Zur Diskussion

Unerzählte Geschichten - Verfolgung und Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und Geschlechterrollen als Thema der internationalen historisch-politischen Jugendbildungsarbeit

Beitrags-Autor Profil / Kontakt

Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen
und um den Autor kontaktieren zu können.

Hier können Sie sich registrieren.

Luiza Kulenkampff, Initiatorin des Projektes, ist als Pädagogin, Trainerin und Projektkoordinatorin in der historisch-politischen Bildungsarbeit in Berlin tätig. Als freier Trainer für internationale Jugendbildungsarbeit setzt Klaas Opitz die Projektideen vor Ort um und begleitet die Teilnehmenden im Projektverlauf. Anne Schieferdecker, Bildungsreferentin für Internationale Jugendbegegnungen beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V., ist für die Konzeption und Koordination von "Stories untold" verantwortlich.

Von Luiza Kulenkampff, Klaas Opitz und Anne Schieferdecker

Schon seit 1953 veranstaltet der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge internationale Workcamps und Jugendbegegnungen an Kriegsgräberstätten und Gedenkorten, die unter dem Motto „Gemeinsam für den Frieden“ stehen. Sie dienen der kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte und fördern Begegnung und Dialog zwischen jungen Menschen. Somit sind die Jugendbegegnungen und Workcamps sowohl eine Form der internationalen Jugendbildungsarbeit, als auch ein außerschulisches Format des historisch-politischen Lernens. Als solches haben sie zum Ziel, dass junge Menschen gemeinsam aktuelle, gesellschaftspolitische Themen und Herausforderungen aus ihren Lebenswelten im Spiegel der historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts reflektieren.

Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt als Thema für internationale Jugendbegegnungen

Erst in den letzten Jahren gewann die Aufarbeitung und Beschäftigung mit dem Thema Verfolgung aufgrund von sexueller Orientierung in der NS-Zeit zunehmende Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Das spiegelt sich auch in der historisch-politischen Bildungsarbeit in Deutschland wider und motivierte uns, gemeinsam mit unserem langjährigen Projektpartner IPAK (‚Trotzdem‘), einer Jugendorganisation aus dem bosnischen Tuzla, und der polnischen Organisation Efekt Domina zwischen 2016 und 2017 das dreiteilige Projekt „The Right to Love“ durchzuführen. Dieses widmete sich zum einen der historischen Perspektive und zum anderen der Wahrnehmung und Würdigung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt heute. Jede der drei beteiligten Organisationen war einmal Gastgeberin und setzte durch ihr jeweiliges Profil unterschiedliche Schwerpunkte.

Ein Recht auf Liebe? – Projektzyklus 2016/2017

In Polen lag der Fokus auf der Formierung eines “sicheren Raumes”, in dem sich die Teilnehmer_innen in einer vertrauensvollen Atmosphäre kennenlernten und einen Zugang zum Thema fanden. Zentrale Begriffe wurden erörtert und Mechanismen von Diskriminierung reflektiert. Die Teilnehmenden setzten sich in Kleingruppen mit der rechtlichen Situation in ihren Ländern auseinander. Gibt es Antidiskriminierungsparagraphen in den jeweiligen Verfassungen? Lässt sich ein “Recht zu lieben” formulieren? In verschiedenen Diskussionsrunden und auch im Abgleich mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, konnten hier spannende Denkanstöße gewonnen werden. Ein Besuch bei der NGO Lambda Warszawa erlaubte uns einen Einblick in den Arbeitsalltag von LGBTIQ*-Aktivist_innen und die damit verbundenen Schwierigkeiten und Herausforderungen. Mit unserem handlungsorientierten Ansatz stellten wir uns “Hate Speech” und übten Strategien ein, mit dieser Form der Diskriminierung im Alltag umzugehen.

In Deutschland befassten wir uns vor allem mit der Diskriminierung in der Vergangenheit. Die Verfolgung von Homosexuellen nach §175 und dessen Verschärfung durch das NS-Regime prägten die Auseinandersetzung. Bei Führungen und Workshops wurde die Situation der Betroffenen und ihr Kampf um Anerkennung im Zuge der Aufarbeitung der Schrecken des NS-Regimes beleuchtet. An Gedenkstätten und Denkmälern für die Opfer des Nationalsozialismus in Berlin befassten wir uns mit Formen der Erinnerungskulturen. Auch war das biografische Lernen ein wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit, der uns einen persönlichen, greifbaren Zugang zur Geschichte ermöglichte: Während einer Exkursion nach Hamburg, wo insbesondere in den Stadtteilen St. Georg und St. Pauli Stolpersteine an Menschen erinnern, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und/oder geschlechtlichen Identität verfolgt wurden, beschäftigten wir uns intensiv mit konkreten Schicksalen. 

Wie relevant und nötig das Werben für eine offene, vielfältige Gesellschaft noch heute ist, erfuhren wir insbesondere während des dritten Projektteils in Bosnien. Hier trafen wir Aktivist_innen der Organisationen Sarajevski Otvoreni Centar und Tuzlanski Otvoreni Centar, die für die Rechte von LGBTIQ*-Personen kämpfen. Beide betreuen und beraten junge Menschen, die sich selbst als schwul, lesbisch, bisexuell, trans*, inter* oder queerbezeichnen. Dass die Vereine auf Klingelschilder verzichten, verhängte Fenster und Hinterausgänge haben, um ihren Klient_innen auch einen wirklichen Schutzraum bieten zu können, verdeutlichte uns wie herausfordernd und wichtig diese Arbeit ist. Für eine besonders tiefe Auseinandersetzung nutzten wir in der pädagogischen Arbeit die Ausdrucksform des Forumtheaters nach Augusto Boal. Mit dem „Theater der Unterdrückten“ und insbesondere dem Forumtheater fühlten sich die Teilnehmenden in Menschen mit Diskriminierungserfahrung ein und suchten so nach Handlungsoptionen, Formen von Diskriminierung und Unterdrückung heute zu überwinden.

Das positive Feedback der Teilnehmenden sowie eine breite öffentliche Anerkennung zeugen vom Erfolg des Projektes und zeigen die Relevanz des Themas für die historisch-politische und die internationale Jugendbildung. Hier möchten wir anknüpfen und haben einen weiteren Projektzyklus ausgeschrieben, der die Ergebnisse von „The Right to Love“ aufgreift und einzelne Elemente stärker in den Fokus rückt.

Auf der Suche nach den unerzählten Geschichten – Projektzyklus 2019

Im Folgeprojekt „Stories untold“ betonen wir die historische Perspektive noch einmal stärker und betrachten die Entwicklung der sozialen und rechtlichen Situation von LGBTIQ* in Polen, Deutschland und Bosnien und Herzegowina seit der NS-Zeit bis in die Gegenwart. Den Ausgangspunkt der Beschäftigung bilden die unzähligen nicht erzählten Geschichten von Personen, die im Nationalsozialismus aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert, verfolgt und ermordet wurden. Diese drohen völlig in Vergessenheit zu geraten. Wir recherchieren Schicksale und Hintergründe und analysieren Mechanismen und Formen von Diskriminierung. Der Projektverlauf wird erneut in einem Dreischritt in den beteiligten Ländern erfolgen. In „Stories untold“ arbeiten wir wieder mit IPAK zusammen, außerdem mit dem polnischen „Teatr Brama“. Diese Organisation nutzt in ihrer Kultur- und Bildungsarbeit informelle Methoden, um Menschen zu befähigen, Kunst als Ausdrucksform zu nutzen. Theaterpädagogik bildet deshalb in „Stories untold“ von Beginn an ein zentrales Element und erlaubt es, eine Theaterperformance zu entwickeln, die über den Teilnehmendenkreis hinaus für das Thema sensibilisiert.

Der erste Projektteil findet im April 2019 in Hamburg statt. Wir fokussieren hier intensiv die historische Situation von Verfolgung und Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität. Dazu nutzen wir vor allem biografisches Material und Expert_inneninterviews. An eine Einführung zu sexueller Vielfalt und Identität schließt sich ein biografischer Workshop zur Verfolgung Homosexueller in der NS-Zeit an. Hier steht ein Zeitzeugengespräch mit einer Angehörigen im Mittelpunkt. Die Ergebnisse werden mit Methoden des Digital Storytelling aufbereitet. Diese biographische Methode eignet sich besonders, weil sie erlaubt, einen individuellen Blick auf kollektive Phänomene zu richten. Die Teilnehmenden haben die Möglichkeit verschiedene Interviewtechniken kennenzulernen, diese zu erproben und umzusetzen. Im Zuge der Bearbeitung können sie sich dann methodisch und kreativ verwirklichen. Das entstehende Material wird im Verlauf weiter verwendet und unter anderem in die szenische Umsetzung eingebunden.

Im Juli 2019 folgen die Abschnitte in Bosnien und in Polen, wo wir die Brücke zur Gegenwart schlagen werden und im persönlichen Gespräch mit Vertreter_innen von Verbänden und Initiativen sowie in Gesprächsrunden und Workshops die rechtliche und gesellschaftliche Situation von LGBTIQ* in Deutschland, Polen und Bosnien und Herzegowina heute betrachten. Wir möchten unsere Teilnehmer_innen in ihrer individuellen Ausdrucksfähigkeit stärken und ihnen den sicheren Rahmen bieten, ihre eigene Persönlichkeit zu reflektieren und Stereotype und soziale Strukturen kritisch zu hinterfragen. Theater hat hier zwei ineinandergreifende Funktionen: Während es einerseits dazu genutzt wird, die individuelle Auseinandersetzung, Reflexion und Persönlichkeit zu stärken, dient es gleichzeitig als Instrument und Produkt, in dem die Ergebnisse des Projektes in einer Performance zusammengefasst und präsentiert werden. Die Teilnehmenden arbeiten prozessorientiert an Form und Inhalt. Sie werden während des gesamten Prozesses professionell begleitet.

„Stories untold“ findet zwischen dem 14. und 20. April 2019 in Hamburg und zwischen dem 15. und 31. Juli 2019 in Tuzla/Bosnien sowie in Goleniów/Polen statt. Das Projekt wird durch die Stiftung EVZ und das Deutsch-Polnische Jugendwerk gefördert. Es richtet sich an interessierte Jugendliche im Alter von 16 bis 25 Jahren; die Anmeldung erfolgt über die Internetseite www.volksbund.de/workcamps oder per Mail workcamps [at] volksbund [dot] de

 

Kommentar hinzufügen

CAPTCHA
Diese Frage dient der Spam-Vermeidung.
Image CAPTCHA
Enter the characters shown in the image.