Antiziganismus – Rassistische Stereotype gegen Sinti und Roma
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Ingolf Seidel
Rassistische Bilder von Sinti und Roma als angeblich faule „Sozialschmarotzer“ und Bettler_innen haben eine immer wiederkehrende Konjunktur und der Rassismus gegen Sinti und Roma gehört neben dem Antisemitismus wohl zu den langlebigsten und hartnäckigsten Ressentiments. Die rassistischen Stereotype gegen die heute größte Minderheit Europas haben sich in einem sechshundertjährigen Prozess, also seit Ende des 15. Jahrhunderts, als Sinti und Roma erstmals als vogelfrei erklärt wurden (Scholz 2009: 25), herausgebildet. Noch heute werden Sinti und Roma mit dem Begriff „Zigeuner“ bezeichnet, obwohl die meisten Angehörigen der Minderheit diesen Begriff als stigmatisierend und abwertend zurückweisen. Der Studie „Die enthemmte Mitte“ aus dem Jahr 2016 zufolge gaben 57,8% (zum Vergleich: 2014 waren es 55,4%) der Befragten an, dass sie ein Problem damit hätten, wenn in ihrer Nähe Sinti und Roma leben würden. 58,5% (2014: 55,9%) meinten, Angehörige der Minderheit würden zu Kriminalität neigen, und knapp die Hälfte der Befragten, nämlich 49,6% (2014: 47,1%), war der Ansicht, Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten verbannt werden (vgl. Decker/Kiess/Brähler 2016: 50). Damit sind die ohnehin schon hohen Werte innerhalb von zwei Jahren noch einmal leicht angestiegen. Die Zahlen zeigen auch, dass Antiziganismus, also ein spezifischer Rassismus gegen Sinti und Roma, keine Angelegenheit angenommener politischer Ränder ist.
Was meint Antiziganismus?
Wie auf anderen Feldern der Vorurteilsforschung ist es schwierig, zu einer schlüssigen und allgemein anerkannten Definition von Antiziganismus zu kommen. Bereits die Benutzung des Wortes „Antiziganismus“ ist teilweise umstritten. So schreibt Filiz Demirova auf ihrem Blog „Der Paria“: „Ich finde allein schon der Begriff Antiziganismusforschung ist problematisch und diskriminierend. Die rassistische Fremdbezeichnung ‚Zigeuner’ ist darin enthalten und dadurch findet eine ständige Reproduktion statt.“ Die Gruppenbezeichnung ‚Zigeuner’ wird vonseiten der Bürgerrechtsbewegung von Sinti und Roma seit dem Ende der 1970er Jahre abgelehnt aufgrund der „summarischen und ausgrenzenden Beschreibung von Gruppen (...), denen eine von der Mehrheitsgesellschaft abweichende Lebensweise unterstellt wurde (...)“ (Fings 2012: 24). Carola Fings verweist darauf, dass die angebliche Abweichung von der mehrheitsgesellschaftlichen Norm „als angeboren und damit unveränderlich unterstellt wird.“ (Ebda.: 25) Vor allem von aktivistischer Seite aus wird auch der Begriff Antiromaismus verwendet, während der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma von Antiziganismus spricht.
Astrid Messerschmidt macht darauf aufmerksam, dass der Antiziganismusbegriff einen hohen analytischen Gehalt besitzt, aber auch eine „ethnisierbare Kategorie“ (Messerschmidt 2016: 105) enthält. Der Begriff Antiromaismus zeige zwar konkret auf, wen die Diskriminierung betrifft, jedoch seien die „Kontinuität des Zigeunerstereotyps (...) darin nicht mehr enthalten“ (Ebda.). Damit entfiele ein wichtiges Element in der Kritik der Stereotypisierung. Die kritische Perspektive von Demirova verweist auf ein grundlegendes Problem von Begriffsdefinitionen der Ungleichheitsideologien, die auch in anderen Fällen dazu neigen, Stereotype und andere Problematiken zu reproduzieren. So etwa beim Begriff „Antisemitismus“, der als Oberbegriff für den modernen Judenhass kaum infrage gestellt wird und der ursprünglich eine Selbstbezeichnung von Judenfeinden aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist. Mit dem Vorwurf der „Islamophobie“ wehrte zunächst das iranische Regime die Kritik am politisch-militanten Islam ab. Vielleicht ist es vor diesem Hintergrund produktiv, sich immer wieder vor Augen zu führen, dass Begriffe nur Annäherungen und deren Definitionen prozesshaft sind und eben auch historischen, wissenschaftlichen oder machtpolitischen Veränderungen unterliegen. Hilfreich scheint mir eine im jeweiligen Kontext sinnvolle Bezeichnung und eine hohe Reflexionsleistung der Problematik von Zuschreibungen durch Sprache bei der Benutzung der Begriffe.
Der Politologe Markus End schlägt die folgende Definition für Antiziganismus vor: „Mit dem Begriff ‚Antiziganismus’ werden sowohl ‚Zigeuner’-Stereotype oder - Bilder als auch konkrete gesellschaftliche Diskriminierungspraxen, die zumeist Roma, Sinti, Paveee oder Jenische betreffen, in kritischer Absicht beschrieben. Wichtig ist dabei, dass Antiziganismus nichts damit zu tun hat, ob die betroffene Person tatsächlich einer der Gruppen angehört, die regelmäßig mit diesem Rassismus zu kämpfen haben. Die antiziganistisch Eingestellten haben ihr Stereotyp vom ‚Zigeuner’ im Kopf, ohne sich darum zu kümmern, wie sich die Betroffenen selbst bezeichnen und ob sie Angehörige einer Minderheit sind. (...) Es handelt sich bei den Zuschreibungen um Projektionen.“ (End 2014: 7)
Worauf beruht der Antiziganismus?
Antiziganismus beruht, wie der Antisemitismus auch, auf Projektionen des Eigenen oder verdrängter Wünsche auf Andere. Am Beispiel des Vorwurfs, Sinti und Roma würden nicht arbeiten, will ich auf dieses Ressentiment kurz eingehen. Roswitha Scholz erklärt Antiziganismus aus „dem neuzeitlichen Disziplinierungsprozess und dem Aufkommen der protestantischen Ethik, zum anderen aus ‚Fremdenfeindlichkeit’ (Scholz 2009: 31) heraus. Zurückführen lässt sich dieser Selbstdisziplinierungsprozess, der am Beginn des aufkommenden Kapitalismus stand, auf Martin Luther. In seiner Bibelübersetzung sprach Luther von Arbeit nicht nur als Berufung statt als Mühsal und Last, sondern er sah sie als gottgefälliges Werk, oder wie es Holger Schatz und Andrea Woeldike formulieren, als eine Aufgabe, die sich „durch die Freude an der Arbeit auszeichne, um diese göttliche Bestimmung erfüllen zu können.“ (Schatz/Woeldike 2001: 18) Nach Max Weber schlägt sich diese „protestantische Ethik“ vor allem in der Frühphase des Kapitalismus nieder. In der antiziganistischen Projektion gelten Sinti und Roma den oben genannten Autor_innen zufolge als diejenigen, die die unterdrückten Wünsche nach Freiheit von Lohnarbeit und von den Zwängen der Sesshaftigkeit symbolisieren. Es geht also beim Antiziganismus, ähnlich dem Antisemitismus, nicht um reale Eigenschaften der Minderheit, sondern um die Bilder von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft. Der Fachjournalistin Lara Schultz zufolge ist das Unsichtbarmachen von Sinti und Roma, also ihre Nicht-Erwähnung, „Folge und Konsequenz antiziganistischer Ausgrenzung“ und die entsprechenden Stereotype seien „im kollektiven Gedächtnis als abrufbares Potenzial verfügbar.“ (Schultz 2014: 64)
Mangelhafte Erinnerung eines Völkermordes in der postnationalsozialistischen Gesellschaft
Wie andere Ressentiments verschwand auch der Antiziganismus nach 1945 nicht einfach aus den Köpfen. Die Ermordung und Vernichtung von bis zu einer halben Million Sinti und Roma ist bis heute – trotz vielfältiger Bemühungen von Angehörigen der Minderheit sowie seitens verschiedener Stiftungen – ein randständiges Thema der deutschen, aber auch anderer Geschichtskulturen.
Im Januar 1956 fällte der Bundesgerichtshof (BGH) als Berufungsinstanz in einem Entschädigungsfall einer bis 1945 in Konzentrationslagern inhaftierten Frau ein abschlägiges Urteil, dessen Begründung passagenweise eine Ansammlung von Ressentiments und eine Verharmlosung des NS-Terrors gegen Sinti und Roma darstellt. So heißt es dort unter anderem: „Da die Zigeuner sich in weitem Maße einer Seßhaftmachung und damit der Anpassung an die seßhafte Bevölkerung widersetzt haben, gelten sie als asozial. Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“ (Bundesgerichtshof: 1956) Konsequent die NS-Verfolgung verharmlosend heißt es im Weiteren, „daß die Behandlung der Zigeuner trotz der auch rassenideologischen Begründung lediglich die durch die Zigeuner hervorgerufenen Mißstände auf einer einheitlichen Basis bekämpfen will.“ (Ebda.) Anders gesagt sollen die Opfer für ihre Verfolgung und Ermordung selbst verantwortlich sein. Es sollte rund 60 Jahre dauern, bis sich der BGH mit diesem Urteil kritisch auseinandersetzt.
Es ist vor allem dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma sowie Aktivist_innen zu verdanken, dass im NS als „Zigeuner“ Verfolgte überhaupt Entschädigungen erhielten. Anerkannt wurde der Völkermord erst 1982 durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Astrid Messerschmidt stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die späte Anerkennung vor allem für deutsche Sinti eine fortgesetzte Festschreibung des Status der Nicht-Zugehörigkeit zur hiesigen Gesellschaft darstellt. Daher sei beim antiziganismuskritischen Engagement die „Bedeutung von Erinnerung, Aufarbeitung und Gedenken zu reflektieren“. (Messerschmidt 2016: 99) Sinnbildlich für den Ist-Zustand der Auseinandersetzung mit dem Völkermord scheint mir der Standort des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Es steht zwar in der Nähe zum Brandenburger Tor, doch verhältnismäßig versteckt innerhalb des Tiergartens. Das Denkmal wurde am 24. Oktober 2012 eingeweiht, sieben Jahre nach der Eröffnung des prominenter gelegenen und ungleich größeren Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Zudem fehlt dem Denkmal für Sinti und Roma ein Ort der Information, der über die Verfolgungsgeschichte informiert. Die Stiftung Denkmal, unter deren Dach beide Orte zusammengefasst sind, bietet Workshops zum Thema Verfolgung und Völkermord sowie Veranstaltungen wie Zeitzeugengespräche an. Dennoch kann insgesamt der Eindruck eines Gedenkens zweiter Klasse seitens der Mehrheitsgesellschaft nicht von der Hand gewiesen werden.
Literatur
Bundesgerichtshof, 07.01.1956 - IV ZR 273/55, https://www.jurion.de/urteile/bgh/1956-01-07/iv-zr-273_55/ (eingesehen 08.03.2017)
Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler (Hg.) (2016): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Gießen.
Feliz Demirova: “Anti-ziganismus”-Debatte: „Wer spricht in der Antiziganismusforschung“?, https://derparia.wordpress.com/antiziganismus-debatte (eingesehen 08.03.2017)
Markus End (2014): Entstehung, Funktion und Wirkung von Vorurteilen im Zusammenhang mit Sinti, Roma und anderen als ‚Zigeuner’ Stigmatisierten. In: Milena Detzner/Ansgar Drücker/Barbara Mathe (Hg.): Antiziganismus – Rassistische Stereotype und Diskriminierung von Sinti und Roma. Grundlagen für eine Bildungsarbeit gegen Antiziganismus. Düsseldorf, S. 7-11.
Carola Fings (2012): Dünnes Eis. Sinti, Roma und Deutschland. In: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland. Heft 14. Bremen. S. 24-34.
Astrid Messerschmidt (2016): Antiziganismuskritische Bildung in der national-bürgerlichen Konstellation. In: Wolfram Stender: (Hg.) Konstellationen des Antiziganismus. Theoretische Grundlagen, empirische Forschung und Vorschläge für die Praxis. Wiesbaden. S. 95-110.
Holger Schatz/Andrea Woeldike (2001): Freiheit und Wahn deutscher Arbeit. Zur historischen Aktualität einer folgenreichen antisemitischen Projektion. Münster.
Roswitha Scholz (2009): Antiziganismus und Ausnahmezustand. Der »Zigeuner« in der Arbeitsgesellschaft. In: Markus End/Kathrin Herold/Yvonne Robel (Hg.): Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments. Münster. S. 24-40.
Lara Schultz (2014): Vergessenes Feindbild? Antiziganismus in der extremen Rechten. In: Milena Detzner/Ansgar Drücker/Barbara Mathe (Hg.): Antiziganismus – Rassistische Stereotype und Diskriminierung von Sinti und Roma. Grundlagen für eine Bildungsarbeit gegen Antiziganismus. Düsseldorf, S. 61-64.
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- 26 Apr 2017 - 03:49