Der Diasporakomplex. Geschichtsbewusstsein und Identität bei Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund der dritten Generation.
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Lucas Frings
Die im August 2018 erschienene Studie von Lale Yildirim befasst sich mit dem Geschichtsbewusstsein von Schüler_innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund. Die Autorin fragt dabei insbesondere nach dem Zusammenhang von Geschichtsbewusstsein und Integration in Deutschland.
Um das Geschichtsbewusstsein von in Deutschland lebenden Jugendlichen mit türkischer Familiengeschichte besser analysieren zu können, wirft die Untersuchung eingangs einen Blick auf Geschichtsunterricht in der Türkei. Die hier aufgeworfene Frage, ob das Masternarrativ der Staatsgründung 1923 als Siegermythos über das kommunikative Gedächtnis auch in Deutschland lebenden Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund präsent ist, beantwortet sie im Zuge ihrer Untersuchung bejahend. Der empirischen Studie ist, neben einem Überblick über den Forschungsstand, eine theoretische Annäherung an Staatsbürgerschafts-, Integrations –und Identitätskonzepte vorangestellt. Insbesondere die Integrationsmodelle von Hartmut Esser bearbeitet und nutzt die Autorin, weist jedoch auch auf deren Lücken und Schwächen hin, etwa die Nichtbeachtung von „(s)eitens der Einwanderungsgesellschaft aufgerichtete(n) Barrieren für die Integration“ (S.55). Äußerst umsichtig verhandelt Yildirim streitbare Begriffe der Migrationsforschung und Sozialwissenschaften, die teils durch wissenschaftliche Ausführungen der letzten Jahrzehnte, teils durch aktuelle politische Debatten, problematisch aufgeladen sind.
Am Beispiel der fiktiven Schülerin Elif, die eingangs in einem Beispiel von ihrer Geschichtslehrerin gedrängt wird, auf einer Landkarte zu zeigen, wo sie wirklich herkomme, veranschaulicht Yildirim häufig anzutreffende Integrations- und Bildungsbiographien und gibt einen Einblick in die Gefühlswelt einer Jugendlichen auf der Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung. Dieser Einblick basiert auf den von Yildirim geführten Interviews und Erkenntnissen aus Studien zu Integration von Menschen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund. In der Figur von Elif, die – anders als ihre Lehrerin es hören möchte – ihre Herkunft in Köln verortet, bündeln sich diese Untersuchungen, werden auf diese Weise anschaulich und der sich wiederholende Ausschluss aus Kollektiven verschiedener Art wird greifbar.
In ihren Überlegungen zu Identität und Geschichtsbewusstsein kreiert Yildirim den Begriff des doppelt semi-historischen Bewusstseins. Darunter versteht sie den Bezug auf das Geschichtsbewusstsein von zwei Kollektiven, welche dem Individuum jedoch mit Fremdzuweisungen begegnen und die volle Zugehörigkeit und Zugang zum Geschichtsbewusstsein verweigern. (Vgl. S. 72ff.) Die Verortung des individuellen Geschichtsbewusstseins würde durch diesen Weder-Noch-Zustand erschwert und könne im schlimmsten Fall zu einer Identitätskrise führen. Identitätsangebote (möglicherweise radikaler Gruppen) mit absoluten Wahrheiten gewännen so, insbesondere für Jugendliche, an Attraktivität.
Sowohl mit Fragebögen, Gruppendiskussionen und schriftlichen und mündlichen Einzelbefragungen hat Yildirim bei über 200 Zehntklässler_innen die Variablen Geschichtsbewusstsein, Integration und historische Identitätskonstruktion erhoben. Dabei hat sie sowohl Jugendliche mit türkeibezogenem oder anderem Migrationshintergrund, als auch sogenannte autochthone Jugendliche befragt. Wenn auch nicht repräsentativ, sind bereits Antworten aus den Fragebögen spannend. So geben beinahe deutlich mehr Befragte mit Migrationshintergrund ( fast 70%) als ohne Migrationshintergrund (ca. 50%) an, Interesse an Geschichte zu haben. Yildirim vermutet dahinter ein gesteigertes Interesse an „historischer Orientierung und Handlungsleitung“ (S. 149).
Wie sich aus Gruppeninterviews und kurzen Verschriftlichungen zur historischen Relevanz bestimmter Ereignisse (u.a. Französische Revolution, Nationalsozialismus, Mauerfall, Staatsgründung der Türkei) ergibt, empfinden Jugendliche ohne Migrationshintergrund die türkische Geschichte nicht als relevant für die deutsche Gesellschaft. Teilweise versuchen sie vielmehr ihre Mitschüler_innen von der Bedeutung der deutschen Geschichte als Referenzrahmen zu überzeugen. Darin zeigt sich, dass Integration hier nicht über eine wechselseitige Perspektiverweiterung zu verlaufen scheint, sondern als eine Anpassung an das Zielland verstanden wird.
In den Einzelinterviews mit 15 Proband_innen zeigt sich mehrfach das doppelt semi-historische Bewusstsein, etwa in Deutschland als türkisch wahrgenommen zu werden und im Türkeiurlaub als Almancı. Die Eigenperspektive, „einer türkischen Diaspora in Deutschland anzugehören, bietet eine lebensweltliche Alternative zur Identifikation mit der als ausschließlich deutsch wahrgenommenen Mehrheitsgesellschaft“ (S. 220). Dies drückt sich auch darin aus, dass die Befragten sich mit türkeibezogenem Migrationshintergrund sich nicht als „Deutsche_r“ bezeichnen sondern wahlweise als „Ausländer_in“, „Migrant_in“ oder „mit Migrationshintergrund“.
Aufschlussreich ist die Erkenntnis, dass in Familien mit türkeibezogenem Migrationshintergrund Diskussionen über historische Themen Alltag scheinen und so eine lebensweltliche Relevanz besitzen und bei Jugendlichen großes Interesse hervorrufen. Der Geschichtsunterricht, der Diasporageschichten und Narrative anderer Länder weitestgehend ausblendet, kann das Bedürfnis nach historischer Orientierung und Unterstützung bei der Herausbildung einer Identität nicht erfüllen und bietet so weniger lebensweltliche Relevanz. (Vgl. S. 222ff.)
Yildirim orientiert sich bei der Auswertung ihrer Erhebung unter anderem an Idealtypen der historischen Sinnbildung, also der Art und Weise wie historisch gedacht wird. Entlang dieser Idealtypen untersucht sie welche historische Identität die Jugendlichen in Deutschland herausbilden und erstellt vier Identitätstypen.
Neben der „(Deutsche*r) Türk*in“, der „ Interkulturelle Almancı“ stehen die Typen der „bewussten Paria“ und der „transkulturellen Paria“. In diesen Typen drücken sich u.a. sehr unterschiedliche Grade von Geschichtsbewusstsein, Geschichtsinteresse, Geschichtsnutzen und Identitätskonstruktionen aus. So verfügt etwa eine „Interkulturelle Almancı“ über ein relativ großes Faktenwissen, das sie nutzt um Veränderungen einen Sinn zu verleihen und eigenes Handeln abzuleiten. Auch sucht sie im Historischen ihr Zugehörigkeitsgefühl, etwa in der Diasporageschichte ihrer Familie. Im Vergleich dazu sucht der überspitzte Typus der „bewussten Paria“, ebenfalls mit einem großen Geschichtsinteresse, nach Gegenerzählungen um sich einem gefühlten Assimilationsdruck zu entziehen.
Die Typenbeschreibung belegt Yildirim durchgehend mit Beispielzitaten aus ihrer Untersuchung. Dadurch gelingt auch eine Veranschaulichung anspruchsvoller wissenschaftlicher Modelle anhand von O-Tönen.
Ausgehend stellt die Autorin, neben Hinweisen auf Felder mit weiterem Forschungsbedarf, sieben Thesen und weitere „streitbare Thesen“ auf, die zum Teil auch als Forderungen verstanden werden können. So weist sie etwa auf den Unterschied zwischen struktureller Assimilation und emotionaler Integration hin, letztere sei nicht bei der thematisierten Zielgruppe nicht erfüllt. Weiter fordert Yildirim eine wechselseitige Integration, die „Wir/Ihr“-Dichotomien überwindet und eine Berücksichtigung der Migrationshintergrundzuschreibung in intersektionalen Konzepten der Geschichtsdidaktik.
Eine große Stärke von Yildirims Untersuchung ist die große Anzahl von Proband¬_innen und der spezielle Zuschnitt auf Jugendliche mit türkeibezogenem Migrationshintergrund der dritten Generation. Die Untersuchung ist zwar so auf eine relativ kleine Gruppe beschränkt, die Aussagekraft über diese gleichermaßen relevante Gruppe erhöht sich dadurch allerdings deutlich. Während in ähnlichen Studien teilweise die Gefahr besteht, die Erfahrungen von Jugendlichen mit Familienhintergrund in der Türkei und mehreren arabischen Ländern und somit auch unterschiedlichen Migrationsgenerationen zu vereinheitlichen, sind die hier vorliegenden Erkenntnisse pointierter.
Die ausführliche Beschäftigung mit vorliegenden Konzepten und Verständnissen von Integration und Gesellschaft im zweiten Kapitel liefert mit einem kritischen Blick wertvolle Hinweise für Erweiterungen in der Sozialwissenschaft. „Der Diasporakomplex“ ist somit eine Bereicherung für die Geschichtsdidaktik und bietet Erkenntnisse, die pauschalisierenden Behauptungen über das Geschichtsbewusstsein- und Interesse von Jugendlichen mit Migrationshintergrund fundiert entgegentreten können. Es wäre wünschenswert in Zukunft ähnlich differenzierte Erkenntnisse über das Geschichtsbewusstsein weiterer Zielgruppen zu erhalten.
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- 24 Okt 2018 - 08:28