Von Tanja Kleeh 

Die Dissertation von Katja Ganske „Menschenrechtsbildung in NS-Gedenkstätten. Neue pädagogische Überlegungen zum Lernen aus der Geschichte des Nationalsozialismus“ aus dem Jahr 2012 geht grundlegenden Fragen der Gedenkstättenpädagogik ebenso nach wie der speziellen Frage nach Verknüpfungsmöglichkeiten dieser mit der Menschenrechtsbildung.

Ausgehend von dieser Fragestellung befasst sich Katja Ganske – wie sie selbst sagt – unter Berücksichtigung der sogenannten Aktions- und Praxisforschung (S. 17) mit der praktischen Anwendung und Umsetzung von Menschenrechtsbildung in Gedenkstätten. Die daraus resultierende Praxisanalyse soll unterschiedliche Auffassungen über Menschenrechtsbildung

In NS-Gedenkstätten aufnehmen, in ein Modell von Menschenrechtsbildung einordnen, dieses konkretisieren und ergänzen. Um die Praxisfähigkeit dieses Modelles zu überprüfen, wird das Modell anschließend evaluiert.

Entsprechend der Form einer Dissertation enthält die Arbeit einen großen theoretischen Vorbau. Mag dieser auf den ersten Blick für primär an der Praxis interessierte Leser_innen vor allem umfangreich erscheinen, so offenbart sich während der Lektüre, wie wertvoll ein detaillierter Blick in die Grundlagen der Bildungsarbeit in Gedenkstätten und die generelle Frage nach geschichtlicher Identität ist. Gerade die Betonung der Wechselwirkungen zwischen historisch-politischer Bildung und historischer Identitätsbildung verdeutlicht dies (S.22f). Dass hierbei in Deutschland und der Fokus auf der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und Holocaust liegt und somit einen entscheidenden Einfluss des Einzelnen hat, macht Ganske unmissverständlich klar, wenn sie von einer starken Prägung der historischen Identität durch die nationalsozialistische Vergangenheit spricht (S. 28). Gewinnbringend ist für die Leser_innen der Arbeit nicht nur an dieser Stelle die Berücksichtigung unterschiedlichster Einflussmöglichkeiten auf den Einzelnen, wie etwa Politik und Gesellschaft, die Prägung durch den Geschichtsunterricht sowie die Präsenz der Vergangenheit in den Medien. Letzteren sind insbesondere von Bedeutung, da durch sie beispielsweise in Form des historischen Spielfilms „ein derart großer Anteil der Bevölkerung erreicht [wird], wie mit keinem anderen Medium“ (S. 34). Trotzdem müsse stets der historische Gehalt des Films hinterfragt werden. Eben diesen berücksichtig Katja Ganske auch unter dem Punkt „Wissen über den Nationalsozialismus“ (S.37f). Anhand unterschiedlicher Studien zeigt sie auf, dass trotz der scheinbaren Allgegenwärtigkeit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands in der Bevölkerung erhebliche Wissenslücken in der breiten Bevölkerung vorzufinden seien – ein Befund, der sich auch in einer repräsentativen Studie der Körber-Stiftung aus dem letzten Jahr wiederfindet.

Als grundlegend für eine zielgruppenorientierte Vermittlung der Thematik sieht Ganske die Herstellung von Gegenwartsbezügen mit der NS-Geschichte an, denn „fehlende biografische Bezüge und zeitliche Distanz zum historischen Ereignis lassen Geschichte historisiert erscheinen“ (S. 41). Neben der Historisierung der Ereignisse schaffen jedoch auch die von Haus aus gegebenen Einflüsse, wie familiäre Narrative oder der kulturelle Hintergrund, unterschiedliche Voraussetzungen für die Herausbildung der eigenen historischen Identität. All diese Faktoren versucht Katja Ganske zu berücksichtigen, wenn sie nach dem Verhältnis heutiger Jugendlicher zur NS-Geschichte fragt (S.54). Zusammengefasst sieht Ganske die Herausforderung der Gedenkstättenpädagogik darin, „neue Inhalte und Methoden zu erproben, die eine bessere Partizipation in den Auseinandersetzungsprozessen erzielen“ (S.55).

Nach diesem Theorieteil analysiert Ganske im zweiten Kapitel ihrer Arbeit die Praxis der Menschenrechtsbildung in NS-Gedenkstätten (S.57ff). Bisher handle es dabei noch um ein Experimentierfeld, so Ganske, denen in der Forschung und aus der Praxis heraus gegenüber unterschiedliche Standpunkte eingenommen würden. Hier gewinnt die Arbeit wieder für rein an der Praxis orientierte Leser_innen, da Diskussionen aus der Gedenkstättenarbeit aufgenommen und aufgearbeitet werden. Besonders wertvoll wird das Kapitel durch die Ergänzung der unterschiedlichen Standpunkte durch den starken Praxisbezug, der sicherlich auch den persönlichen Erfahrungen der Autorin zu verdanken ist. Gerade in diesem Kapitel werden jedoch auch die Besonderheiten einer Dissertation sichtbar. Es gibt sehr viele, kleine Unterpunkte, die etwa methodische Überlegungen zur Entwicklung des Forschungsdesigns enthalten. Ganske geht etwa der Frage nach, wie sich die Gedenkstättenpädagogik am Lernenden orientieren kann (S.76f), wie sich das Berufsbild Gedenkstättenpädagog_in definieren lässt (S.82) und was Menschenrechtsbildung überhaupt ist. Besonders diese Frage findet ausführliche Beachtung. Abschließend beantwortet werden kann sie jedoch nicht, was unter anderem der „äußerst vielfältigen Auslegung und Interpretation von Menschenrechtsbildung“ (S.117) geschuldet ist. Ganske orientiert sich an Lothar Müllers dreigliedrigen Modell aus dem Jahr 2002. Dieses teilt die Menschenrechtsbildung in menschenrechtliche Erziehung, explizite und explizite Menschenrechtsbildung (S. 117). Katja Ganske kommt dabei zu dem Schluss, dass die Menschenrechtsbildung die spezifischen Thematiken der Gedenkstättenpädagogik erweitert und bereichert werde (S. 119).

Wie dies in der praktischen Umsetzung aussehen könnte, wird im dritten Kapitel dargelegt. Hierfür evaluiert die Autorin die Ergebnisse der von ihr mitkonzipierten Tagesveranstaltung „Menschenrechte“, die 2010 in der Gedenkstätte Buchenwald stattfand (S.120). Neben der Einordnung des Projektes in die Bildungsarbeit findet die Beschreibung des Ablaufes der Tagesveranstaltung sowie die Darstellung der vier evaluierten Gruppen, größtenteils Schüler_innen zwischen 15 und 16 Jahren. Ganske reflektiert während der Auswertung immer wieder ihre eigene Doppelrolle als Pädagogin und Forscherin, womit sie vorneherein Kritik an eben dieser Dopplung vermeidet.

Die Darlegung der Evaluation ist interessant und ebenso wie der Rest der Arbeit sehr detailliert. Im Hinterkopf sollte dabei auch an dieser Stelle stets bleiben, dass es sich eben um eine Dissertation und somit eine Forschungsarbeit handelt. Es liegt also kein Leitfaden für die Arbeit mit Menschenrechtsbildung in NS-Gedenkstätten vor, sondern eher ein theoretisches Grundgerüst für diese oder - wie Katja Ganske es im Untertitel nennt „Neue pädagogische Überlegungen zum Lernen aus der Geschichte des Nationalsozialismus“. Diese „neuen pädagogischen Überlegungen“ legt sie anhand der Evaluation der Tagesveranstaltung anschaulich dar. So kann die Dissertation nicht nur auf fachlich-theoretischer Ebene eine gute Quelle sein, sondern auch für die praktische Arbeit von Pädagog_innen von Nutzen sein. Durch die klare Strukturierung ist es auch gut möglich, nur einzelne Abschnitte zu lesen, die für die jeweiligen Leser_innen von Belang sind. 

Die komplette Dissertation ist als PDF abrufbar.

 

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