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Ordnungen der Reinheit – Antisemitismuskritik in der Reflexion von Selbstbildern

Prof. Dr. Astrid Messerschmidt, Erziehungswissenschaftlerin und Erwachsenenbildnerin, Bergische Universität Wuppertal  

Von Astrid Messerschmidt

In ihren Anfängen entwickelt die nationalsozialistische Bewegung ein sozialrebellisches, antibürgerliches und antikapitalistisches Ressentiment, das sich die Juden als ein Objekt wählt, in dem alles verkörpert zu sein hat, was denjenigen schadet, die sich selbst als fraglos Zugehörige und Anständige sehen. Insofern sichert sich der NS die Identifikation der Massen dadurch, dass er „den kleinen Leuten“ das Angebot macht, sich als unterdrückt zu sehen und diesen Zustand mit Hilfe der nationalsozialistischen Parteinahme zu überwinden. Zugleich bietet er ihnen in den Juden eine Negativfolie für alles Verwerfliche an, wobei Projektionen der Minderwertigkeit wie auch der Überlegenheit der zu Juden gemachten Juden kombiniert werden, die in dieser ideologischen Positionierung zugleich als defizitär wie als bedrohlich erscheinen. Das Gegenbild des Jüdischen bietet auf seiner Rückseite ein moralisch und zivilisatorisch annehmbares Selbstbild an. Dies ist ein bedeutender Faktor für die Attraktivität des Antisemitismus bis in die Gegenwart. Das Gegenbild enthält moralisch Verwerfliches wie aus alles Rückständige, Veraltete und durch gesellschaftlichen Fortschritt Überholte. Die projektive antisemitische Figur des Jüdischen enthält widerstreitende Elemente von zu viel und zu wenig Modernität.

Kritische Antisemitismusanalyse

Auf der Grundlage psychoanalytischer Reflexion analysieren Horkheimer und Adorno die „Elemente des Antisemitismus“ hinsichtlich der darin enthaltenen „falschen Projektionen“ (vgl. Horkheimer/Adorno [1947] 1994): Den Juden werden die Regungen zugeordnet, die bei sich selbst nicht zugelassen werden dürfen. Auf diese Weise wird die jüdische Bevölkerung zum Objekt, zum „prospektiven Opfer“ (ebd., S. 196), zum erwählten Feind. Der Antisemitismus kann keinen festen Halt in der Realität finden, da er auf Fiktionen, Projektionen, pseudowissenschaftlichen Behauptungen beruht, er wird so zur „fixen Idee“ (ebd., S. 199). Von da ist der Weg nicht weit zur „Paranoia“, die Horkheimer und Adorno als „Symptom des Halbgebildeten“ bezeichnen (ebd., S. 205). In der Paranoia wird ein Wahnsystem geschaffen, das nicht auf Erfahrung beruht. Mit der falschen Projektion erhält die Welt Sinn, und die gesamte Kultur wird von dieser Art Sinn besetzt. Paranoia lässt sich mit „Verfolgungswahn“ übersetzen, der dazu führt, Herrschaft in Verfolgung übergehen zu lassen, einer Verfolgung, die von einer massenhaften Zustimmung und Beteiligung getragen wird (vgl. ebd., S. 207). Paranoid ist die Praxis, bei der die Vorstellung, selbst verfolgt zu werden übergeht in die Verfolgung derer, von denen man sich verfolgt sieht. Nur durch die irrationalen Zuordnungen und Projektionen konnten die Juden so fremd gemacht werden, wie sie das System brauchte. In seinen „Studien zum Autoritären Charakter“ (Adorno 1973) zeigt Adorno, wie die irrationalen Klischees durch Rationalisierungen der eigenen Anschauungen zu verdecken versucht werden: Drei Punkte des „Pseudowissens sind dabei wirksam: die Idee, dass die Juden ein ‚Problem’ sind, die Erklärung, sie seien ‚alle gleich’, und die Behauptung, Juden seien ohne Ausnahme als solche zu erkennen“ (ebd., S. 125). Durch die Problematisierung der identifizierten Gruppe werden eine persönliche Distanz und eine gewisse Objektivität suggeriert. Außerdem wird nahegelegt, die Juden selber hätten ein „Problem“, sie seien also sozusagen selbst schuld an ihrer Ausgrenzung und Eliminierung (vgl. ebd., S. 127).

Die im sekundären Antisemitismus verankerte Täter-Opfer-Umkehr wird begleitet von Behauptungen über Sprechverbote und Tabus, um sich selbst als Opfer unzulässiger Einschränkungen des Sprechens über Juden und Israel darzustellen. Die Behauptung eines Kritikverbots beruht auf dem sekundär-antisemitischen Ressentiment, der Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden stehe einer schonungslosen Auseinandersetzung mit den Gegenwartsproblemen im Wege und die Erinnerung an die NS-Verbrechen werde missbraucht, um Kritik abzustellen. „Es wird sozusagen aus dem öffentlichen Tabu über dem Antisemitismus ein Argument für den Antisemitismus gemacht (...) Wirksam ist hier ein Projektionsmechanismus: dass die, welche die Verfolger waren und es potenziell heute noch sind, sich aufspielen, als wären sie die Verfolgten“ (Adorno 1962, S. 368).

Dazu dient das Gerücht, denn das indirekte Adressieren, „die nicht ganz offen zutage liegende Meinung war von jeher das Medium, in dem soziale Unzufriedenheiten der verschiedensten Art, die in einer gesellschaftlichen Ordnung sich nicht ans Licht trauen, sich regen“ (Adorno 1977 [1962], S. 363). Adorno bezeichnet es als einen „wesentlichen Trick von Antisemiten heute: sich als Verfolgte darzustellen“; sich zu gebärden, als würde die öffentliche Meinung antisemitische Äußerungen unmöglich machen (ebd.). Die gegenwärtige Reserviertheit gegenüber der Demokratie und ihren Medien in rechtspopulistischen Bewegungen, die sich als „das Volk“ repräsentieren, basiert auf einer Selbststilisierung als Opfer einer übermächtigen Instanz, die „Wahrheiten“ unterdrückt. Dabei ist die Selbstbezeichnung als „Volk“ nationalistisch repräsentiert – und sie ist in der deutschen Geschichte im Herbst 1989 nur ganz kurz eine basisdemokratische Selbstbezeichnung gewesen, bevor sie sehr schnell wieder als nationale Gemeinschaft beansprucht worden ist.

Fremd werden: Nationale Zugehörigkeitsordnung

„Überall dort, wo man eine bestimmte Art des militanten und exzessiven Nationalismus predigt, wird der Antisemitismus gleichsam automatisch mitgeliefert“ (Adorno (1977) [1962], S. 361). „Wirksame Abwehr des Antisemitismus ist von einer wirksamen Abwehr des Nationalismus unabtrennbar“ (ebd., S. 381).

Den politischen Rahmen, in dem Fremde überhaupt zu einem nicht nur intersubjektiven, sondern zu einem gesellschaftlichen Problem werden, betrachtet Zygmunt Bauman auf dem Hintergrund der Geschichte der Nationalstaaten. Die Nation bildet für Bauman die entscheidende moderne Ordnungskategorie. In der nationalstaatlichen Gesellschaftsordnung wird die Trennlinie entlang der vorwiegend durch Abstammung legitimierten Zugehörigkeit zum nationalen Territorium gezogen. „Nationalstaaten fördern den ‚Nativismus’, die Bevorzugung der Einheimischen vor den Einwanderern, und verstehen unter ihren Untertanen ‚die Einheimischen’“ (Bauman 1995, S. 87). Dabei betont Bauman, wie durch Nationalstaaten „ethnische, religiöse, sprachliche und kulturelle Homogenität“ gefördert wird. Als fremd gelten diejenigen, die die Ordnung nationaler Identität durcheinanderbringen und durch ihre dauernde Anwesenheit behaupten, dazu zu gehören. Eine Strategie, diese Irritation zum Verschwinden zu bringen, ist die Assimilation der Fremden, ihre Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft und damit der Verlust alles dessen, was sich von der Norm der fraglos Zugehörigen unterscheidet. Zwar dürfen die Assimilierten an der Gesellschaft und ihren Rechten und Pflichten teilhaben, aber gleichzeitig müssen sie sich der herrschenden Ordnung unterwerfen. Das liberale Angebot der kulturellen Assimilation bestätigt also nur die Dominanz der Mehrheitsgesellschaft und verlangt von den Fremden das Abstreifen jeder Differenz. Bekämpft wird die Ambivalenz der Fremden, das gleichzeitige Dazugehören und Anderssein. Diese Unerträglichkeit der Ambivalenz ist für Bauman ein Problem der Moderne, und zwar deshalb, weil das Uneindeutige, die Verschiebung und Auflösung von Grenzen und die Konfrontation mit Pluralität kennzeichnend für die gesellschaftliche Situation in der Moderne sind. Um das, was daran komplex und unbehaglich erlebt wird, zu bekämpfen, kommt es zur Abwehr des Anderen innerhalb einer Ordnung nationaler und kultureller Identität. Unmöglich wird es, gleichberechtigt und verschieden zu sein. Anerkennung gibt es nur um den Preis des Verschwindens alles dessen, was die Verschiedenheit ausmacht und damit der Auflösung jeder Ambivalenz. Die Sorge um die Möglichkeit, verschieden leben zu können, ohne fremd gemacht zu werden, formuliert Adorno in den Minima Moralia als Vision, „ohne Angst verschieden sein“ zu können (Adorno 1951, S. 131). Baumans Reflexionen über die unerträgliche Ambivalenz des Fremden lese ich in Korrespondenz zu diesem Gedanken.

Im Umgang mit den deutschen Jüdinnen und Juden zum deutschen Nationalstaat wird Ambivalenz einerseits bekämpft, weil sie als bedrohliche Uneindeutigkeit gilt, andererseits entwickelt sich eine perfide doppeldeutige Strategie, bei der ein Weg zur nationalen Zugehörigkeit eröffnet wird, der aber genau dann, wenn er begangen wird, in den Abgrund führt. Indem die nichtjüdischen Deutschen von der jüdischen Minderheit eine kulturelle Assimilation verlangten, konstituierte sich die Mehrheit als „einheimische Elite“, die für sich das Recht in Anspruch nahm, „darüber zu urteilen, ob die Bemühungen, die kulturelle Unterlegenheit zu überwinden, wirklich ernsthaft und vor allem erfolgreich gewesen seien“ (Bauman 1995, S. 146). Erwartet wurde der Beweis erfolgreicher Assimilation, ohne dass dieses Bemühen zum Erfolg führen konnte. „Das paradoxe Ergebnis des Bemühens um Assimilation war, dass genau die Aktivitäten und Lebensstile, die die Trennung verwischen sollten, als Gründe dafür angesehen wurden, ihre Träger ins Abseits zu drängen“ (Bauman 1995, S. 156). Denn die assimilatorischen Anstrengungen wurden als Subversion der nationalen Identität angesehen und gerieten unter Verdacht. „Unordnung drohte, als Juden immer häufiger sich anpassten und konvertierten, sei es in traditioneller religiöser Form oder in der modernen Variante kultureller Assimilation“ (Bauman 1994, S. 74).

Das Bemühen, durch Lernen und Selbstvervollkommnung eine eindeutige Zugehörigkeit zu erreichen, scheiterte an einem nationalstaatlichen Gemeinschaftskonzept, das auf einer „Gemeinsamkeit des Schicksals und des Blutes beruhte“ (ebd., S. 155) – vormodernen Konzepten also, die aber in der Geschichte des modernen Nationalstaates nicht überwunden sind. Die Bemühungen der deutschen Jüdinnen und Juden, sich national-kulturell eindeutig zuzuordnen, gerieten unter Verdacht, den vereindeutigten Raum der nationalen Gemeinschaft zu unterwandern und ihm dadurch genau jene Eindeutigkeit zu nehmen, die durch Blut und Abstammung garantiert worden ist.

Nach Klaus Holz ist Antisemitismus zu definieren als eine „spezifische Semantik, in der ein nationales/rassistisches und/oder religiöses Selbstbild mit einem abwertenden Judenbild einhergeht“ (Holz 2005, S. 10). Als Merkmale des modernen Antisemitismus fasst er die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft sowie eine Personifikation von Macht in den Juden. Nach wie vor bildet ein nationalistisches Weltbild die Leitideologie des Antisemitismus, weshalb Holz vom „nationalen Antisemitismus“ spricht (Holz 2001). Jede national-identitäre Besetzung des gesellschaftlichen Innenraums erinnert an die politische Grundierung des Antisemitismus und sollte entsprechend ernst genommen und eingeordnet werden. Adorno plädiert 1962 für eine radikale Argumentation gegen Antisemitismus, indem er sich gegen jede abstammungsbezogene, identifizierende Betrachtung von „Bevölkerungsgruppen“ wendet, weil das in der Demokratie „das Prinzip der Gleichheit verletzt“ (Adorno 1977 [1962], S. 363). Antisemitismusanalyse bietet den systematischen Rahmen, um die Struktur dieser Verletzung nachzuzeichnen, zu analysieren und ihre Aktualität in der Gegenwart zu erkennen.

Religion, Intellektualität und Arbeit

Die religiöse Besetzung antisemitischer Denkmuster ist keineswegs überholt. Sie steht zwar nicht mehr im Vordergrund des gegenwärtigen Antisemitismus, doch lässt sie sich jederzeit aktivieren. Adorno kritisiert die Identifizierung der Juden mit ihrer Religion: „Man darf auch nicht, wie es vielfach geschieht, die Juden, sei es aus noch so guter Absicht, mit ihrer eigenen Religion identifizieren“ (Adorno 1962, S. 369). Er betont, dass die Juden im bürgerlichen Zeitalter „wesentlich Träger der Aufklärung waren, und man muss sich sehr dazu stellen“ (ebd.). Für Adorno ist das eine Aufforderung zur Intellektualität. Deshalb hält er es für falsch, gegen die Judenbilder damit zu argumentieren, dass man auf jüdische Handwerker und Arbeiter verweist. „Indem man so spricht, gibt man den Antiintellektualismus bereits vor und begibt sich damit schon selbst auf die Ebene des Gegners“ (ebd., S. 369). Er erkennt darin das jeweils eigene subjektive Unbehagen an der (körperlichen) Arbeit bei gleichzeitiger Aufwertung derselben gegenüber geistiger Arbeit. Dabei ist es „Menschrecht, sich nicht physisch abzuquälen, sondern lieber sich geistig zu entfalten“ (ebd. S. 370). Wer „Qualarbeit“ ausüben muss (Moewes 2015), sucht einen Ausweg aus diesem Zwang – und eine Möglichkeit dafür ist die Projektion von „Arbeitsscheu“ oder Arbeitsverweigerung auf eine fremd gemachte Gruppe.

Die Kategorie der Arbeit wird zum Terrain abwertender und diffamierender Gegenbilder, und das betrifft sowohl antisemitische wie rassistische Denkmuster. Die anerkannten bürgerlichen Erwerbsformen gelten als ehrwürdig und anständig, beruhen aber zumindest partiell auf struktureller und direkter Ausbeutung und materieller Ungleichheit. Die Ungerechtigkeit betrifft das Selbst. Doch die normative Besetzung von Arbeit und deren Kombination mit Bildung zu einem Synonym für wertvolles Leben bleibt weitgehend unhinterfragt (vgl. Scholz 2009). In der Diffamierung von Intellektualität einerseits und der Affirmation jeglicher Arbeit um jeden Preis andererseits entfaltet sich die Flexibilität des Antisemitismus und legt zugleich seine rassistische Struktur frei. Das Bild von der anständigen Arbeit findet sich im gegenwärtigen EU-Diskurs in paternalistischen Redefiguren wieder. „Hausaufgaben machen“ ist in die politische Sprache übergegangen als Anweisung an defizitäre Andere, die angeblich dazu neigen, sich auf der Leistung der Deutschen auszuruhen. Der „neue Deutsche“ in Europa fühlt sich moralisch im Recht, „andere zu entwerten“ (Margarita Tsomou, in: Maurer 2015, S. 37).

Wie die religiöse Identifizierung biografisch erfahren worden ist, hat Jean Améry kritisch reflektiert. Aus meiner Sicht erreicht er jene Radikalität der Kritik, die Adorno eingefordert hat. „Was immer man von mir auch sage, es ist nicht wahr. Wahr bin ich nur, als der ich mich selber im Innenraum sehe und verstehe; ich bin, der ich für mich und in mir bin, nichts anderes“ (Améry 1977, S. 160). Améry wendet sich hier gegen die Verdinglichung, wie sie im Antisemitismus praktisch geworden ist und bietet zugleich eine Definition für Nicht-Identität an, wie sie Adorno in der Negativen Dialektik entfaltet hat. Zum Juden gemacht worden zu sein, ist für Améry aus der Perspektive des Überlebenden ein Einbruch, ein „Elementarereignis“, das „ohne Gott, ohne Geschichte, ohne messianisch-nationale Erwartung“ bestanden werden muss (ebd., S. 167). „So bin auch ich gerade, was ich nicht bin, weil ich nicht war, ehe ich es wurde, vor allem anderen: Jude“ (ebd., S. 169). Er zieht daraus die Konsequenz, sich nur in der Fremdheit einrichten zu können. Die psychologisierende Unterstellung, traumatisiert zu sein, weist er zurück: „Ich weiß, was mich bedrängt, ist keine Neurose, sondern die genau reflektierte Realität“ (ebd., S. 170). Das Bewusstsein über die Wirkung und die historische Konsequenz des Antisemitismus, das Améry sein „Katastrophen-Judesein“ nennt, vergleicht er mit dem Klassenbewusstsein, das Marx im 19. Jhd. gegen die Verschleierung der Ursachen von Ausbeutung und Verarmung postuliert hat. Beide Positionen sind hoch aktuell in einer Zeit, die dazu neigt, soziale Ungleichheitslagen und Missachtungsverhältnisse zu psychologisieren, zu pathologisieren und als persönliches Problem defizitärer Subjekte aufzufassen. Weder Philosophie noch Theologie hatten für Améry Wesentliches zu seiner Situation als Überlebender und Gefolterter zu sagen. „Nicht das Sein bedrängt mich oder das Nichts oder Gott oder die Abwesenheit Gottes, nur die Gesellschaft“ (ebd., S. 177).

Für diese Gesellschaft setzt Adorno ganz auf die kritische Bewusstseinsbildung als Gegengewicht zum Antisemitismus, also auf Intellektualität: „Antisemitismus ist ein Massenmedium; in dem Sinn, dass er anknüpft an unbewusste Triebregungen, Konflikte, Neigungen, Tendenzen, die er verstärkt und manipuliert, anstatt sie zum Bewusstsein zu erheben und aufzuklären“ (Adorno 1962, S. 366).

Selbstbilder im Kontext von Demokratie und Migration

In der Geschichte des modernen Antisemitismus wird in unterschiedlichen Varianten eine Entgegensetzung von ‚uns’ und ‚den Juden’ betrieben (Weyand 2010, S. 77). In der Bundesrepublik ist nach 1989 zu beobachten, wie sich das gesellschaftliche Wir im Verhältnis zur Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus in zwei Modi repräsentiert: zum einen als eine Opfergemeinschaft derer, die eine geschichtliche Last zu tragen haben und zum anderen als Aufarbeitungsgemeinschaft erfolgreicher Geschichtsbewältigung. Volkhard Knigge stellt für den Post- Vereinigungskontext eine Abkopplung des öffentlichen Gedenkens von der geschichtswissenschaftlichen Forschung fest und diagnostiziert in den öffentlichen Inszenierungen des Gedenkens eine „Selbstgenügsamkeit“ (Knigge 2010). Seit Mitte der 1980er Jahre und besonders nach 1990 beobachtet Knigge eine „Transformation kritischer historischer Selbstreflexion in Gedächtnis- und Identitätspolitik“ (ebd.). An die Stelle eines kritischen Erinnerungsbegriffs ist eine gemeinschaftsstiftende Erzählung getreten, der Knigge ein „antimodernes Konzept des Umgangs mit Vergangenheit“ bescheinigt (ebd.). Die Gemeinschaftsbildung funktioniert im Verhältnis zu einer Verbrechensgeschichte dadurch, dass diese Geschichte gekoppelt mit einer Erfolgserzählung angeeignet wird, die aus der Aufarbeitung der NS-Verbrechen ein aufgeklärtes Selbstbild ableitet. Im Verhältnis zu diesem Bild erscheinen diejenigen als defizitär, die nicht die gleichen, die nationale Identität betreffenden Aufarbeitungsprozesse mitgemacht haben, weil sie außerhalb dieser national-kulturellen Gemeinschaft positioniert werden. Ihre Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv wird nicht anerkannt.

In einer diskursanalytischen Studie zur zeitgeschichtlichen Erinnerungsarbeit im Kontext der Migrationsgesellschaft stellt Rosa Fava ein dominierendes abstammungsbezogenes gesellschaftliches Selbstbild fest (vgl. Fava 2015). Mehrfachzugehörigkeiten der „Neuen Deutschen“ (Foroutan 2010, S. 13) werden nicht anerkannt, weshalb Deutsche mit Migrationsbeziehungen in den von Fava analysierten Texten aus der Gedenkstättenpädagogik und Geschichtsdidaktik zum Nationalsozialismus als grundsätzlich anders im Umgang mit den NS-Verbrechen im Vergleich zu den unmarkiert bleibenden Herkunftsdeutschen betrachtet werden. Das „Fehlen einer rassismuskritischen Perspektive“ im Erinnerungsdiskurs (Fava 2015, S. 242) führt zu einem Kurzschluss, durch die Vielfalt als Abweichung von einer eindeutigen Abstammung aufgefasst wird. Symptomatisch dafür ist ein mehrfach festzustellender Überlieferungsfehler des Diktums von Jean Améry, der das bleibende Gewicht von Auschwitz als „negatives Eigentum“ (Améry 1988 [1966], S. 98) begriffen hat, was in den von Fava zitierten Texten aus der Bildungsarbeit zum „negativen Erbe“ gemacht wird – eine Verschiebung von Verantwortung hin zu Identität. Die von vielen engagierten Pädagog_innen im Feld historisch-politischer Bildung angenommene Lehre aus dem NS, sich von nationalistischen, abstammungsbezogenen Unterscheidungen und Abwertungen zu verabschieden, sieht Fava paradox angeeignet in der „multikulturalistische[n] Aufwertung von ‚Differenz‘“ (ebd., S. 268). Dominant bleiben national-identitäre Problematisierungen von Defiziten der Migranten, denen der biografische Bezug zur „Täternachfolgeschaft“ (ebd., S. 234) fehle. Der nicht aufgearbeitete Rassismus holt die deutsche Migrationsgesellschaft auch an den Stellen ein, wo sie besonders selbstkritisch zu sein beansprucht, nämlich im Umgang mit Auschwitz.

Nahostkonflikt als antisemitische Projektionsfläche

Der von gesellschaftlichen Minderheiten artikulierte Antisemitismus zeichnet sich genauso wie der Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft durch projektive Besetzungen von Opfer- und Täter_innenpositionen aus. Dafür wird zunehmend der Nahostkonflikt herangezogen, der so interpretiert wird, dass ein dichotomes „Bild von Ohnmacht und Übermacht“ entsteht (Müller 2008, S. 98). Nach Jochen Müller ist in der deutschen Migrationsgesellschaft das „Feindbild Israel“ zu einem Bestandteil muslimischen Selbstverständnisses geworden (ebd.), das seine Attraktivität aus dem Reflex auf eigene Marginalisierungserfahrungen bezieht. Zugleich wird innerhalb dieser gesamtgesellschaftlichen Konstellation dasselbe Feindbild von etablierten gesellschaftlichen Gruppen genutzt, die ihren alten Antisemitismus damit quasi modernisieren und mit menschenrechtlicher Rhetorik ausstatten. Der Hinweis auf ein übergreifendes muslimisches Selbstverständnis, das antisemitische Positionen nutzt, lässt allerdings keinen Raum für innere Diversitäten und macht aus Muslim_innen wiederum eine hinsichtlich der antisemitischen Auffassungen homogene Gruppe. Dies begünstigt die Tendenz, Muslim_innen als „Andere“ zu repräsentieren und sie als Hauptverantwortliche für den gegenwärtigen Antisemitismus in der deutschen Migrationsgesellschaft darzustellen. Dass es verbreitete antisemitische Auffassungen unter deutschen Muslim_innen gibt, sollte stattdessen so thematisiert werden, dass die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des gegenwärtigen Antisemitismus und seiner antizionistischen Varianten als allgemeine Problematik erkennbar bleibt.

Daran orientieren sich Ansätze, die ihre Arbeit migrationsgesellschaftlich verstehen und rassismuskritisch reflektieren. Die Instrumentalisierung des Nahostkonflikts wird dabei „im Spannungsfeld von Ausgrenzung und Identitätssuche“ verstanden (KIgA 2010, S. 10). Antisemitische Bezugnahmen auf den Nahostkonflikt beinhalten „Dämonisierungen Israels, einseitige Schuldzuweisungen und/oder unzulässige Vergleiche mit der Rassenpolitik des NS-Regimes“ (ebd., S. 47). Angesichts dieser Konstellation von Diskriminierungserfahrungen aufgrund einer Migrationspositionierung einerseits und unreflektierten sowie einseitig informierten Deutungen des Konflikts ist das pädagogische Personal herausgefordert, „Jugendliche mit konträren Positionen vertraut zu machen“ und sie zu einem „möglichen Perspektivenwechsel zu ermuntern“ (ebd., S. 48). Damit sollte zugleich einer Perspektiverweiterung erfolgen, um die vielfältigen Akteur_innen in diesem Konfliktfeld zu berücksichtigen, anstatt eine vereinfachende Gegenüberstellung von „Israelis“ – die meistens mit Juden gleichgesetzt werden und umgekehrt – und „Palästinensern“ vorzunehmen. Dass hier kein simples Freund-Feind-Schema zugrunde gelegt werden kann, ist ein wichtiger Ansatzpunkt für eine kritische Auseinandersetzung. Neben der an Komplexität orientierten Wissensvermittlung sollte sich eine antisemitismuskritische Bildungsarbeit mit dem Gegenstand Nahostkonflikt „dem Streben nach Eindeutigkeit widersetzen. Und Mehrdeutigkeit zulassen lehren und lernen“ (Goldenbogen 2013, S. 39).

Perspektivenwechsel für die Bildungsarbeit

Die Thematisierung von Antisemitismus ist von Abwehrbedürfnissen überlagert, was die Perspektive derer, die von Antisemitismus getroffen werden, tendenziell ausblendet. Die Gefühle, die mit dem Wunsch nach einem unproblematischen Selbstbild verbunden sind, dominieren die Auseinandersetzung. Ein Perspektivenwechsel auf die Wirkung von Antisemitismus auf diejenigen, gegen die er sich richtet, stellt sich nicht von selbst ein, sondern bedarf der Anregung. Anne Klein schlägt für die antisemitismuskritische Bildungsarbeit eine „subjektorientierte Perspektive“ (Klein 2012, 213) vor, die Antisemitismus nicht sozialpsychologisch auf „Judenhass“ verengt, sondern nach den subjektivierenden Wirkungen antisemitischer Praktiken fragt. Mit antisemitischen Botschaften werden Zugehörigkeiten geordnet. Das bedeutet einen Machtgewinn auf der Seite derer, die sich antisemitisch äußern und eine Zurückweisung für die als nicht zugehörig Adressierten. Antisemitisches Sprechen verhindert systematisch eine direkte Auseinandersetzung mit Individuen, da es nicht interpersonal erfolgt, sondern nur ein Bild bedient, das schon vor jeder Begegnung existiert und auch nicht durch Begegnung aufzulösen ist. Es geht hier um ein Selbstbild, hinter dem der_die konkrete Andere verschwindet. Klein plädiert deshalb dafür, in der Bildungsarbeit über subjektive Erfahrungen mit Antisemitismus zu informieren, um die getroffenen Anderen aus der antisemitischen Verobjektivierung heraustreten zu lassen und sie als Subjekte mit Gefühlen und Erfahrungen wahrzunehmen (vgl. ebd., 222). Ermöglicht wird so die Konfrontation mit einer anderen Perspektive als der dominierenden nichtjüdischen. Dabei darf die Verantwortung für die Auseinandersetzung nicht auf die jüdischen Sprecher_innen verlagert werden. Sie sind nicht in die Rolle der Aufklärenden zu versetzen, sondern es bleibt ihnen überlassen, über Sagbares und Unsagbares zu entscheiden. Voraussetzung für einen Perspektivenwechsel auf die Subjekte, die Antisemitismus trifft, ist eine Veränderung der Wahrnehmung in Bildungskontexten. „Vielfach wird in pädagogischen Räumen noch immer davon ausgegangen, dass die Teilnehmer_innen nichtjüdisch sind, solange durch Biographien und Bekenntnisse die jüdische Identität nicht offenkundig wird“ (Ensinger 2013). Dominanzgesellschaftliche Perspektiven werden reproduziert, solange nicht eine bewusste Auseinandersetzung mit dieser Dominanz erfolgt, solange sie also unthematisiert bleibt. Antisemitismuskritische Bildungsarbeit regt dazu an, die gesellschaftliche Normalisierung jüdischer Nichtpräsenz zu hinterfragen und zu verändern, indem jüdische Alltagspräsenz und Zugehörigkeit anerkannt werden. Von da aus wird ein erfahrungsbezogenes Sprechen über Antisemitismus möglich, bei dem allerdings vermieden werden sollte, einzelne jüdische Teilnehmer_innen zu Repräsentant_innen dieser Erfahrungen zu machen.

Literatur

Améry, Jean (1977): Über den Zwang und die Unmöglichkeit, Jude zu sein, in: ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Neuausgabe 1977, Stuttgart, S. 149-177.

Améry, Jean (1988) [1966]: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München.

Adorno, Theodor W. (1977) [1962]: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, in: GS, Bd. 20.1, S. 360- 383.

Adorno, Theodor W. (1973): Studien zum Autoritären Charakter, Frankfurt/M.

Adorno, Theodor W. (1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M.

Bauman, Zygmunt (1995): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt/M.

Bauman, Zygmunt (1994): Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg.

Ensinger, Tami (2013): Umgang mit Antisemitismus im pädagogischen Raum, in: Bildungsstätte Anne Frank (Hg.): Weltbild Antisemitismus. Didaktische und methodische Empfehlungen für die pädagogische Arbeit in der Migrationsgesellschaft, Frankfurt/M., 12-15. http://www.bs-anne-frank.de/news/aktuelles/neuerscheinung-weltbild-antisemitismus/ 

Fava, Rosa (2015): Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft. Eine rassismuskritische Diskursanalyse, Berlin.

Goldenbogen, Anne (2013): „... Nahostkonflikt – Der gordische Knoten“. Von Projektionen, Positionen und Potenzialen in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Nahostkonflikt“, in: Wider- spruchstoleranz. Ein Theorie-Praxis-Handbuch zu Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit, Berlin, S.33-40.

Holz, Klaus (2005): Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft, Hamburg.

Holz, Klaus (2001): Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg. Horkheimer, Max/Theodor W. Adorno des Antisemitismus, in: dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M., S. 177-217.

KIgA (2010) (Aycan Demirel/Yasmin Kassar/Malte Holter): Israel, Palästina und der Nahostkonflikt. Ein Bildungs- und Begegnungsprojekt mit muslimischen Jugendlichen im Spannungsfeld von Anerkennung und Konfrontation, Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, Berlin.

Klein, Anne (2012): „Jude sein ist keine einfache Sache.“ Identität, Sozialität und Ethik in der Migrationsgesellschaft, in: Gebhardt, Richard/Klein, Anne/Meier, Marcus (Hg.): Antisemitismus in der

Einwanderungsgesellschaft. Beiträge zur kritischen Bildungsarbeit, Weinheim, 209-229.
Knigge, Volkhard (2010): Zur Zukunft der Erinnerung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25/26(2010) [http://www.bpb.de/themen/ROC1G3.html; eingesehen 2.8.2013]

Maurer, Katja (2015): Ethos des Neoliberalismus, in: medico rundschreiben Nr. 02/2015, S. 35-40. Mecheril, Paul/Claus Melter (2010): Rassismuskritik als pädagogische Querschnittsaufgabe, in: Paul Mecheril et al, Migrationspädagogik, Weinheim/Basel, S. 168-178.

Meron Mendel/Astrid Messerschmidt (Hg.) (2017): Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft. Frankfurt/New York.

Moewes, Günther (2015): Entfaltung statt Qualarbeit, in: Frankfurter Rundschau vom 4. März 2015.

Müller, Jochen (2008): Zwischen Abgrenzen und Anerkennen. Überlegungen zur pädagogischen Begegnung von antisemitischen Einstellungen bei deutschen Jugendlichen muslimischer/arabischer Herkunft, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 17, Berlin, S. 97-103.
Scholz, Roswitha (2009): Antiziganismus und Ausnahmezustand. Der „Zigeuner“ in der Arbeitsgesell- schaft, in: Markus End/Kathrin Herold/Yvonne Robel (Hg.): Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments, Münster, S. 24-40.

Weyand, Jan (2010): Die Semantik des Antisemitismus, in: Wolfram Stender/Guida Follert/Mihri Özdogan (Hrsg.), Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, Wiesbaden 2010, S. 69-89.

Der Text entspricht dem Vortrag bei der Tagung „Das Gerücht über die Juden“ der Evangelischen Akademie Berlin am 5. September 2015. Wir bedanken uns für die Möglichkeit zur Zweitveröffentlichung.

 

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