Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit. Heft 5 "Heuristiken"
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Von Lucas Frings
Mit „Heuristiken“ erschien vor kurzem das erste Heft der Zeitschriftenreihe „Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit“ im Jahr 2018 und somit das fünfte Heft insgesamt nach dem Launch 2016.
Die im Wochenschau Verlag erscheinende Heftreihe möchte den Transfer zwischen Wissenschaft und Praxis fördern, zwischen theoretischem und empirischem Wissen einerseits und erprobten pädagogischen Ansätzen, Modellprojekten und Erfahrungswissen andererseits. Praktiker_innen sollen Fragestellungen und Erkenntnisse aus der Wissenschaft leichter zugänglich gemacht und gleichzeitig Praxiserfahrungen besser festgehalten und weitergegeben werden. Die Praxisreihe richtet sich an in Wissenschaft oder Praxis gegen Menschenfeindlichkeit engagierte Akteur_innen, insbesondere aber nicht ausschließlich an in der schulischen und außerschulischen Bildung Tätige.
Jede der Ausgaben bewegt sich um ein Schwerpunktthema, zuletzt etwa Einstellungen und Umgang mit Geflüchteten oder (insbesondere rechte) Diskursverschiebung, zu dem Beiträge aus der Wissenschaft und der Praxis abgedruckt werden. Diese befassen sich vor allem mit der Abwertung und Ausgrenzung von (einzelnen) sozialen Gruppen und Handlungsfeldern der sozialen Arbeit und Pädagogik. Darüber hinaus bleibt Platz für Texte, die sich nicht unmittelbar mit dem Schwerpunktthema verknüpfen lassen und die Vorstellung von aktuellen Entwicklungen im Feld sowie von Trägern und Projektansätzen im „Marktplatz“. Abgeschlossen werden die Ausgaben mit i.d.R. zwei bis drei Rezensionen.
Inhaltlich knüpft die aktuelle Ausgabe „Heuristiken“ an das letzte Heft aus dem zweiten Halbjahr 2017 zu Diskursverschiebungen nach rechts an. Öffentliche und politische Debatten die, nicht nur durch den Einzug der AfD in den Bundestag, sich nach rechts verschieben bedrohen verschiedene gesellschaftliche Gruppen und jene, die sich mit ihnen solidarisieren, auch Initiativen und deren Mitarbeitende. Beate Küpper und Reiner Becker stellen eine parallele Entwicklung von zunehmend sensibilisierter und reflektierter Praxis einerseits und sich radikalisierenden oder gleichgültigen Teilen der Gesellschaft andererseits.
Die Ausgabe setzt sich zum Ziel aktuelle Konzepte, die sich mit Phänomen der Abwertung und Ausgrenzung befassen, bekannter zu machen und an die (Rückfragen der) Praxis zu koppeln und zu diskutieren, inwieweit Konzepte für aktuelle Herausforderungen brauchbar sind.
In seinem einleitenden Beitrag widmet sich der Mitherausgeber Reiner Becker der Gleichwertigkeit als Herausforderung in Wissenschaft und Praxis. Becker spricht von einer gesellschaftspolitischen Ereignisschwemme, die Gesellschaften durch eine zunehmende Demokratie- und Menschenfeindlichkeit zu spalten drohe. Diese Ereignisschwemme setzte sich durch die sogenannte Flüchtlingskrise, Terroranschläge weltweit, einer Demokratiekrise in Europa und dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien zusammen. Nach einer kurzen chronologischen und ideologieorientierten Skizzierung der Entwicklung des Rechtspopulismus stellt Becker drei Thesen auf, um vor allem die für ihn zentrale Frage „Wie schaffen wirGleichwertigkeit Jetzt?“ zu beantworten. Unter anderem betont er darin, dass Gleichwertigkeit nicht von Freiheitsrechten abzukoppeln sei, deren Aushöhlung „aufgrund der immer wiederkehrenden öffentlichen Hysterie in dieser Angstgesellschaft (...) von vielen Menschen fast schon klaglos hingenommen“ (S.18) werden. Zudem fordert Becker, die Definition des Wir nicht Rechtspopulisten zu überlassen, sondern darunter diejenigen zu verstehen, die für eine freie und plurale Gesellschaft eintreten. Ein weiterer Vorschlag seines Beitrages ist es, sozial schwächere Schichten nicht aufgrund ihrer Vorurteile auszuschließen, ohne deshalb über diese hinwegzusehen. Dennoch sei eine Anerkennung deren sozialer Bedürfnisse ein Weg einen Zugang zu ihnen zu finden ohne dabei die Bedürfnisse gesellschaftlicher Gruppen gegeneinander auszuspielen.
Beate Küpper stellt in ihrem Artikel das Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) vor. Für einen relevanten Teil der adressierten Wissenschaftler_innen und Praktiker_innen dürfte vieles davon nicht neu sein. Es entspricht jedoch dem Anspruch der Reihe „Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit“, keine akademischen Fachdebatten führen zu wollen, sondern den Leser_innen einen Zugang zu ihnen noch nicht bekannten Feldern zu eröffnen und Diskussionen nicht an hohe Voraussetzungen zu knüpfen. Küpper bezieht GMF abschließend auf Rechtspopulismus, wobei dieser genutzt werden könne, „um noch einmal die Verknüpfungen verschiedener Abwertungsphänomene zu verdeutlichen und Versuche des gegeneinander Ausspielens zu bremsen.“ (S.33)
Der Beitrag von Küpper bereitet so auch den Boden für die darauf folgenden Überlegungen Judith Rahners zur praktischen Anwendung von GMF in der diskriminierungskritischen Bildung in Zeiten, in denen eine „Neue Rechte“ Diskurse verschiebt und über Parlamente und Gremien Einfluss auf die Jugend- und Bildungsarbeit nimmt. Rahners wirft drei Fragen auf, die etwa für eine Jugendeinrichtung von Bedeutung sein können. Neben dem Ausmaß von abwertenden Einstellungen und deren Folgen, steht die Frage von Zusammenhängen verschiedener GMF-Syndrome bei Akteur_innen und die Funktionen menschenfeindlicher Denk- und Handlungsmuster im Mittelpunkt. Die Kenntnis des GMF-Konzepts kann hier helfen Ausmaß, Zusammenhänge und Funktionen festzustellen, beispielsweise die Tatsache, dass „die Zugehörigkeit zu einer diskriminierten Gruppe oder Community (...) nicht per se vor eigenen Vorurteilen oder diskriminierenden Verhalten gegenüber anderen Gruppen“ (S.40) schützt und diese auch nicht legitimiert. Daraus ließen sich Partizipationsstrategien ableiten. Ebenso wichtige Handlungsfelder um Ungleichwertigkeitsideologien entgegenzutreten seien jedoch u.a. Medien, Politik, Wirtschaft und Polizei, in denen oftmals wichtige Entscheidungen getroffen werden.
Einen kritischen Blick auf die GMF-Studien wirft Kurt Möller, da diese die Lebenswelterfahrungen der Befragten nicht erfassen und die Prozesse, die zu bestimmten Einstellungen führen, für die Bildungsarbeit relevanter seien. Möller plädiert für die Erforschung von Prozessen von Pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen (PAKOs) in individuellen Lebensverläufen und Erfahrungshintergründen um daraus pädagogische Ziele wie das „sinnliche Erleben von positiv erlebter Wertigkeit“ oder die „Erschließung neuartiger Sinnstiftungschancen“ (S.53) zu entwickeln.
Mit Ablehnungskonstruktionen bei jungen Menschen befasst sich auch Kai Dietrich und betrachtet demokratiefördernde Jugendarbeit unter anderem anhand des Fallbeispiels eines 15-Jährigen, der durch Erfahrungsräume eigene Haltungen überdenkt. Zu mehreren Haltungen und Kontexten wie antimuslimischen Rassismus oder Ablehnungshaltungen im Kontext der hegemonialen Geschlechterordnung zeigt Dietrich Interventionsperspektiven für die Praxis auf.
Paul Mecheril und Saphira Shure öffnen mit ihrem Beitrag zu Rassismuskritik nachfolgenden praktischeren Aufsätzen theoriegeleitet ein neues Feld. Dabei steht im Zentrum der Kritik „die Frage danach, wer in welchen Kontexten wie und mit welchen Konsequenzen mithilfe von Rassekonstruktionen als gesellschaftlich Anderer verstanden, bezeichnet und behandelt wird“ (S.67), etwa in gesellschaftlich-historischen, institutionellen oder sozialen Kontexten. Diese Kontexte und Strukturen macht- und selbstreflexiv zu betrachten, rassistische Deutungsmuster zu erkennen und zu diskutieren sowie Wege zu erkunden, nicht auf diese zurückgreifen zu müssen seien Kernelemente der Rassismuskritik. Neben einer zwischenmenschlichen Ebene nehmen Mecheril und Shure auch den Verwobenheit von Rassismus und Kapitalismus in den Blick.
Ebenfalls mit Verweis auf Rassismuskritik diskutiert Anne Broden Migrationspädagogik in der aktuellen, globalisierten Gesellschaft. Dafür stellt sie eingangs fest, dass Migration in Deutschland kein 2015 aufkommendes neues Phänomen sei, dass extrem rechtes oder rechtspopulistisches Denken mit der AfD und PEGIDA nun als gesamtgesellschaftliches Problem wahrgenommen werden und dass rassistische Gewalt und rechte Wahlerfolge die Diskurse in der Politik- und Medienlandschaft weiter nach rechts rücken lassen. Anhand mehrerer Problemanzeigen, etwa der Reflexion von Begrifflichkeiten wie dem Interkulturellem Lernen oder eines sich auf Machtstrukturen beziehenden Rassismusbegriffes, der drohe Rassismus auf der Mikroebene zu übergehen, weist sie auf Herausforderungen der Migrationspädagogik hin.
Postkoloniale Perspektiven als Irritation gängiger Narrative in der Bildungsarbeit einzubringen ist ein Ansatz, den Deborah Krieg und Katharina Rhein vorstellen. Ausgehend von einer historischen Auseinandersetzung mit Kolonialismus, seien die Fragen zu stellen, wie sich der Kolonialrassismus gesellschaftlich aber eventuell auch im eigenen Denken und Alltagswissen fortsetzt. Anhand einer Übung der Bildungsstätte Anne Frank stellen Krieg und Rhein die Bedeutung von Rassismen im Sprachgebrauch und dessen Problematisierung heraus. Durch Diskursverschiebungen wieder gängigere rassistische Rhetorik ließe sich durch diese Sprachsensibilisierung ebenfalls bearbeiten.
Den dritten großen thematischen Block, Antisemitismus, leitet Lars Rensmann ein. Zum Heftthema passend fokussiert sich Rensmann, neben einer Vorstellung von Facetten des Antisemitismus, hier vor allem Verbindungen zu Rassismus und Antisemitismus von rechts. Sehr präzise benennt Rensmann die Konstellationen und Motive von Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft, die zum Einen eine Externalisierungsstrategie, den Verweis auf den „Antisemitismus der Anderen“, die zugleich einwanderungsfeindlich angewandt werden kann umfasst. Andererseits sei die Annahme, Antisemitismus in muslimischen Milieus sei lediglich als Reaktion auf rassistische Exklusion zu verstehen, irreführend und tendenziell entmündigend.
Meron Mendel und Tom David Uhlig stellen abschließend einen Ansatz der antisemitismuskritischen Bildung anhand von drei Fallbeispielen vor. Ziel sei der Anstoß eines Reflexionsprozesses durch die Irritation von vermeintlichen Gewissheiten, u.a. durch multiperspektivische Zugänge. Vertiefend sei hier auch auf die Sonderausgabe {LINK http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/Magazin/14023} von „Lernen aus der Geschichte“ zu Antisemitismus vom Mai 2018 verwiesen.
Im Forum-Teil der „Heuristiken“-Ausgabe gibt Dierk Borstel ein Update zu Rechtsextremismus und Demokratieentwicklung im ländlichen Vorpommern, Claudia Jach und Marian Spode stellen Demokratiebildung mit bildungsbenachteiligten Jugendlichen am Beispiel des Berliner außerschulischen Lernorts 7xjung vor.
Auf dem Marktplatz des Heftes werden unter anderem die Berliner Anlaufstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen, das Sara Nussbaum Zentrum für Jüdisches Leben in Kassel und eine Ausstellung zu Schicksalen von, nach 1945 aufgrund ihrer Homosexualität, Verfolgten in Hessen vorgestellt.
Das aktuelle Heft, wie die Reihe im Allgemeinen zeichnen sich durch ein ausgewogenes Verhältnis von einheitlichem Schwerpunkt und gleichzeitiger Themenvielfalt aus. Die Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis gelingt durch eine klare Struktur des Heftes mit einleitendem Theoriebeitrag und folgenden Praxisbezügen. Darüber hinaus konnte die divers besetzte Redaktion Gastautor_innen gewinnen, die teilweise in beiden Feldern aktiv sind. Mit Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit bzw. Pauschalisierenden Ablehnungshaltungen, Rassismus und Antisemitismus werden drei große Bereiche von Diskriminierungs- und Ausgrenzungsverhalten abgedeckt, dass der Ansatz der Intersektionalität nur am Rand vertreten ist, konstatieren die Herausgeber_innen bedauernd bereits im Vorwort. Dennoch liegt hier ein Heft vor, dass eine große Bandbreite abdeckt, Kontroversen in Wissenschaft und Praxis anschaulich macht und sowohl pädagogische Empfehlungen abgibt sowie auf Leerstellen hinweist. Somit ist „Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit“ eine Bereicherung auf dem Markt der Fachdidaktik, die auch für Lesende ohne Vorkenntnisse zugänglich ist.
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- 30 Mai 2018 - 06:37