besprochenen grundsätzlichen Umstellung der Volkswirtschaften. Das geschah meist in den 1990er Jahren. Um welche Härten für die Bevölkerung Ungarns geht es dabei? Die nachfolgenden Zahlen entnehme ich einer eigenen früheren Publikation (Vgl. Segert 2018, S. 6-10):
Das Bruttosozialprodukt Ungarns ging Anfang der 1990er Jahre zurück und erholte sich erst langsam, erst 1999/2000 wurde der Ausgangswert von 1989 wieder erreicht. Das Jahr des größten Rückgangs war 1991 mit zwölf Prozent. Das führte dann zu Lohneinbußen. Dazu kam ein Anstieg der Inflationsratef ür Verbraucherpreise. In Ungarn kam es nur zu einer moderaten Inflation, aber immerhin war sie während des gesamten Transformationsjahrzehnts zweistellig. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung, 1991, erreichte sie 35 Prozent. Die Sparguthaben der Bevölkerung wurden auf diesem Wege deutlich reduziert. Bezogen auf die Arbeitslosigkeit war Ungarn zwar eine Ausnahme. In den Wirtschaftsreformen des letzten staatssozialistischen Jahrzehnts war es bereits zu Arbeitslosigkeit gekommen. Trotzdem war der Anstieg der Entlassungen eine unangenehme Überraschung. 1995 erreichte die Arbeitslosenrate 10,2 Prozent. In einigen Gegenden, besonders im Osten des Landes, war sie höher. Während die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Wirtschaft in Osteuropa übernommen wurden, stellte sich der Sozialstaat dieser Neuankömmlinge als sehr viel schwächer als in den alten Mitgliedsstaaten der EU heraus. Im Jahr 2000 lag die Sozialleistungsquote (soziale Ausgaben des Staates im Vergleich zum Bruttosozialprodukt) in den alten EU-Mitgliedsstaaten bei 27 Prozent. In Ungarn erreichte sie dagegen nur knapp 20 Prozent.
Die Reaktion der ungarischen Bevölkerung lässt sich am besten aus einem Vergleich zweier Umfragen des Pew Center von 1991 und 2009 ablesen. Während 1991 noch 80 Prozent der befragten Ungarn einen Übergang zur kapitalistischen Marktwirtschaft und 74 Prozent von ihnen einen Wandel hin zu einer Mehrparteiendemokratie unterstützten, waren es 2009 nur noch 46 bzw. 56 Prozent. Das war der deutlichste Rückgang der Unterstützung der Transformation in allen befragten ostmitteleuropäischen Staaten (Pew Center 2009, S. 30, 38).
Erfolgreiche anti-globalistische Mobilisierung durch Orbán
In einem Video, das ein Autor des britischen „Guardian“ mit seinem ungarischen Vater gedreht hatte, findet sich eine wesentliche Aussage über den Erfolg Viktor Orbáns (John Domokos 2019). Der Vater meinte, bei den gegenwärtigen innenpolitischen Auseinandersetzungen in Ungarn gehe es nicht um „Rechts“ oder „Links“ sondern um die Auseinandersetzung zwischen Globalisten und Nationalisten. Orbán habe es verstanden, die Angst der Ungarn vor dem übermächtigen Einfluss anderer Staaten und mächtiger Konzerne für sich zu nutzen.
Dabei bedeutet die politische Wirksamkeit solcher Deutungen nicht, dass diese Gefahren auch tatsächlich existieren. Das beste Beispiel ist dafür die Kampagne von Fidesz gegen den US-amerikanischen Milliardär George Soros. Soros ist natürlich nicht verantwortlich für die nachwirkenden Härten des Transformationsprozesses. Trotzdem ließen sich die Wähler Orbáns durch die Kampagne gegen Soros angeblichen zerstörerischen Einfluss auf die ungarische Nation mobilisieren.
Literatur
Berend, Ivan T. (2007): Social shock in transforming Central and Eastern Europe, in: Communist and Post-Communist Studies 40, 269-280.
Bohle, Dorothee/Greskovits, Béla (2012): Capitalist Diversity on Europe's Periphery. Ithaca: Cornell University Press.
Domokos, John (2019): John Domokos: Orbán, my dad and me, https://www.theguardian.com/world/video/2019/jan/28/orban-my-dad-and-me-video (aufgerufen am 1.2.2019).
Kornai, János (2006): The Great Transformation of Central Eastern Europe. Success and disappointment, in: Economics of Transition 14 (2), 207-244.
Pew Center (2009): Two Decades After the Wall’s Fall. End of Communism cheered but now with more reservations, Umfrage vom 3. November 2009, in: http://www.pewglobal.org/2009/11/02/end-of-communism-cheered-but-now-with-more-reservations/ (aufgerufenam 1.2.2019).
Segert, Dieter (2013):Transformationen Osteuropas im 20. Jahrhundert, Wien: Facultas, UTB.
Segert, Dieter (2018): Eastern Europe after 1989 – a laboratory for the sustainability of “Western democracy?” in: Europejskij Przegląd Prawa I Stosunkow Międzynarodowych, (4) 1, S. 5-17.
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- 27 Mär 2019 - 07:08