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Widersprüchliche Erinnerungspraxen in Europa. Die Beispiele Tschechien und Deutschland

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Der Historiker und Kulturjournalist Dr. K. Erik Franzen arbeitet zur Zeit für das wissenschaftliche Sekretariat der deutschen Sektion der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Migrationsbewegungen im 20. und 21. Jahrhundert.

Von K. Erik Franzen

Zum Wandel von Erinnerungskulturen: Ausgangslage, Chancen

Vor dem Hintergrund der auch in den nächsten Jahrzehnten zu erwartenden kontinuierlichen Migration nach Europa stellt sich vermehrt die Frage nach dem Erinnern in der Migrationsgesellschaft. Wie wirken hier nationale Erinnerungskulturen? Als Integrationsförderung oder -blockade? Ist es ratsam, einen neuen Gesellschaftsvertrag auszuhandeln?

Plurale Erinnerungskulturen bieten Chancen: Sie schaffen Aufmerksamkeiten für bislang Vergessenes und Vergessene, in dem eine Vielzahl von Erinnerungspraktiken und Erinnerungsgemeinschaften einer Gesellschaft berücksichtigt werden. Im sich stetig dynamisierenden Erinnerungsgewebe kann nicht zuletzt durch Empathie mit Fremden der Selbstverständigungsprozess einer Gemeinschaft vorangetrieben werden. 

Ausgehend von einem Abdriften der gesellschaftlichen Mitte nach rechts und einer verstärkten gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ist es aus historischer Perspektive notwendig, das historische Erbe von Einstellungen und Haltungen zu hinterfragen.

Die „doppelte“ Wende: politisch und erinnerungskulturell

In ost- und westeuropäischen Staaten lässt sich eine Nationalisierung von Erinnerungskulturen bei gleichzeitiger Pluralisierung des Gedenkens beobachten. Seit dem Ende des Kalten Krieges findet sich allgemein eine Etablierung der „Wende vom aktiven Heldenopfer- zum passiven Leidensopfergedächtnis“. In Deutschland kam es zum Revival des integrationistischen Opfermodells: eine Wende von Gedächtnis an die Opfer der Deutschen hin zum erneuten Gedenken (wie in der frühen Nachkriegszeit) auchan deutsche Opfer – allerdings bei unterschiedlicher Betonung von Erinnerungsgegenständen in Ost- und Westdeutschland. Dabei wird ein Übergewicht der negativ erinnerten Ereignisse und der Erinnerungen von Opfern sichtbar. 

Erinnerungspraxis: Gespaltenes Europa?

Blickt man auf den national ausgerichteten Umgang mit der Vergangenheit in der identitären Optik des Opfer-Täter-Paradigmas, erkennt man Kontinuitäten und Bruchlinien. In der Bundesrepublik West erleben wir einen zweiten Perspektivwechsel: von der dominanten Nachkriegs-Opfermentalität der Deutschen über die neue Täter_innenperspektive ab Mitte/Ende der 1960er Jahre hin zur stärker parallelen Betrachtung der Deutschen als Opfer und Täter seit 1989. 

In Tschechien und besonders in Polen wurde das vor 1989 konstruierte Bild des eigenen Volkes als „einzigartiges Opfer“ in der post-kommunistischen Ära mehrfach gebrochen: Die Diskussionen über Jedwabne, die Diskussion um die polnisch-jüdische Beziehungsgeschichte allgemein und um den „Komplex der Vertreibung“ der Deutschen in den 1990er Jahren haben die einseitige Sicht auf die Vergangenheit ad absurdum geführt. 

Die Beurteilung der Zwangsmigrationsprozesse in der Folge des Zweiten Weltkrieges besaß und besitzt in erster Linie identitätsstiftenden Charakter. Während in Polen und Tschechien immer mehr die Rede von der eigenen Schuld beziehungsweise von der eigenen Verantwortung für die gemeinsame europäische Geschichte war und ist – also immer mehr den öffentlichen Diskurs beeinflusst – entwickelte sich in Deutschland ein neuer Opferdiskurs: Zum ersten Mal scheint ein gesamtdeutsches kollektives Identitätsangebot auf. 

Wichtig ist nun der Rückkoppelungseffekt der Debatten in den letzten Jahren. In Tschechien (und in Polen) scheint man nicht bereit zu sein, sich aus dem Land der Täter_innen durch die verstärkte Selbstschreibung der Deutschen als Opfer gleichsam als Fremdzuschreibung zu Tätern machen zu lassen. Die Diskussion ließ und lässt insgesamt erkennen, wie dicht die kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg unter der Oberfläche jeder Debatte über die deutsch-tschechischen Beziehungen liegt. Immer wieder wird die vergleichende Bezugnahme auf die Besatzung, den Vernichtungskrieg der Deutschen und auf den Holocaust zur Richtlinie je eigener Identitätszuschreibungen und –abgrenzungen. Allerdings gibt es positive Entwicklungen: So haben Bayern und Tschechien 2017 erstmals am internationalen Holocaust-Gedenktag gemeinsam der Opfer gedacht.

In allen Ländern bildet die politische Auseinandersetzung mit der kommunistischen Ära einen wichtigen Ansatzpunkt der Vergangenheitsdiskurse. Der deutsche Staatsminister für Kultur 1999, Michael Naumann, hatte ein neues Konzept zur Förderung von Gedenkstätten vorgelegt, das ganz ausdrücklich die notwendige Erinnerung an die Leiden der Kriegsopfer hervorhebt. Gefördert wurden nach dem ursprünglichen Gedanken dieses Konzepts nur Gedenkstätten für die Opfer der NS- und der SED-Diktatur. Genau daran entzündete sich 1999 die Diskussion um die vom Bund der Vertriebenen initiierte und vom Bund geförderte Gedenkstätte für die Opfer von Flucht und Vertreibung. Das Spiel der Opferkonkurrenzen in Deutschland strahlte auf die transnationale, zwischenstaatliche Ebene aus und stimulierte überwunden geglaubte nationale Opfer-Haltungen auch in Polen und Tschechien, die doppelter Natur sind: das Gefühl, Opfer zweier totalitärer Systeme gewesen zu sein.

Tschechien

Eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Nachkriegsvertreibung wurde in der jüngsten Vergangenheit durch Aktivitäten und Publikationen von Bürgervereinigungen und lokalen Initiativen, durch zum Teil spektakuläre Ereignisse wie beispielsweise den Funden von Massengräbern mit getöteten Sudetendeutschen sowie durch Dokumentar- und Spielfilme vorangetrieben. Zu beobachten ist, dass es gerade unter jüngeren Tschech_innen eine zunehmende Bereitschaft gibt, sich mit an Deutschen begangenen Verbrechen auseinanderzusetzen. Insofern hat ein Trend, der für die tschechische Geschichtsschreibung bereits seit den 1990er Jahren zu beobachten ist, auch die Zivilgesellschaft erreicht. Neben einer zunehmend kritischen Auseinandersetzung mit der Nachkriegsvertreibung ist aber auch zu beobachten, dass diese Thematik immer noch äußerst umstritten ist. Mit Hinweisen auf deutsche Täterschaft im Sinne einer Kollektivschuld und dem Verweis auf eine kollektive tschechische Opferrolle versuchen viele Politiker_innen Wähler_innen zu binden.

Die Beschäftigung mit der Vergangenheit betraf aber nicht nur die Vertreibung der Deutschen, sondern jeweils weitere historische Prozesse, die untereinander in einer Wechselbeziehung standen und diskursiv bedeutend waren. Der Zusammenbruch der sozialistischen Regime zog die bislang festgezurrte offizielle Nationalgeschichte in den Strudel kritischer Befragung: Staatsverbrechen während der kommunistischen Ära und eine Rehabilitation der dementsprechenden Opfer rückten in den Fokus des politischen und öffentlichen Interesses – allerdings zum Teil mit der Intention, die Besatzungsherrschaft des Deutschen Reiches und der Sowjetunion weitgehend gleichzusetzen. 

Daneben konnte sich jedoch auch die die offizielle Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Juden nach 1989 vitalisieren, insbesondere durch zahlreiche Ausstellungen und durch die Arbeit der Gedenkstätte Theresienstadt. Inzwischen konkurriert diese neuartige Perspektive auch mit einem Rückbezug auf die Gewaltgeschichte sowjetischer Besatzung. 

Deutschland

Mit der durch den Vereinigungsprozess von DDR und BRD ausgelösten kollektiven Identitätssuche in Deutschland in den 1990er Jahren erhielt der Rückblick auf die eigene Geschichte neue Anregungen. Zunächst belebten zahlreiche geschichtspolitische Debatten den neuen Erinnerungsboom der neunziger Jahre, Victor Klemperers Tagebücher wurden ähnlich gut verkauft und diskutiert wie Daniel Goldhagen´s Werk über „Hitlers willige Vollstrecker“. Auch die vom Hamburger Institut für Sozialforschung erarbeitete Wehrmachtsausstellung erregte die Gemüter einer großen Öffentlichkeit deshalb, weil in diesen Debatten die „Täterschaft der Vielen“ während des Nationalsozialismus thematisiert wurde und „Viele“ sich dagegen wehrten.

In dem nationalen Diskursklima nach 1989 spielte auch die Politik der bundesdeutschen Vertriebenenverbände eine wichtige Rolle. Nicht zuletzt ihre Lobbypolitik führte dazu, dass das Reden über „Flucht und Vertreibung“ der Deutschen bis heute nicht abgerissen ist und inzwischen auch auf europäischer Ebene diskutiert wird.

Findet das monumentale Dokumentationszentrum zur Erinnerung an die deutschen Vertriebenen in Berlin, das in zwei Jahren eröffnet werden soll, auch deshalb – zumindest grundsätzlich – so große Unterstützung fast aller politischer Parteien, weil sich in dieser national ausgerichteten Konzeption eine übergeordnete Sehnsucht nach einem „normalen Umgang mit der Vergangenheit“ widerspiegelt? Verschwinden die Täter_innen? Werden die Bilder der Nation von sich selbst neu gemalt oder nur neu gemischt? Vielleicht haben wir es hier einfach mit der Bildung respektive Verstetigung eines nationalen Sinn- und Bedeutungshorizontes zu tun – in Zeiten globaler Unsicherheiten.

Gespaltenes Gedächtnis? Impulse für die Zukunft: Plädoyer für pluralistische, integrative und transnationale Erinnerungskulturen

Ausgangspunkt dieser Überlegungen war die politische und erinnerungskulturelle Wende mit der Transformation Europas seit 1989, hinsichtlich einer verstärkten Nationalisierung von Erinnerungskulturen (alte/neue Heldengeschichten; eigene Opfererzählungen) bei gleichzeitiger Pluralisierung des Gedenkens (neue, vor allem zivilgesellschaftliche Akteure) in Ost-, Zentral- und Westeuropa, in Tschechien und Deutschland. Vor diesem Hintergrund könnten folgende Aspekte als Impulse einer sich verändernden Erinnerungslandschaft auch in den Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Tschechien mitgedacht werden:

Neben der Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen sollte darauf geachtet werden, weitere Erinnerungsfelder auch unter transnationalen Gesichtspunkten zu erörtern: den Ersten Weltkrieg, die Zwischenkriegszeit mit ihren später gescheiterten Demokratisierungsbemühungen, die vielfältigen Migrationsbewegungen des Zweiten Weltkriegs, die kommunistische Herrschaft. Hilfreich wäre es dabei, wenn der Erinnerungshaushalt darüber hinaus nicht überwiegend aus negativen Phänomenen (Gewalt- und Konfliktgeschichte) bestückt würde, sondern auch positive Inhalte gemeinsamer Geschichte und gemeinsamen Zusammenlebens (Alltagsgeschichte) in den Fokus gerückt werden könnten. Gerade Familiengeschichten sind im deutsch-tschechischen Kontext meiner Beobachtung nach für das transnationale Erinnern von Gewicht.

Es gilt, den Blick weg von den nationalen Großerzählungen hin zur Betrachtung/Stärkung regionaler Geschichten zu richten: Hier findet sich ein verständlicheres, nachvollziehbares und gut zu vermittelndes Bild von konkretisierten Erinnerungskulturen, die das Miteinander prägen. Weg von Berlin und Prag, hin zu Bayern und Sachsen, Nordböhmen und Mähren. Immer wieder gilt es darauf zu verweisen, wie nützlich der Blick auf die Akteur_innen des Erinnerns vor Ort ist. Dabei gilt es, das Gespräch, die Zusammenarbeit zu suchen mit Zeitzeug_innen, Publizist_innen, Künstler_innen, Teams von Gedenkstätten und Stadtmuseen, Historiker_innen, Bürger_innen und Lokalpolitiker_innen.

Zurück zur Ausgangslage, die unsere Zukunft bestimmen wird: das Erinnern in der Migrationsgesellschaft. Hier sind Fragen der Inklusion/Exklusion und der gleichberechtigten Teilhabe an Prozessen und Diskursen von großer Bedeutung. Gewinnbringend ist der Bezug auf Bildgedächtnisse in die Beobachtung von Erinnerungskulturen: der Stellenwert von Bildern und Bildgeschichten wird gegenüber textlicher und mündlicher Überlieferung immer noch unterschätzt und spielt gerade in der historischen Vermittlungsarbeit ein große Rolle – auch neuere, in der Geschichtswissenschaft nahezu unbekannte, stark visuell strukturierte Erinnerungsformen wie Computerspiele könnten hier berücksichtigt werden.

 

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