Eine Arbeitsdefinition von Antiziganismus
Grundlagenpapier der Allianz gegen Antiziganismus
Die Allianz gegen Antiziganismus ist ein loser Zusammenschluss von circa 100 Organisationen, die sich für gleichberechtigte Teilhabe für Roma und Sinti einsetzen. Sie unterstützt die vorgeschlagene Arbeitsdefinition und fördert ein gemeinsames kritisches Verständnis von Antiziganismus als einer speziellen Form des Rassismus, die sich gegen Roma, Sinti, Fahrende und andere Personen richtet, die von der Mehrheitsgesellschaft als „Zigeuner” bzw. „Zigeunerinnen“ stigmatisiert werden.
Die Allianz gegen Antiziganismus tritt als Urheberin dieses Grundlagenpapiers auf, welches eine Arbeitsdefinition von Antiziganismus vorschlägt. Die Grundannahme hinter diesem Papier ist, dass das aktuell fehlende gemeinsame Verständnis der Reichweite, Tiefe und Implikationen von Antiziganismus die Formulierung von effektiven Antworten zur Bekämpfung von Antiziganismus verhindert. Das Grundlagenpapier beabsichtigt in keiner Weise, die Debatte über die Natur und Implikationen von Antiziganismus abzuschließen. Es soll zur Sensibilisierung für die Eigenschaften und Wirkungsbreite von Antiziganismus bei einem weiten Kreis von Entscheidungs- und Verantwortungsträger_innen beitragen.
Antiziganismus – eine spezielle Form des Rassismus gegen Roma
Obwohl der Begriff Antiziganismus eine zunehmende institutionelle Anerkennung erfährt, gibt es noch kein breit akzeptiertes Verständnis seiner Bedeutung und seiner Implikationen. Dementsprechend fehlt auch eine allgemein akzeptierte Definition des Antiziganismus, die breite Akzeptanz in der Zivilgesellschaft, in öffentlichen Institutionen und in der Wissenschaft fände.
Antiziganismus wird häufig in einer engen Auslegung verwendet, um gegen Roma und Sinti gerichtete Einstellungen, öffentliche Äußerungen negativer Stereotype oder hate speech, Hassrede, zu bezeichnen.
Antiziganismus umfasst jedoch ein weit größeres Spektrum an diskriminierenden Äußerungen und Handlungsweisen, darunter viele, die nur implizit oder versteckt auftreten: Relevant ist dabei nicht nur, was gesagt wird, sondern auch, was getan wird; und nicht nur, was getan wird, sondern auch, was nicht getan wird. Um die Auswirkungen des Antiziganismus in Gänze begreifen zu können, bedarf es dringend eines präziseren Verständnisses.
Eine Reihe von Kernaspekten soll gleich zu Beginn hervorgehoben werden. Es ist zunächst von zentraler Bedeutung, zu verstehen, dass Antiziganismus kein „Minderheitenthema” ist. Es ist ein Phänomen unserer Gesellschaften, dessen Ursprung darin zu suchen ist, wie die Angehörigen der Dominanzkultur jene wahrnehmen und behandeln, die sie als „Zigeuner_innen” begreifen. Folglich muss, um Antiziganismus zu bekämpfen, der Fokus auf die Mehrheitsgesellschaft gelegt werden, wobei gleichzeitig die Stimmen jener gehört werden müssen, die systematisch unter Antiziganismus leiden und dadurch häufig zum Schweigen gebracht werden.
Antiziganismus ist dabei zweitens nicht als die Folge schlechter Lebensbedingungen zu verstehen, in denen viele Roma und Sinti leben müssen, noch ist er ein Resultat dessen, dass Roma und Sinti „ganz anders” seien. Die Annahme, dass eine erfolgreiche Integration von Sinti und Roma etwas gegen Antiziganismus bewirken könne, ist ein Trugschluss, der die Ursprünge und den wahren Kern des Antiziganismus verschleiert. Ursache und Wirkung werden dabei auf den Kopf gestellt. Es ist der Antiziganismus und nicht irgendein gemeinsamer Charakterzug real existierender Roma, der Gesellschaften dazu antreibt, jede beliebige als „Zigeuner_in” imaginierte Person auszuschließen.
Das heißt drittens, dass die Bekämpfung der Auswirkungen von Diskriminierung, wie beispielsweise Armut, schlechte Wohnverhältnisse oder unzureichende Bildung, zwar dringend notwendig ist, dass diese Bekämpfung aber nicht zur Beseitigung der Ursache dieser schlechteren sozialen Situation vieler Roma und Sinti beiträgt.
Antiziganismus kann mit dem Bild eines konstanten starken Gegenwindes verglichen werden. Eine „Roma-Inklusion” bleibt illusorisch, solange dem Gegenwind selbst nichts entgegengestellt wird.
Schließlich zeichnet sich Antiziganismus bis heute durch seine hohe gesellschaftliche Akzeptanz aus. Die moralische Verurteilung, mit der andere Formen von Rassismus adressiert werden, ist im Fall des Antiziganismus nicht vorhanden. Antiziganismus ist nicht nur weit verbreitet, sondern auch tief in sozialen und kulturellen Normen und institutionellen Praktiken verwurzelt. Antiziganismus spornt extremistische Einzelpersonen und Bewegungen zu Gewalt und Hassreden an, ist aber auch in der Mainstream-Gesellschaft weit verbreitet und wird von staatlichen Institutionen akzeptiert. Die Aufgabe, Antiziganismus zu bekämpfen, wird so schwieriger und dringlicher zugleich.
Arbeitsdefinition
Antiziganismus ist ein historisch hergestellter stabiler Komplex eines gesellschaftlich etablierten Rassismus gegenüber sozialen Gruppen, die mit dem Stigma „Zigeuner” oder anderen verwandten Bezeichnungen identifiziert werden. Er umfasst
1. eine homogenisierende und essentialisierende Wahrnehmung und Darstellung dieser Gruppen,
2. die Zuschreibung spezifischer Eigenschaften an diese,
3. vor diesem Hintergrund entstehende diskriminierende soziale Strukturen und gewalttätige Praxen, die herabsetzend und ausschließend wirken und strukturelle Ungleichheit reproduzieren.
Diese Arbeitsdefinition betont den konstruierten bzw. imaginierten Charakter der Objekte des antiziganistischen Denkens, um zu verdeutlichen, dass er nicht auf Personen oder Gruppen mit gemeinsamen Charakteristika abzielt. Stattdessen beruht er auf der Projektion bestimmter Eigenschaften, die vermeintlich von der dominanten Norm abweichen und die auf imaginierte Andere projiziert werden. Dabei muss unmissverständlich deutlich gemacht werden, dass Sinti und Roma nicht die Ursache dieser Ideologie sind.
Eine essentialistische Ideologie
Der gegenwärtige Antiziganismus ist historisch tief in unseren Gesellschaften verwurzelt. Die Folgen historischer Diskriminierung und Verfolgung hören nicht auf mit dem Ende der jeweiligen Taten, vielmehr haben sie fortwährende negative Auswirkungen auf die sozialen, wirtschaftlichen und psychischen Lebensbedingungen von als „Zigeunerinnen“ oder „Zigeuner” verfolgten Menschen.
Die Grundlage antiziganistischer Ideologie bildet die Annahme fundamentaler Unterschiede zwischen „uns” und „ihnen”. Gruppenbildungsprozesse und die Zuschreibung von Fremdidentitäten basieren auf dieser binären Konstruktion. Gegenwärtiger Antiziganismus mag zumeist nicht mehr mit dem Begriff der „Rasse” argumentieren, aber er transportiert häufig dasselbe ideologische Konstrukt, indem er eine absolut andere „Kultur” postuliert, die alle Mitglieder der so entworfenen Gruppe präge.
Antiziganistische Ideologie umfasst dabei insbesondere Zuschreibungen, deren Funktion darin besteht, „Zigeuner_innen” als nicht ausreichend „zivilisiert” zu beschreiben. Der auf vermeintliche „Zigeuner_innen” projizierte Bedeutungsgehalt besteht folglich durchgängig darin, Normen und Werte der Dominanzkultur nicht zu teilen, nicht zu akzeptieren oder nicht ausreichend internalisiert zu haben. Somit muss das „Zigeunerische” als Spiegelbild dominanzkultureller Normen verstanden werden, das in keinerlei kausalem Bezug zu jenen Menschen steht, die als „Zigeuner_innen” stigmatisiert werden. Für die Einzelnen innerhalb der Dominanzkultur hingegen fungiert es als Vorgabe, wie sie sich nicht verhalten dürfen, und erfüllt damit eine Disziplinierungsfunktion.
Strukturelle Dimension
Es ist entscheidend, den systematischen und strukturellen Charakter des Antiziganismus zu berücksichtigen. Der Prozess des Othering sondert Roma und andere Gruppen nicht nur aus, er führt auch eine Hierarchie von Rechtssubjekten ein: Roma und Sinti werden nicht nur als anders, sondern in gewisser Weise als weniger wertvoll und folglich als einer Gleichbehandlung unwürdig erachtet. Deshalb können Roma in der wirklichen Welt von kollektiven Diskriminierungsakten wie Hassrede oder institutioneller Diskriminierung betroffen sein, wodurch vorhandene Muster der Benachteiligung reproduziert werden. Diese Muster sind wiederum tief verankert in kulturellen Konzepten, gesellschaftlichen Institutionen und Machtstrukturen europäischer Gesellschaften und führen somit für die Betroffenen häufig zu einer Akkumulation von Diskriminierungserfahrungen auf unterschiedlichen Ebenen.
Das vollständige Grundlagenpapier kann unter www.antigypsyism.eu. Die deutsche Fassung dieses Texts beruht in weiten Teilen auf der von Romano Centro (Wien) und vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma (Heidelberg) durchgeführten Übersetzung des englischen Originaltexts. Wir bedanken uns herzlich bei beiden Organisationen.Für die Liste der Mitglieder siehe: http://antigypsyism.eu/?page_id=55
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- 2 Okt 2017 - 06:37